BGH Beschluss v. - StB 81/23

Gründe

I.

1Der Angeklagte ist am aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des festgenommen worden und befindet sich seither ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe sich spätestens seit September 2015 an verschiedenen Orten der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere in A.      , F.             , M.     , N.      , S.        , St.     und U. , als Mitglied an einer Vereinigung im Ausland (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi - DHKP-C) beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB.

2Mit Beschlüssen vom (AK 45-47/23, juris) und (AK 14-16/23, juris) hat der Senat die Haftfortdauer über sechs sowie über neun Monate hinaus angeordnet. Nachdem der Generalbundesanwalt gegen den Angeklagten und zwei Mitangeklagte die Anklage zum Oberlandesgericht erhoben hatte, hat dieses anlässlich der Eröffnung des Hauptverfahrens am ebenfalls die Haftfortdauer beschlossen. Seit dem findet die Hauptverhandlung statt.

3Aufgrund Haftprüfungsantrages des Angeklagten hat das erneut entschieden, dass die gegen den Angeklagten angeordnete Untersuchungshaft fortdauert und weiter vollzogen wird. Dagegen wendet er sich mit seiner Beschwerde. Er macht geltend, jedenfalls wegen des bei ihm am festgestellten Prostatakrebses bestünde weder der Haftgrund der Fluchtgefahr noch derjenige der Schwerkriminalität; überdies sei der weitere Vollzug im Hinblick auf eine bestehende beziehungsweise zu erwartende Haftunfähigkeit unverhältnismäßig.

4Mit Beschluss vom hat das Oberlandesgericht dem Rechtsmittel nicht abgeholfen. Der Beschwerdeführer hat sein Vorbringen mit Verteidigerschriftsatz vom ergänzt.

II.

5Die Beschwerde des Angeklagten hat in der Sache keinen Erfolg.

61. Der Angeklagte ist der ihm im vollstreckten Haftbefehl angelasteten Tat weiterhin dringend verdächtig. Auf die früheren Haftprüfungsentscheidungen des Senats und den dort in Bezug genommenen Inhalt der Anklageschrift wird verwiesen. In den Gründen des angefochtenen Beschlusses hat das Oberlandesgericht dargelegt, der dringende Tatverdacht sei durch die bisherige Beweisaufnahme erhärtet worden und werde durch die vorgesehene Erhebung weiteren Urkundenbeweises voraussichtlich noch verfestigt werden. Die Erklärungen des Angeklagten in der Hauptverhandlung hat es dahin gewürdigt, dass sie nicht zur Erschütterung des Vorwurfs, sondern allenfalls zu dessen indizieller Bestätigung geeignet seien. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts genügen den rechtlichen Maßstäben, die für die im Haftbeschwerdeverfahren vorzunehmende Überprüfung des dringenden Tatverdachts während laufender Hauptverhandlung gelten (st. Rspr.; vgl. etwa , BGHR StPO § 112 Tatverdacht 5 Rn. 16 f. mwN). Der Angeklagte hat diesbezüglich auch keine Beanstandungen erhoben.

72. Die Haftgründe der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) bestehen fort.

8a) Fluchtgefahr ist gegeben, weil die Würdigung sämtlicher Umstände es weiterhin wahrscheinlicher macht, dass sich der Angeklagte, auf freien Fuß gelangt, dem Verfahren entzöge, als dass er sich ihm zur Verfügung stellte.

9Von der konkreten Straferwartung geht weiterhin ein erheblicher Fluchtanreiz aus. Wenngleich dieser Anreiz mit zunehmender Dauer des im Fall der rechtskräftigen Verurteilung anzurechnenden - nunmehr länger als ein Jahr und sieben Monate währenden - Untersuchungshaftvollzugs geringer wird (zur sog. Nettostraferwartung s. , juris Rn. 9 mwN), ist die im angefochtenen Beschluss inzident getroffene tatrichterliche Prognose nicht zu beanstanden, dass der Angeklagte noch mit einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe zu rechnen hat, die ihn empfindlich trifft. Hinzu kommen die übrigen im Senatsbeschluss vom (AK 45-47/22, juris Rn. 29) genannten fluchtbegünstigenden Umstände.

