BGH Urteil v. - X ZR 77/21

Instanzenzug: Az: 5 Ni 6/20 (EP) Urteil

Tatbestand

1Die Beklagte ist Inhaberin des europäischen Patents 1 932 657 (Streitpatents), das am unter Inanspruchnahme der Priorität einer europäischen Patentanmeldung vom angemeldet worden ist und eine Vorrichtung zum Drucken von Braille-Zeichen auf Kartonzuschnitten betrifft.

2Patentanspruch 1, auf den sechs weitere Ansprüche zurückbezogen sind, lautet in der Verfahrenssprache:

Dispositif pour imprimer des caractères brailles sur des découpes de carton défilant dans une plieuse-colleuse selon une trajectoire sensiblement plane (F) comprenant des outils de gaufrage rotatifs (5, 6) portés par deux arbres parallèles respectifs (7, 8) montés en rotation de part et d'autre du plan de ladite trajectoire (F) pour imprimer lesdits caractères brailles sur lesdites découpes au cours de leur défilement dans ladite plieuse-colleuse, caractérisé en ce que les deux dits arbres parallèles (7, 8) sont montés en porte-à-faux dans un berceau (9).

3Patentanspruch 8, auf den vier weitere Ansprüche zurückbezogen sind, lautet in der Verfahrenssprache:

Plieuse-colleuse de découpes de carton comprenant un bâti (1, 2) portant des moyens (3, 4) pour transporter lesdites découpes selon une trajectoire sensiblement plane (F), caractérisée en ce qu'elle comporte un dispositif (15) défini selon l'une au moins des revendications 1 à 7.

4Die Klägerin hat das Streitpatent wegen fehlender Patentfähigkeit angegriffen. Die Beklagte hat das Streitpatent wie erteilt und hilfsweise in vier geänderten Fassungen verteidigt.

5Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt, soweit sein Gegenstand über die Fassung nach Hilfsantrag 3* hinausgeht. Gegen diese Entscheidung wenden sich beide Parteien mit der Berufung. Die Klägerin begehrt weiterhin die vollständige Nichtigerklärung des Streitpatents. Die Beklagte verteidigt das Streitpatent wie erteilt, hilfsweise in der Fassung des erstinstanzlichen Hilfsantrags 1 sowie in zwei weiteren geänderten Fassungen. Beide Parteien treten dem gegnerischen Rechtsmittel entgegen.

Gründe

6Beide Rechtsmittel sind zulässig, nur jenes der Klägerin ist begründet.

7I. Das Streitpatent betrifft eine Vorrichtung, mit der Braille-Zeichen auf Karton-Zuschnitte gedruckt werden können, und eine Falz-Klebe-Maschine, die eine solche Vorrichtung umfasst.

81. Die Beschreibung erläutert, dass bestimmte Verpackungen, insbesondere für Medikamente, zum Schutz von sehbehinderten Personen mit Informationen in Braille-Schrift versehen werden müssen. Hierfür werde die Oberfläche der Verpackung geprägt, um Erhebungen auszubilden (Abs. 1). Präge man zunächst die Zuschnitte und stapele sie dann, um eine kontinuierlich arbeitende Falz-Klebe-Maschine zu versorgen, könne dies dazu führen, dass die Zuschnitte schwer zu trennen seien oder die Prägung beim Verlassen des Stapels beeinträchtigt werde. Zudem sei es schwierig, eine Mitteilung in Braille-Schrift in der Nähe eines Rands oder einer Knickstelle des Zuschnitts zu drucken (Abs. 8 f.).

9Aus der deutschen Gebrauchsmusterschrift 20 2005 017 869 (K1) sei bereits eine Vorrichtung zum Drucken von Braille-Zeichen mittels drehbarer Prägewerkzeuge bekannt (Abs. 10).

102. Vor diesem Hintergrund kann das technische Problem dahin beschrieben werden, dass eine Vorrichtung bereitgestellt werden soll, die eine hohe Produktivität der Faltschachtelherstellung und gute Lesbarkeit der Braille-Zeichen gewährleistet.

113. Das Streitpatent schlägt hierzu in Patentanspruch 1 eine Vorrichtung vor, deren Merkmale sich wie folgt gliedern lassen:

134. Einige Merkmale bedürfen der Erläuterung:

14a) Nach der Lehre des Streitpatents erfolgt das Prägen der Braille-Zeichen nicht bereits in der Flachbett-Stanzpresse (oder Tiegeldruckpresse, presse à découper à plat), also vor oder während der Herstellung einzelner Zuschnitte durch Ausstanzen. Die Braille-Zeichen sollen statt dessen erst in einer späteren Phase in der Falz-Klebe-Maschine auf die bereits ausgestanzten Karton-Zuschnitte geprägt werden, nachdem diese von einem Stapel solcher Zuschnitte abgezogen wurden.

