BGH Beschluss v. - 6 StR 227/23

Gesetze: § 46 Abs 1 S 2 StGB, § 55 StGB, § 66 Abs 1 StGB, § 66 Abs 4 S 3 StGB, § 132 Abs 3 GVG

Instanzenzug: LG Lüneburg Az: 21 KLs 18/20

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt, seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet sowie eine Kompensations- und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Seine hiergegen gerichtete, auf die Verletzung formellen und sachlichen Rechts gestützte Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

21. Der Strafausspruch hat keinen Bestand.

3a) Das Landgericht war allerdings nicht gehalten, die zugleich angeordnete Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 1 StGB) strafmildernd zu berücksichtigen.

4aa) Der Senat vermag der Rechtsprechung des 1. und 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs nicht zu folgen, wonach zu den nach § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB zu berücksichtigenden Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Angeklagten in der Gesellschaft zu erwarten sind, auch die „Wechselwirkung“ zwischen der verhängten Strafe und einer angeordneten Maßregel der Besserung und Sicherung gehören kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 455/21, JR 2023, 147; vom – 1 StR 369/21; vom – 2 StR 184/23; Urteil vom – 2 StR 511/21; Beschlüsse vom – 2 StR 140/21, NStZ-RR 2021, 367, 368; vom – 2 StR 18/21, StV 2022, 293; vom – 2 StR 188/20; ablehnend bereits ; Beschlüsse vom – 4 StR 79/22; vom – 4 StR 99/22, NJW 2022, 2945 mit abl. Anm. Kinzig und Kett-Straub, NStZ 2023, 29; differenzierend ).

5bb) Zwischen Strafe und zugleich angeordneter Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) besteht grundsätzlich keine Abhängigkeit, die eine tatgerichtliche Erörterungspflicht nach § 267 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StPO begründen könnte (vgl. ebenso KK-StPO/Bartel, 9. Aufl., § 267 Rn. 53; LK-StGB/Schneider, 13. Aufl., § 46 Rn. 17; van Gemmeren, JR 2022, 664; Hinz, JR 2023, 147, 149; aA SSW-StGB/Eschelbach, 5. Aufl., § 46 Rn. 29; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 46 Rn. 71; Kett-Straub, NStZ 2023, 29; Kinzig, NJW 2022, 2945). Hiernach sind in den Urteilsgründen die für die Zumessung der Strafe bestimmenden Umstände anzuführen. Bestimmend sind Tatsachen, die ausweislich der schriftlichen Urteilsgründe für die tatgerichtliche Rechtsfolgenbestimmung tatsächlich von einigem Gewicht sein können, und deren Darstellung und Würdigung sich nach den Maßgaben des konkreten Einzelfalls aufdrängen oder unverzichtbar erscheinen (vgl. , Rn. 20; Bruns/Güntge, Das Recht der Strafzumessung, 3. Aufl., Kap. 19 Rn. 14; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 1352, 1360; MüKo-StPO/Wenske, 2. Aufl., § 267 Rn. 320 mwN).

6Gemessen hieran und mit Blick auf die von Strafe und Maßregel im sogenannten zweispurigen strafrechtlichen Sanktionensystem (vgl. nur , 4/91 u.a., BVerfGE 91, 1, 27; Urteil vom – 2 BvR 2029/01, NJW 2004, 739, 745; Schäfer/Sander/van Gemmeren, aaO, Rn. 389 mwN) verfolgten unterschiedlichen Zwecke sowie ihre kategorial verschiedenen gesetzlichen Anordnungsvoraussetzungen (vgl. LK-StGB/Radtke, 13. Aufl., Vor §§ 61 Rn. 22 ff., 35 mwN) ist eine zugleich angeordnete Sicherungsverwahrung bei der Strafzumessung nicht zu berücksichtigen.

7cc) Zudem bestehen insoweit keine – die verfahrensrechtliche Begründungspflicht (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) übersteigenden – sachlich-rechtlichen Darlegungspflichten.

8(1) Zwar kann die Begründung der verhängten Strafe sachlich-rechtlichen Bedenken begegnen, wenn die Urteilsgründe dem Revisionsgericht die ihm obliegende Nachprüfung nicht ermöglichen, die Erwägungen des Tatgerichts einseitig, widersprüchlich, unvollständig oder sonst in sich fehlerhaft sind (vgl. ) oder sich die Strafe von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, nach oben oder unten löst (vgl. , NStZ-RR 2012, 336, 337). Dies ist bei einer unterbliebenen Erörterung der zugleich angeordneten Sicherungsverwahrung bereits aus den vorgenannten Gründen aber nicht zu besorgen.