10Hinreichende fluchthemmende Faktoren stehen dem noch immer nicht entgegen. Das gilt auch für die beim Angeklagten diagnostizierte Krebserkrankung. Ausweislich des Berichts der Uniklinik K.  vom ist an diesem Tag bei ihm mittels einer Biopsie ein „low risk Prostatakarzinom“ nachgewiesen worden; hiernach besteht lediglich ein geringes Progressionsrisiko (örtlich begrenztes Karzinom, das mit großer Wahrscheinlichkeit entweder gar nicht oder nur sehr langsam wächst). Ärztlicherseits wird als Therapieoption derzeit eine aktive Überwachung („active surveillance“) mit regelmäßigen, zunächst vierteljährlichen Untersuchungs- und Kontrollterminen empfohlen. Der ärztliche Dienst der Justizvollzugsanstalt hat am dahin Stellung genommen, dass der Angeklagte dementsprechend nicht akut gesundheitsgefährdet ist. Dabei ist der - vom Beschwerdeführer zuletzt mitgeteilte - Laborbericht vom bekannt gewesen, der eine Erhöhung des PSA-Werts seit dem um 24% ausweist. Dem handschriftlichen Vermerk auf diesem Dokument zufolge sind die Laborwerte mit dem „Chefarzt“ besprochen worden; sie haben demnach keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung gegeben.

11Zu Recht hat das Oberlandesgericht diese Befunde nicht als Umstand gewertet, der die Gefahr beseitigt, dass sich der Angeklagte im Fall seiner Freilassung dem weiteren Erkenntnis- oder Vollstreckungsverfahren entzöge. Für ein solches Sichentziehen genügt bereits jedes aktive Verhalten, das den Erfolg hat, dass der Fortgang des Strafverfahrens wenigstens vorübergehend durch Aufhebung der Bereitschaft verhindert wird, für Ladungen und Vollstreckungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen (s. BGH, Beschlüsse vom - 1 StR 726/13, NJW 2014, 2372 Rn. 15; vom - AK 33/17, juris Rn. 38; vom - StB 15/22, juris Rn. 13; BeckOK StPO/Krauß, 49. Ed., § 112 Rn. 24 mwN).

12Das Beschwerdevorbringen, der Angeklagte habe sich - der Empfehlung der Uniklinik K.  zuwider - für eine „operative Therapieoption“ entschieden, rechtfertigt keine andere Bewertung. Es bietet keine hinreichende Gewähr dafür, dass der Angeklagte sich im Fall seiner Freilassung tatsächlich einer radikalen Prostatektomie unterzieht und es, gegebenenfalls auch im Anschluss an den operativen Eingriff, unterlässt, unterzutauchen oder sich sonst der Beteiligung am Strafverfahren zu verweigern.

13Nach alledem kann dahinstehen, ob es eine die Fluchtgefahr verstärkende Bedeutung haben könnte, dass sich der Angeklagte durch einen nunmehr begonnenen Hungerstreik möglicherweise bewusst in einen Zustand der Verhandlungsunfähigkeit versetzt (vgl. dazu , juris Rn. 23; BeckOK StPO/Krauß, 49. Ed., § 112 Rn. 24, jew. mwN).

14b) Darüber hinaus liegen die Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO auch bei dessen gebotener restriktiver Auslegung vor. Denn hierfür kann bereits die zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falls doch nicht auszuschließende Fluchtgefahr genügen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist die Feststellung, dass ein verhältnismäßig geringes oder entferntes Risiko dieser Art besteht. Nur wenn nach den Umständen des Einzelfalls - anders als hier - gewichtige Gründe gegen jede Fluchtgefahr sprechen, ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von einem auf § 112 Abs. 3 StPO gestützten Haftbefehl abzusehen (vgl. , juris Rn. 12 mwN).

153. Eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) ist nicht erfolgversprechend. Unter den genannten Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden. Wie sich aus der Generalklausel des § 116 Abs. 4 Nr. 2 Variante 3 StPO für die Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls ergibt, setzt dessen Außervollzugsetzung voraus, dass in den Beschuldigten Vertrauen gesetzt werden kann; hierfür bedarf es einer Tatsachenbasis (vgl. BGH, Beschlüsse vom - AK 18/17, juris Rn. 26; vom - AK 33/17, juris Rn. 39; ferner LR/Lind, StPO, 27. Aufl., § 116 Rn. 50; MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl., § 116 Rn. 56). Für eine solche Vertrauensgrundlage in der Person des Angeklagten fehlen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte.

164. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

17a) Seit der letzten Haftentscheidung des Senats am (AK 14-16/23, juris) ist das Strafverfahren in einer Weise gefördert worden, die dem Anspruch des inhaftierten Angeklagten auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EMRK) genügt. Insoweit wird auf die Ausführungen im angefochtenen Beschluss verwiesen. Mit seiner Beschwerde macht der Angeklagte auch keine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes geltend.

18b) Die Untersuchungshaft erweist sich ebenso wenig mit Blick auf den Gesundheitszustand des Angeklagten als unverhältnismäßig. Vorrangig ist Gesundheitsgefahren im Rahmen der Untersuchungshaft zu begegnen (s. , juris Rn. 30).

19aa) Die vom Angeklagten gewünschte radikale Prostatektomie kann aus dem Untersuchungshaftvollzug heraus gewährleistet werden. Zwar ist nach der Stellungnahme des ärztlichen Dienstes der Justizvollzugsanstalt vom die Operation außerhalb des Justizvollzugskrankenhauses („extramural“) durchzuführen; der „damit verbundene Aufwand“ sei jedoch „im Rahmen des Justizvollzugs in aller Regel leistbar“. So hat am zur Besprechung der Befunde und der weiteren Behandlungsmöglichkeiten eine einstündige Telefonkonferenz stattgefunden, an der neben dem Angeklagten und seiner Lebensgefährtin die zuständige Ärztin der Uniklinik K.  , die Anstaltsärztin der Justizvollzugsanstalt sowie ein Dolmetscher teilgenommen haben.

20Soweit der Beschwerdeführer vorgetragen hat, ein Verteidiger habe am Kontakt zu einer Klinik in H.      aufgenommen, ist darauf hinzuweisen, dass der Angeklagte nicht das Krankenhaus frei wählen kann, in dem die Operation durchgeführt wird. Weder in den Vorschriften der § 45 Abs. 1, § 46 Abs. 2 StVollzG NRW i.V.m. § 24 Abs. 1 UVollzG NRW, welche die medizinische Behandlung des Untersuchungsgefangenen in einem Krankenhaus außerhalb des Vollzugs regeln, noch sonst ist ein solches Recht vorgesehen. So normiert § 23 Abs. 3 UVollzG NRW lediglich die Einholung ärztlichen Rates (zu § 114b Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 StPO vgl. BeckOK StPO/Krauß, 49. Ed., § 114b Rn. 12; LR/Lind, StPO, 27. Aufl., § 114b Rn. 19 mwN).

21bb) Die mit der Beschwerde geäußerte Besorgnis des Angeklagten, künftig sei eine adäquate Behandlung seiner Erkrankung, auch in Form des erstrebten operativen Eingriffs, im Rahmen der Untersuchungshaft nicht gewährleistet, ist aus verständiger Sicht nicht gerechtfertigt. Nach anfänglichen Verzögerungen, die in der Stellungnahme des ärztlichen Dienstes der Justizvollzugsanstalt vom offengelegt worden sind, sind weitere dem Justizvollzug anzulastende Versäumnisse oder Erschwernisse nicht mehr aufgetreten. Vielmehr hatte der Angeklagte selbst zu den Verzögerungen beigetragen, indem er einen früheren im Juli 2023 angesetzten Termin in der Uniklinik K.   zur Vornahme einer Biopsie unter Berufung auf die angeordnete Fesselung abgelehnt hatte. Die Justizvollzugsanstalt hat sodann auf den aus anstaltsärztlicher Sicht nicht mehr zu verantwortenden Zeitverzug hingewiesen.

22cc) Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss und den Nichtabhilfebeschluss Bezug genommen. Das Beschwerdevorbringen zu massiver Lebens- und irreparabler schwerer Gesundheitsgefahr, die nicht anders als durch die Beendigung des Untersuchungshaftvollzugs abwendbar seien, findet eine tatsächliche Stütze weder in den ärztlichen Befunden noch in anderen Aktenbestandteilen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:120124BSTB81.23.0

Fundstelle(n):
HAAAJ-58060