15Dies ergibt sich aus dem Zusammenhang der Merkmale 1.1 und 2.3, nach denen die Braille-Zeichen während des Laufs der Karton-Zuschnitte in einer Falz-Klebe-Maschine entlang einer im Wesentlichen ebenen Trajektorie gedruckt werden.

16Dieses Verständnis wird durch Absatz 13 der Beschreibung bestätigt, wonach es die Lehre des Streitpatents erlaubt, auf Prägewerkzeuge in der Flachbett-Stanzpresse zu verzichten und erst die bereits ausgestanzten Zuschnitte beim Lauf durch eine Falz-Klebe-Maschine mit einer Prägung zu versehen.

17Hierdurch wird vermieden, dass die Prägung beim Stapeln der Zuschnitte das Abziehen der einzelnen Zuschnitte erschwert oder die Prägung bei diesem Abziehen beschädigt wird.

18Zu Recht hat das Patentgericht Merkmale 1.1 und 2.3 dahin ausgelegt, dass es genügt, wenn die Vorrichtung nach Patentanspruch 1 so ausgebildet ist, dass sie geeignet ist, innerhalb einer Falz-Klebe-Maschine verwendet zu werden und die Braille-Zeichen während des Transports der Karton-Zuschnitte entlang der Trajektorie zu prägen.

19Weitere Anforderungen, etwa hinsichtlich der erreichbaren Geschwindigkeit, der Verschleißfestigkeit oder der Abmessungen, ergeben sich daraus - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht. Dem Anspruch sind in dieser Hinsicht keine weiteren Anforderungen an die Eigenschaften einer Falz-Klebe-Maschine zu entnehmen.

20b) Nach Merkmalen 2.0 und 2.1. weist die Vorrichtung drehbare Präge-Werkzeuge auf, die auf zwei parallelen Wellen gelagert sind. Diese wiederum sind drehbar zu beiden Seiten der Ebene der Trajektorie angebracht (Merkmal 2.2). Dies gewährleistet, dass die Zuschnitte, die entlang der Trajektorie laufen, zwischen den Werkzeugen hindurchlaufen und dabei mit einer Prägung versehen werden.

21c) Nach Merkmal 3.0 sind die beiden parallelen Wellen überhängend (porte-à-faux) in einem Träger (un berceau) angebracht.

22Wie die Beschreibung erläutert (Abs. 24), bedeutet dies, dass die beiden Wellen jeweils ein freies, nicht gestütztes Ende aufweisen. Die Prägewerkzeuge sind an diesem freien Ende der Wellen montiert. Um die dabei auftretenden Kräfte aufzunehmen, sind die beiden Wellen in einem Träger angebracht.

23Ein Ausführungsbeispiel zeigt die nachfolgend wiedergegebene Figur 6:

24Die Präge-Werkezeuge 5 und 6 sind auf zwei parallelen Wellen 7 und 8 gelagert. Diese sind durch Kugellager 23 und 24 abgestützt.

25II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

26Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung beruhe ausgehend von K1 unter Berücksichtigung der deutschen Offenlegungsschrift 2 126 325 (K3) nicht auf erfinderischer Tätigkeit. K1 zeige eine Vorrichtung, die die Merkmale 1.0 bis 2.3 vorwegnehme. Zwar sei ihr nicht unmittelbar und eindeutig zu entnehmen, dass der Druck der Braille-Zeichen in einer Falz-Klebe-Maschine erfolge, doch sei die Vorrichtung geeignet, in einer solchen Maschine verwendet zu werden. Dagegen sei Merkmal 3.0 nicht offenbart. K1 sei über die Anbringung der Wellen nichts zu entnehmen. Der Fachmann, ein Ingenieur des Maschinenbaus mit Fachhochschul- oder Universitätsabschluss, der über fundierte Kenntnisse von Maschinen zur Bearbeitung von bogen- und bandförmigem Material und mehrere Jahre Berufserfahrung in der Konstruktion von Maschinen zum Bedrucken solchen Materials und die Herstellung von Faltverpackungen verfüge, müsse sich daher mit der Lagerung der Wellen befassen. Dabei berücksichtige er unter anderem, dass ein einfacher Wechsel des Werkzeugs wünschenswert sei. Er werde sich daher auf dem Gebiet des Prägens oder Stanzens von Material mittels rotierender Werkzeuge umsehen und sich mit der K3 beschäftigen. Diese zeige ein Ausführungsbeispiel, bei dem zwei Prägerollen fliegend in einem Rahmen gelagert seien und das gerade im Hinblick auf einen einfachen Wechsel der Werkzeuge als vorteilhaft beschrieben werde.