9(2) Aus der gesetzlichen Pflicht, die Wirkungen der „Strafe“ in den Zumessungsakt einzustellen (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB), folgt nichts anderes. Im Zeitpunkt der Anordnung der Sicherungsverwahrung ist für das Tatgericht auch kaum vorherzusehen, namentlich ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung auch nach Verbüßung der Strafe noch erfordert (vgl. van Gemmeren, JR 2022, 664). Hierüber ist erst vor Ende des Strafvollzugs zu entscheiden (§ 67c Abs. 1 StGB). Insbesondere unter Berücksichtigung des auf die Vermeidung der Maßregelvollstreckung angelegten, behandlungsorientierten Vollzugs (vgl. § 67c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) ist gerade bei einem mehrjährigen Strafvollzug eine Bewährungsaussetzung nicht fernliegend (vgl. § 67c Abs. 1, § 67d Abs. 2 StGB). Die bestehende Ungewissheit über fortdauernden Freiheitsentzug hat der Täter regelmäßig als vorhersehbare Folge der Tat auf sich genommen; sie vermag deshalb ebenfalls keine Erörterungspflicht auszulösen.

10(3) Auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich tragfähige Anhaltspunkte für eine stets bestehende sachlich-rechtliche Erörterungspflicht im Rahmen der Strafbemessung nicht entnehmen (aA Kinzig, NJW 2022, 2945). Allein im Ausnahmefall, in dem eine Strafe aus spezialpräventiven Gründen bis an die Grenze des noch Schuldangemessenen ausgeschöpft und zugleich eine präventive Maßregel angeordnet wird, soll die tatbezogene Strafe auf den Zweck des Schuldausgleichs „weitgehend“ reduziert sein (vgl. , NJW 2004, 739, 747). Daraus allein lässt sich indes kein stets wesentlicher Umstand für die tatgerichtliche Urteilsbegründung herleiten; das gilt erst recht mit Blick darauf, dass die Anordnungs- und die Vollstreckungsregelungen des Maßregelrechts den Auswirkungen der kumulativen Anordnung von Strafe und Sicherungsverwahrung, insbesondere einer drohenden „Entsozialisierung“, hinreichend begegnen (vgl. , BGHSt 59, 56, 63; Beschluss vom − 4 StR 99/22, NStZ 2023, 29, 30).

11(4) Schließlich begründen die rechtlichen Maßgaben der maßregelbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 62 StGB – nach Wortlaut und Systematik – keine zwingende Erörterung des durch die kumulative Anordnung von Strafe und Sicherungsverwahrung entstehenden Gesamtsanktionenübels (aA Kett-Straub, NStZ 2023, 29, 31).

12b) Der Senat ist nicht gehalten, beim 1. und 2. Strafsenat anzufragen, ob diese an ihrer Rechtsauffassung festhalten (§ 132 Abs. 3 Satz 1 GVG), da die Rechtsfrage nicht entscheidungserheblich ist (vgl. KK-StPO/Feilcke, 9. Aufl., § 132 GVG Rn. 4 mwN). Die für sich genommen rechtsfehlerfrei verhängte Strafe war jedenfalls deshalb aufzuheben, weil auf der Grundlage der Feststellungen revisionsgerichtlich nicht geprüft und entschieden werden kann, ob die Strafkammer im Ergebnis zu Recht von einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung mit einer Geldstrafe abgesehen hat (§ 55 StGB).

13aa) Die Urteilsgründe belegen nämlich eine weitere Verurteilung des Angeklagten durch das Amtsgericht Hamburg am zu einer Geldstrafe. Feststellungen zum Vollstreckungsstand dieser grundsätzlich gesamtstrafenfähigen Vorverurteilung fehlen und lassen deshalb eine revisionsgerichtliche Überprüfung nicht zu. In Ansehung der persönlichen Verhältnisse des erwerbslosen Angeklagten kann eine Beschwer, etwa durch eine Vollstreckung der Strafe im Wege der Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB; vgl. , NStZ 1990, 436; Beschluss vom – 3 StR 189/22, StV 2023, 528) oder durch eine möglicherweise fehlerhaft unterbliebene Gesamtstrafenbildung, auch nicht ausgeschlossen werden.

14bb) Da mithin in Betracht kommt, dass das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht einen Härteausgleich vorzunehmen haben wird, war die verhängte Strafe aufzuheben. Die zugehörigen Feststellungen können aufrechterhalten bleiben, weil sie von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen sind möglich; sie dürfen den bisher getroffenen Feststellungen nicht widersprechen.

152. Die Aufhebung des Strafausspruchs entzieht dem Maßregelausspruch die Grundlage. Dieser hätte allerdings auch deshalb keinen Bestand gehabt, weil den Urteilsgründen die formellen Voraussetzungen der Maßregel nicht zu entnehmen sind.

