BSG Beschluss v. - B 12 BA 26/22 B

Gründe

1I. In dem zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten über eine Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen in Höhe von 11 083,25 Euro aus der Verbeitragung angesparter Wertguthaben.

2Das LSG Baden-Württemberg hat auf die Berufung der Klägerin das die Klage insgesamt abweisende Urteil des SG Stuttgart geändert und den Bescheid der Beklagten über die Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen aufgehoben. Im Übrigen, bezüglich des Antrags auf Erstattung der bereits eingezogenen Beitragsnachforderung, hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom ).

3Gegen das der Prozessbevollmächtigten der Klägerin am zugestellte Urteil hat diese fristgerecht am Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt. Gleichzeitig hat sie eine Begründung mit gesondertem Schreiben angekündigt. Mit einem am beim BSG eingegangenen Schreiben vom selben Tag hat sie nachgefragt, ob ihr Fristverlängerungsantrag vom bei Gericht eingegangen sei. Aufgrund technischer Schwierigkeiten im System des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) sei das Schreiben dort nicht mehr auffindbar. Auf den Hinweis des Vorsitzenden, dass ein solcher Antrag beim BSG nicht eingegangen ist, hat sie am wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und eine Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde beigefügt.

4II. 1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist abzulehnen. Wiedereinsetzung ist nach § 67 Abs 1 SGG auf Antrag zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist nach § 160a Abs 2 Satz 1 SGG innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Es handelt sich hierbei um eine Verfahrensfrist, welche die Klägerin nicht eingehalten hat. Denn das angegriffene Urteil wurde am wirksam zugestellt, sodass die Begründungsfrist am endete (§ 64 Abs 1 und 3 SGG). Innerhalb dieser Frist ging weder ein Fristverlängerungsantrag noch eine Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde beim BSG ein. Vielmehr ist die Nichtzulassungsbeschwerde erst mit Schriftsatz vom und damit verspätet begründet worden.

5Die Klägerin war nicht ohne Verschulden verhindert, die gesetzliche Frist einzuhalten. Ein solches Unverschulden setzt voraus, dass die Beteiligte diejenige Sorgfalt gewahrt hat, die einem gewissenhaften Prozessführenden nach den gesamten Umständen nach allgemeiner Verkehrsanschauung zuzumuten ist ( - BSGE 72, 158 = SozR 3-1500 § 67 Nr 7). Daran fehlt es hier. Das Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten ist der Klägerin zuzurechnen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 67 RdNr 3e mwN).

6Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat zur Begründung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausgeführt, am einen Antrag auf Verlängerung der Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde diktiert zu haben, der von ihr am nächsten Tag unterzeichnet und zur Versendung an das BSG per beA freigegeben worden sei. Hierzu habe sie die klare Anweisung gegeben, dass der Fristverlängerungsantrag vor allen anderen Arbeiten an das BSG zu versenden, die ordnungsgemäße Versendung zu überprüfen und hierüber eine Notiz zur Akte zu nehmen sei. Dies habe die gelernte Rechtsanwaltsfachangestellte M als ihre erste Tätigkeit am genauso befolgt, insbesondere habe sie eine Nachricht über die durchgeführte Versendung erhalten und den Postausgang kontrolliert. Das beA sei wegen Urlaubsabwesenheit das nächste Mal am geöffnet worden. Dabei sei ein Übertragungsfehler wegen einer ungesendeten Nachricht im Postausgang gemeldet worden. Das beschriebene Vorgehen entspreche der üblichen Organisation in der Kanzlei. Die Prozessbevollmächtigte mache durch die Unterzeichnung eines Schriftsatzes deutlich, dass dieser zur Versendung per beA freigegeben sei. Die Versendung erfolge dann unverzüglich durch die Rechtsanwaltsfachangestellte. Zur Glaubhaftmachung sind entsprechende eidesstattliche Versicherungen der Prozessbevollmächtigten sowie der Rechtsanwaltsfachangestellten beigefügt worden.