27Auch in der Fassung nach Hilfsantrag 1 habe Patentanspruch 1 keinen Bestand. Das dort vorgesehene zusätzliche Merkmal, wonach die eine der zwei parallelen Wellen in eine Richtung senkrecht zur Ebene der Trajektorie durch Translation bewegbar sei, sei nicht geeignet, eine erfinderische Tätigkeit zu begründen. Die Anpassung an verschiedene Kartonstärken sei nur dadurch möglich, dass eine der beiden Prägewalzen relativ zur anderen und senkrecht zur Ebene der Trajektorie bewegbar sei. Dies werde durch das deutsche Gebrauchsmuster 203 06 090 (K4) und die europäische Patentanmeldung 1 537 920 (K2) bestätigt.

28Dagegen erweise sich der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung von Hilfsantrag 3* als rechtsbeständig. In dieser Fassung werde eine Falz-Klebe-Maschine mit einer Vorrichtung nach Anspruch 1 in der erteilten Fassung geschützt, wobei diese zwischen dem Vorbrechermodul und dem Faltmodul der Maschine angeordnet sei. Die Verteidigung des Streitpatents in dieser Fassung sei zulässig, beruhe insbesondere nicht auf einer unzulässigen Erweiterung. Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit sei die deutsche Offenlegungsschrift 198 28 820 (K13), die eine Falz-Klebe-Maschine zeige. Aufgrund der rechtlichen Vorschriften habe Veranlassung bestanden, eine solche Maschine zusätzlich mit einer Vorrichtung zur Prägung von Braille-Zeichen auszustatten. Ersetze der Fachmann den in K13 gezeigten Anleger durch denjenigen aus K1, gelange er zu einer Maschine, bei der das Prägemodul vor dem Vorbrechermodul angeordnet sei. Entgegen der Ansicht der Klägerin sei es aus fachlicher Sicht nicht beliebig, wo die Prägewerkzeuge angeordnet werden. Hinzu komme, dass K13 eine beidseitige Lagerung der Bestandteile vorsehe und damit keinen Hinweis auf eine Lagerung der Wellen des Prägemoduls gemäß Merkmal 3.0 gebe.

29III. Diese Beurteilung hält den Angriffen der Beklagten, jedoch nicht der Klägerin stand.

301. Zu Recht hat das Patentgericht die Patentfähigkeit von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung verneint. Der Gegenstand dieses Anspruchs ist ausgehend von K1 durch K3 nahegelegt.

31a) K1 nimmt die Merkmale von Patentanspruch 1 nicht vollständig vorweg.

32aa) Die Entgegenhaltung beschreibt eine Vorrichtung, die es ermöglichen soll, dort als Einzelnutzen bezeichnete Karton-Zuschnitte, aus denen Faltschachteln hergestellt werden, zu bearbeiten.

33Neue Regelungen machten es erforderlich, Faltschachteln mit Braille-Zeichen zu versehen. Es sei bekannt, diesen Prägevorgang parallel zum Ausstanzen von Einzelnutzen aus bedruckten Bogen vorzusehen und die ausgestanzten und geprägten Einzelnutzen anschließend in einer Falz-Klebe-Maschine zu fertigen Schachteln zu verarbeiten. Dieses Vorgehen sei jedoch nachteilig, weil die Stanzgeschwindigkeit sinke und der Umbau der Stanzformen mit Patrizen und Matrizen aufwendig sei.

34K1 schlägt demgegenüber eine als Einzelnutzen-Anleger bezeichnete Vorrichtung vor, bei der die Einzelnutzen transportiert und durch rotierende Werkzeuge bearbeitet werden können. Die nachstehend wiedergegebenen Figuren 1 und 2 zeigen eine solche Vorrichtung von der Seite und in der Draufsicht.

35Der Anleger ziehe das Produkt - den Einzelnutzen (19) - über einen Transportriemen aus einem Stapel (1) ab und beschleunige ihn mittels Riemen (4, 17). Der Einzelnutzen werde durch mit Nocken (5) versehene Zahnriemen (15) und seitlich geführte Transportbänder (14) exakt ausgerichtet. Dies ermögliche es, den Einzelnutzen durch mit Werkzeug versehene Rotativsysteme (6, 18) weiter zu verarbeiten (Abs. 3 bis 10).