16a) Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB setzt namentlich voraus, dass der Täter die neue Tat nach zwei vorangegangenen Verurteilungen zu Freiheitsstrafen von jeweils mindestens einem Jahr begangen hat (§ 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB). Eine frühere Tat bleibt indes außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind (§ 66 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 1 StGB). Diese „Rückfallverjährung“ ist Ausdruck der gesetzlichen Vermutung, dass Vorverurteilungen nach einer „Wohlverhaltensphase“ von mehr als fünf bzw. fünfzehn Jahren (Sexualstraftaten) in Freiheit für die Prognose bedeutungslos sind (vgl. , BGHSt 49, 25, 28). Nicht eingerechnet wird in diese Frist die Zeit, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist (§ 66 Abs. 4 Satz 4 StGB).

17b) Das Landgericht hat diese Voraussetzungen für erfüllt gehalten, weil zwischen der Vorverurteilung des Angeklagten durch das und der hier abgeurteilten Anlasstat vom bei Nichteinrechnung einer zwei Jahre und drei Monate dauernden Strafhaft nicht mehr als fünf Jahre verstrichen seien. Gleiches gelte unter Abzug einer Strafhaft von zwei Jahren für den Zeitraum zwischen der „der Verurteilung vom zugrundeliegenden Tat (Datum der Tat: )“ und der ersten Vorverurteilung des Angeklagten durch das .

18c) Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

19aa) Die Strafkammer hat bei der Berechnung der „Rückfallverjährung“ rechtsfehlerhaft auf die Zeitpunkte der Vorverurteilungen abgestellt. Bei der Berechnung des von Verwahrung freien Zeitraums nach § 66 Abs. 4 Satz 3 StGB kommt es indes auf den Zeitraum zwischen den einzelnen relevanten Vortaten (vgl. § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) sowie auf die Frist zwischen der letzten in Betracht kommenden Vortat und der Anlasstat an (vgl. , BGHSt 25, 106, 107; vom – 3 StR 243/86, BGHR StGB § 66 Abs. 3 Satz 3 Fristberechnung 1; BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 281/08; vom – 3 StR 527/09, NStZ-RR 2010, 308, 309).

20bb) Bei Anwendung dieser rechtlichen Maßgaben scheidet die Verwertung der ersten Vorverurteilung als Symptomtat aus. Der Senat entnimmt den Feststellungen zur Person des Angeklagten, dass die diesem Urteil zugrundeliegende Tat am begangen wurde. Damit waren zwischen dieser und der durch die zweite Vorverurteilung abgeurteilten Tat – auch abzüglich der Dauer einer erfolgten Anstaltsverwahrung – mehr als fünf Jahre verstrichen.

21cc) Auch in Bezug auf den Maßregelausspruch können die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten bleiben, weil sie von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen sind möglich; sie dürfen den bisher getroffenen Feststellungen nicht widersprechen.

223. Die Adhäsionsentscheidung hat weitgehend Bestand. Allein der Ausspruch über die Verzugszinsen bedarf der Korrektur. Dem Adhäsions- und Nebenkläger steht aus dem rechtsfehlerfrei zuerkannten Schmerzensgeld in Höhe von 700 Euro ein Anspruch auf Verzugszinsen nicht – wie vom Landgericht angenommen – aus §§ 849, 246 BGB ab „dem Tag der Tat“ (UA S. 41), sondern gemäß § 286 Abs. 2 Nr. 4, § 288 Abs. 1 BGB, § 187 Abs. 1 BGB ab dem Tag nach dem Schadensereignis zu, mithin ab dem (vgl. ).

234. Soweit die Strafkammer wegen einer „den Justizorganen anzulastenden“ sechsmonatigen Verzögerung sechs Monate der Freiheitsstrafe für vollstreckt erklärt hat, bemerkt der Senat ergänzend:

24Die Kompensation für Belastungen rechtsstaatswidriger Verzögerung des Verfahrens ist nach ständiger Rechtsprechung nicht durch eine schematische Anrechnung der jeweiligen Verzögerungsdauer auf die Strafe vorzunehmen, sondern aufgrund einer wertenden Betrachtung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls – allenfalls mit einem Bruchteil – zu bemessen (vgl. , BGHSt 52, 124, 142). Die vorgenommene Anrechnung – über die wegen nunmehr eingetretener horizontaler Teilrechtskraft nicht erneut zu befinden sein wird (vgl. , BGHSt 54, 135, 137 ff.) – ist deshalb überzogen (vgl. , StV 2010, 479; LR/Krauß, 27. Aufl., GVG, § 199 Rn. 13 mwN).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:171023B6STR227.23.0

Fundstelle(n):
EAAAJ-58612