36Figur 3 zeigt eine schematische Darstellung eines Rotativsystems.

37Der eine Zylinder (1) könne eine Patrize, der andere Zylinder (2) eine Matrize aufweisen. Die Zylinder seien über ein Zahnrad in Eingriff. Der Faltschachtelnutzen werde beim Hindurchführen zwischen den Zylindern geprägt (Abs. 2, 11-14).

38bb) Damit sind, wie das Patentgericht zutreffend entschieden hat, die Merkmale 1 bis 2.3 offenbart.

39Der Einwand der Beklagten, es fehle an einer Offenbarung der Merkmale 1.1 und 2.3, weil das Prägen vor der Verarbeitung des Nutzens in einer Falz-Klebe-Maschine erfolge, ist unbegründet.

40K1 grenzt sich gerade von einer Vorgehensweise ab, bei der das Prägen der Braille-Zeichen schon im Zusammenhang mit dem Ausstanzen der Kartonzuschnitte vorgenommen wird. Demgegenüber schlägt K1 vor, erst den bereits ausgestanzten Einzelnutzen weiter zu bearbeiten. Dafür sieht K1 einen Anleger vor, bei dem die Einzelnutzen gestapelt, sodann beschleunigt und ausgerichtet und damit für eine weitere Bearbeitung durch mit Werkzeug versehene Rotativsysteme vorbereitet werden. In den Ansprüchen 8, 9 und 14 sind als Beispiele ein rotativer Prägevorgang, ein rotativer Stanzvorgang und ein rotativer Druckvorgang genannt. Damit beschreibt K1 eine Vorrichtung, die jedenfalls die Eignung aufweist, in einer Falz-Klebe-Maschine verwendet zu werden.

41cc) Dagegen ist eine überhängende Anbringung der beiden parallelen Wellen in einem Träger (Merkmal 3.0) in K1 nicht unmittelbar und eindeutig offenbart. Zu Recht hat das Patentgericht angenommen, K1 lasse sich hinsichtlich der Lagerung der Wellen keine eindeutige Aussage entnehmen.

42Die Ansprüche und die Beschreibung der K1 befassen sich nicht mit der Anbringung der Wellen. Der schematischen Darstellung in Figur 2 mag ein Zylinder zu entnehmen sein, der auf einer Welle gelagert ist. Aus ihr ist jedoch nicht zu erkennen, wo die Welle gelagert ist. Ob der Umstand, dass die Welle zu beiden Seiten recht deutlich über den Zylinder hinausragt, den Schluss nahelegt, dass sie beidseits des Zylinders gelagert ist, kann offenbleiben. Ein solcher Schluss erfordert jedenfalls ergänzende fachliche Überlegungen, weshalb Merkmal 3.0 nicht unmittelbar und eindeutig offenbart ist.

43b) Ausgehend von K1 lag es jedoch nahe, die Vorrichtung so zu gestalten, dass die parallelen Wellen überhängend in einem Träger angebracht sind.

44aa) Da sich K1, wie ausgeführt wurde, keine Angaben über die Anbringung der Wellen entnehmen lassen, stellt sich bei der Umsetzung einer entsprechenden Vorrichtung die Frage, wie die Wellen angebracht werden sollen. Eine solche Anbringung muss einerseits gewährleisten, dass die beim Prägen der Karton-Zuschnitte auftretenden Kräfte bewältigt werden. Zum anderen ist darauf zu achten, dass die Prägewerkzeuge bei Bedarf leicht ausgewechselt werden können.

45bb) Zunächst wird der Fachmann dabei auf sein Fachwissen zurückgreifen. Abstrakt ist ihm bekannt, dass Wellen sowohl beidseitig als auch einseitig mittels jeweils mindestens zwei Radiallagern gelagert werden können, wobei die beidseitige Lagerung mit der Last zwischen den Lagern überwiegend angewendet wird (zum Beleg: Lueger, Lexikon der Technik, 4. Auflage, Band 1, Grundlagen des Maschinenbaues - Lagerung von Maschinenwellen, K7).

46Im Hinblick auf die Möglichkeit einer einseitigen Lagerung, bei der der Angriffspunkt der Last sich fliegend außerhalb der beiden Lager befindet, hatte er angesichts deren Vorzüge für ein Auswechseln der Werkzeuge Anlass, sich in jenem Stand der Technik umzuschauen, der das Bearbeiten von durchlaufendem Material mit rotierenden Werkzeugen betrifft, um so die konkrete Machbarkeit einer solchen Variante einschätzen zu können.

47cc) Hierbei wird er auf die K3 stoßen.

48Diese Entgegenhaltung beschäftigt sich mit der Führung von mindestens zwei Teilen eines rotierenden Prägewerkzeugs, die relativ zueinander beweglich sind.

49Entgegen der Auffassung der Beklagten zählt K3 zum relevanten Stand der Technik. Sie bezieht sich nicht lediglich auf das Prägen von Drähten, sondern betrifft allgemein rotierende Prägewerkzeuge.

50Bei entsprechenden Vorrichtungen, etwa Prägekalandern oder Stechwalzenwerken, sei zum Teil große Präzision erforderlich. Es sei bekannt, Walzwerke mittels Vorspannung einseitig gegen ein Festlager zu verspannen. Damit könne ein axiales Lagerspiel praktisch eliminiert werden. Diese bewährte Technik sei aber nur auf Walzen anwendbar, deren Mäntel fest mit den Wellen verbunden seien, während es auch Werkzeuge gebe, bei denen der Walzenmantel gewechselt werden könne. Daher stelle sich die Aufgabe, eine Vorrichtung bereitzustellen, bei der solche Mäntel leicht ausgewechselt werden und gleichwohl Toleranzen, die durch Montage, Wärmeausdehnung, Abnutzung usw. entstehen, eliminiert werden können. K3 schlägt hierzu vor, dass die Teile des Prägewerkzeugs je eine Seitenfläche aufweisen, die als Führungsfläche diene, und auf eine Widerlagerfläche vorgespannt sind.

51K3 zeigt zwei Ausführungsbeispiele in den nachstehend wiedergegebenen Figuren 3 und 4:

52Figur 3 zeigt zwei Prägewalzen (7, 8), die auf als Lagerzapfen (14) bezeichneten Wellen angeordnet sind. Die ober- und unterhalb dieser Lagerzapfen eingezeichneten schraffierten Flächen lassen erkennen, dass diese Wellen beidseits des Werkzeugs gelagert sind.

53Demgegenüber zeigt Figur 4 einen Prägekalander mit einem Rahmen (23) und Prägewerkzeugen (20). Die beiden Prägerollen (20) sind auf Kalanderwellen (24) angebracht. Nach der Beschreibung der K3 zeigt Figur 4 "fliegende" Prägewerkzeuge, also solche, die auf einem freien Ende der Welle angebracht sind.

54Eine solche "fliegende" Anbringung des Prägewerkzeugs gewährleistet nach der Beschreibung der K3 einen Wechsel der Werkzeuge mit wenigen Handgriffen (S. 8, 3. Abs.). Entgegen der Ansicht der Beklagten ergibt sich aus dem Zusammenhang der Beschreibung, dass sich diese Aussage nur auf das Ausführungsbeispiel nach Figur 4, nicht jedoch auf das nach Figur 3 bezieht.

55dd) Danach ergab sich für den Fachmann im Hinblick auf sein Fachwissen und konkret aus K3 die Anregung, die in K1 beschriebene Vorrichtung dahin weiterzubilden, die Prägewerkzeuge auf parallelen Wellen zu lagern, die überhängend angebracht sind.

562. Auch der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung von Hilfsantrag 1 ist nicht patentfähig.

57a) Nach Hilfsantrag 1 wird Patentanspruch 1 um Merkmal 3.1 ergänzt:

59Die Bewegbarkeit der Wellen ermöglicht es, den Abstand der Prägewerkzeuge so einzustellen, dass die Vorrichtung mit Karton-Zuschnitten unterschiedlicher Stärke beschickt werden kann.

60b) Im Ergebnis zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass auch der Gegenstand des Streitpatents in der Fassung dieses Hilfsantrags durch den Stand der Technik nahegelegt ist.

61aa) Insoweit kann offenbleiben, ob eine Veränderung des Spalts zwischen den Werkzeugen, durch den der Einzelnutzen beim Prägen von Braille-Zeichen geführt wird, nur durch eine relative Bewegung der Trommeln zueinander möglich ist oder - wie die Beklagte geltend macht - auch durch einen Austausch beider Trommeln.

62Denn unabhängig davon ist eine translatorische Bewegung einer der beiden Wellen jedenfalls auch eine Möglichkeit, die aus fachlicher Sicht in Betracht zu ziehen ist. Bereits Figur 3 der K1 deutet mit den beiden links neben den Prägewalzen gezeichneten Pfeilen auf eine solche Beweglichkeit hin, auch wenn die Funktion über diesen schematischen Hinweis hinaus in K1 nicht weiter erläutert wird.

63Wie das Patentgericht zutreffend ausgeführt hat, ist eine solche Gestaltung dem Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens bekannt. Eine Anregung, diese Möglichkeit vorzusehen, ergibt sich zum einen daraus, dass auf diese Weise eine einfache Anpassung des Werkzeugs an unterschiedlich dicke Kartonzuschnitte möglich ist, zum anderen ist der Austausch der Werkzeuge leichter, wenn der Abstand zwischen den Prägewerkzeugen vergrößert werden kann, so dass Patrize und Matrize nicht mehr ineinander greifen.

64Der Einwand der Beklagten, die Stärke von Karton-Zuschnitten sei bei Faltschachteln für Arzneimittel stets gleich, rechtfertigt keine andere Beurteilung.

65Patentanspruch 1 ist nicht auf Vorrichtungen zum Prägen von Karton-Zuschnitten für Arzneimittelverpackungen beschränkt. Dass solche Prägungen nur für Kartons einer bestimmten Stärke in Betracht kommen, zeigt die Beklagte nicht auf.

66bb) Zu Recht hat das Patentgericht insoweit als Beleg für ein solches allgemeines Fachwissen die K4 herangezogen.

67K4 betrifft eine Rotationsstanzmaschine, bei der der Stanzvorgang zwischen zwei achsparallelen, sich umfangsseitig gegenüberliegenden Stanztrommeln stattfindet, von denen eine als Patrize und eine als Matrize ausgebildet ist. Der Abstand zwischen beiden Trommeln ist so gewählt, dass das Stanzgut hindurchlaufen kann und die Schneidstempel der Patrize in die Schneidlöcher der Matrize eindringen können. Ein Beispiel zeigt die Figur 1:

68Der erforderliche Gleichlauf der Stanztrommeln wird herkömmlich durch Zahnräder bewirkt, die miteinander kämmen. Im Ausführungsbeispiel nach Figur 4 sind diese Zahnräder mit den Bezugszeichen 16 und 34 bezeichnet.

69K4 beschreibt, dass es zur Anpassung an Stanzgut unterschiedlicher Dicke oder zum Ausgleich von Verschleißerscheinungen am Werkzeug bekannt ist, den Abstand zwischen den Stanztrommeln zu verändern (Abs. 4 bis 7). Wegen der Synchronisation durch Zahnräder sei dies jedoch nur in geringem Umfang möglich. Dies erweise sich insbesondere als nachteilig, wenn ein Endlosprofil aus einem Extruder bearbeitet werden soll und dessen Anfang beim Anfahren des Extruders eine unförmige Verdickung aufweise. In diesem Fall müsse die Verarbeitungsgeschwindigkeit herabgesetzt und die Verdickung abgetrennt werden.

70K4 sieht es als Aufgabe an, eine Vorrichtung bereitzustellen, bei der der radiale Abstand zwischen den Stanztrommeln in größerem Maße erhöht werden kann. Dazu schlägt K4 eine Vorrichtung vor, in der eine zweite Synchronisation der Werkzeugtrommeln hergestellt wird, die sicherstellt, dass die Trommeln auch dann synchron laufen, wenn die Zahnräder, die bei geringem Abstand der beiden Trommeln die Synchronisation gewährleisten, wegen der größeren Entfernung der beiden Trommeln nicht mehr kämmen.

71cc) Die Klägerin verweist zu Recht ergänzend auf die deutsche Patentanmeldung 199 37 796 (K5).

72Diese Entgegenhaltung betrifft ein Druckwerk für Rollenrotationsmaschinen und beschreibt, dass die Druckwerkszylinder nach oben und unten verfahren werden können, um den Austausch der Zylinder oder den Wechsel der auf diese aufgespannten Hülsen zu erleichtern (Sp. 1 Z. 3-7, Sp. 2 Z. 30-34).

733. Die Verteidigung von Patentanspruch 1 in der Fassung nach Hilfsantrag 1a bleibt ebenfalls ohne Erfolg.

74a) Hilfsantrag 1a hat eine Falz-Klebe-Maschine nach dem erteilten Patentanspruch 8 im Rückbezug auf den erteilten Patentanspruch 1 zum Gegenstand.

76b) Der so beschriebene Gegenstand ist im Wesentlichen aus den Gründen, aus denen die Patentfähigkeit des Gegenstands von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung zu verneinen ist, nicht patentfähig.

77Zwar trifft es zu, dass in K1 nicht ausdrücklich von einer Falz-Klebe-Maschine die Rede ist, sondern von einem Einzelnutzen-Anleger und Transportsystem. Wie oben bereits erwähnt wurde, dient eine solche Vorrichtung nach K1 auch dazu, die Einzelnutzen zu transportieren und so auszurichten, dass sie anschließend gefalzt und geklebt werden können (K1, Ansprüche 10 und 11). Mithin lag es nahe, die in K1 beschriebene Vorrichtung dahin abzuändern, dass sie neben dem Prägen auch das Falzen und Kleben der Einzelnutzen ermöglicht.

784. Die Berufung der Beklagten bleibt schließlich auch insoweit ohne Erfolg, als sie Patentanspruch 1 in der Fassung von Hilfsantrag 1b verteidigt.

79Nach dieser Fassung wird Patentanspruch 1 in der Fassung nach Hilfsantrag 1a um das Merkmal 3.1 aus Hilfsantrag 1 (translatorische Bewegung einer der beiden Wellen) ergänzt.

80Aus den oben bereits dargelegten Gründen lag es für den Fachmann nahe vorzusehen, dass eine der beiden parallelen Wellen durch Translation senkrecht zur Ebene der Trajektorie bewegbar angebracht wird, um Wartung und Wechsel der Werkzeuge zu erleichtern und eine Anpassung an unterschiedliche Stärken der Karton-Zuschnitte zu ermöglichen.

815. Mit Erfolg wendet sich die Klägerin gegen die Beurteilung des Patentgerichts, der Gegenstand von Patentanspruch 1 habe in der Fassung von Hilfsantrag 3* Bestand. Auch dieser Gegenstand erweist sich nicht als patentfähig.

82a) In dieser Fassung weist der Anspruch gegenüber der Fassung nach Hilfsantrag 1a folgende zusätzlichen Merkmale auf:

84Merkmal 0.2 legt zwar eine bestimmte Reihenfolge einzelner Komponenten der Falz-Klebe-Maschine fest. Der Anspruch schließt jedoch weder aus, dass zwischen diesen Komponenten weitere Module, etwa zum Bedrucken, angeordnet sind, noch schließt er aus, dass die Maschine vor der Anlagestation oder nach der Aufnahmestation weitere Komponenten umfasst. Etwas anderes ergibt sich - entgegen der Auffassung der Klägerin - nicht daraus, dass nach der Beschreibung die in Merkmal 0.2 aufgeführten Komponenten sukzessive (successivement) angeordnet sind.

85b) Zutreffend hat das Patentgericht die Verteidigung des Streitpatents in dieser geänderten Fassung als zulässig angesehen. Sie beruht entgegen der Auffassung der Klägerin nicht auf einer unzulässigen Erweiterung.

86Merkmale 0.2 und 4.0 finden ihre Grundlage in Abs. 20 der ursprünglichen Anmeldung.

87c) Entgegen der Annahme des Patentgerichts ist eine Anordnung der Vorrichtung zum Prägen von Braille-Zeichen zwischen dem Vorbrecher- und dem Faltmodul gemäß Merkmal 4.0 durch den Stand der Technik nahegelegt.

88aa) Das Patentgericht hat als möglichen Ausgangspunkt, insofern unbeanstandet, die K13 angesehen.

89Diese zeigt in der nachstehend wiedergegebenen Figur 1 einen üblichen Aufbau einer Falz-Klebe-Maschine, bei der auf den Einleger (1) zunächst ein Vorbrecher (2), ein Auftragswerk für Klebstoff (4), eine Faltstation (3), eine Überleitstation (5) und schließlich eine Sammel- und Presseinrichtung (6) folgen.

90bb) Wie das Patentgericht zutreffend angenommen hat, ergab sich ab Inkrafttreten der entsprechenden rechtlichen Vorschriften ein Anlass, eine solche Falz-Klebe-Maschine um ein Prägemodul zum Aufbringen von Braille-Zeichen zu ergänzen, um damit auch Faltschachteln für Medikamente herstellen zu können. Für ein solches Prägemodul konnte der Fachmann beispielsweise auf K1 zurückgreifen.

91cc) Entgegen der Auffassung des Patentgerichts beruht es nicht auf erfinderischer Tätigkeit, ein solches Prägemodul, wie in Merkmal 4.0 vorgesehen, zwischen dem Vorbrechermodul und dem Faltmodul vorzusehen.

92(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann eine erfinderische Tätigkeit nicht auf ein Merkmal gestützt werden, das eine beliebige, von einem bestimmten technischen Zweck lösgelöste Auswahl aus mehreren Möglichkeiten darstellt (, GRUR 2008, 56 Rn. 25 - Injizierbarer Mikroschaum; Urteil vom - X ZR 41/17 Rn. 46; Urteil vom - X ZR 178/18, juris Rn. 135; Urteil vom - X ZR 51/21, GRUR 2023, 1259 Rn. 72 - Schlossgehäuse).

93(2) Für die Kombination einer der Lehre der K13 entsprechenden Falz-Klebe-Maschine und eines aus K1 bekannten Prägemoduls für Braille-Zeichen musste der Fachmann die dort jeweils gezeigten Vorrichtungen gedanklich in ihre Module zerlegen, um zu erkennen, welche gebraucht werden und welche nicht. Insbesondere brauchte er nur eine der beiden Anlegestationen. Die Lehre der K13 regt zu einer solchen modularen Sichtweise an, indem sie selbst den Verarbeitungsprozess anhand von Modulen erläutert.

94Für den Fachmann kam deshalb nicht nur in Betracht, eine der K1 entsprechende Vorrichtung aufzutrennen und deren Anlegestation nebst dem Braille-Prägemodul an die Stelle der Anlagestation der K13 zu setzen. Von ihm war ebenso zu erwarten, allein die Braille-Prägewerkzeuge nebst Wellen und Antrieb aus K1 als ein Modul herauszulösen, um es sodann in eine der K13 entsprechende Falz-Klebe-Maschine zu integrieren und diese dafür entsprechend anzupassen. Die modulare Herangehensweise entspricht der Funktion, um welche eine Falz-Klebe-Maschine zu ergänzen war.

95(3) Nach dem insoweit übereinstimmenden Vortrag der Parteien kam für die Integration eines Braille-Prägemoduls im Hinblick auf die in K13 gezeigte Modulabfolge nur eine Position nach der Anlegestation und vor dem Faltmodul in Frage. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass das Faltmodul den Karton doppelschichtig faltet und somit ein Braille-Druck in nur eine Kartonschicht nicht mehr möglich ist. Zudem muss der Braille-Druck vor dem Auftrag von Klebstoff erfolgen, um von vorneherein einen Kontakt der Prägewerkzeuge mit dem Klebstoff auszuschließen.

96Von diesen Randbedingungen ausgehend hatte der Fachmann die Wahl, die Vorrichtung zum Druck der Braille-Zeichen vor oder nach dem Vorbrechermodul anzuordnen. Beide Positionen sind in technischer Hinsicht und hinsichtlich der technischen Funktionen, die den einzelnen Modulen in einer solchen Maschine zukommen, gleichwertig; keine der beiden Positionen weist im Vergleich zur jeweils anderen technische Vorteile oder Nachteile auf.

97Demnach handelte es sich um eine beliebige Auswahl, die der Fachmann zwischen diesen beiden Positionen zu treffen hatte. Die Wahl der Position nach dem Vorbrecher- und vor dem Faltmodul vermag daher eine erfinderische Tätigkeit nicht zu begründen.

98dd) Schließlich ist eine erfinderische Tätigkeit nicht darin zu erkennen, in eine Vorrichtung nach K13 das aus K1 bekannte Prägemodul mit einer überhängenden Lagerung der Wellen für die Prägewalzen gemäß Merkmal 3.0 vorzusehen.

99Aus der nachstehend abgebildeten Figur 2 der K13 ist zwar zu erkennen, dass dort die Wellen 11 und 12, auf denen die für die Bearbeitung der Faltschachtel-Zuschnitte in der Überleitstation vorgesehenen Werkzeuge gelagert sind, nicht überhängend angebracht, sondern beidseits abgestützt sind.

100Wie bereits ausgeführt wurde, lag jedoch auch insofern aus Gründen einer besseren Praktikabilität beim Wechseln der Prägewerkzeuge eine "fliegende" Lagerung nahe. Die in Figur 2 der K13 schematisch gezeichnete Vorrichtung zeigt für eine solche Anordnung eines entsprechend gestalteten Prägemoduls genügend Bauraum.

101IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG und § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:071223UXZR77.21.0

Fundstelle(n):
VAAAJ-58628