7Es kann offenbleiben, ob die unterbliebene Versendung des Fristverlängerungsantrags auf einen unverschuldeten technischen Fehler zurückzuführen ist, der unverschuldet nicht rechtzeitig bemerkt wurde. Denn ein solcher technischer Mangel wäre nach der geschilderten Kanzleiorganisation jedenfalls nicht allein für die Fristversäumnis kausal geworden. Selbst wenn die Versendung entsprechend der beschriebenen üblichen Organisation der Kanzlei innerhalb der Frist technisch einwandfrei durchgeführt worden wäre, würde es an einem fristgerecht eingegangenen ordnungsgemäßen Fristverlängerungsantrag fehlen.

8Nach § 65a Abs 1 SGG (in der seit dem geltenden Fassung des Gesetzes zur Regelung der Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde in Zivilsachen, zum Ausbau der Spezialisierung bei den Gerichten sowie zur Änderung weiterer prozessrechtlicher Vorschriften vom , BGBl I 2633) können vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen, schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen der Beteiligten (nur) nach Maßgabe des § 65a Abs 2 bis 6 SGG (in der seit dem geltenden Fassung des Gesetzes zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften vom , BGBl I 4607) als elektronische Dokumente bei Gericht eingereicht werden. Nach § 65a Abs 3 Satz 1 SGG muss das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Sicher ist nach § 65a Abs 4 Satz 1 Nr 2 SGG ua der Übermittlungsweg zwischen den besonderen elektronischen Anwaltspostfächern nach den §§ 31a und 31b Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO). Diesen gesetzlichen Anforderungen hätte die technisch einwandfreie Übermittlung des Fristverlängerungsantrags durch die Rechtsanwaltsfachangestellte nicht genügt.

9Nach den Ausführungen im Wiedereinsetzungsantrag war der Fristverlängerungsantrag von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin lediglich "unterzeichnet", also nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen worden. Wird ein Dokument von der verantwortenden Person lediglich (einfach) signiert, muss es auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Auch wenn die Übermittlung per beA nach § 65a Abs 4 Satz 1 Nr 2 SGG einen sicheren Übermittlungsweg darstellt, ist das beA nach § 31a Abs 1 Satz 1 BRAO (in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe vom , BGBl I 2363) jeweils dem einzelnen Anwalt zugeordnet. Es wird nach dieser Vorschrift für jede im Gesamtverzeichnis eingetragene natürliche Person eingerichtet. Der Postfachinhaber kann das Recht, nicht-qualifiziert elektronisch signierte Dokumente auf einem sicheren Übermittlungsweg zu versenden, nicht auf andere Personen übertragen (§ 23 Abs 3 Satz 5 Rechtsanwaltsverzeichnis- und -postfachverordnung). Echtheit und Integrität des per beA übermittelten Dokuments können nach der Rechtsprechung des - BAGE 171, 28 RdNr 21) deshalb nur gewährleistet werden, wenn es entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist oder von der verantwortenden Person selbst auf dem sicheren Übermittlungsweg bei der Justiz eingereicht worden ist. Ein elektronisches Dokument, das hingegen nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, wird danach gemäß § 130a Abs 3 Satz 1 ZPO iVm § 72 Abs 5 ArbGG bei Versendung aus einem beA nur dann auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht, wenn die das Dokument signierende und damit verantwortende Person mit der des tatsächlichen Versenders übereinstimmen. Dem schließt sich der Senat für das sozialgerichtliche Verfahren an. Insoweit wird auf die ausführliche Begründung des BAG in dem genannten Beschluss vom (aaO RdNr 14 ff) Bezug genommen (vgl zum Ganzen auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020 § 65a RdNr 9a mwN). Die für das Verfahren vor den Sozialgerichten geltende Vorschrift des § 65a Abs 3 Satz 1 SGG entspricht wörtlich dem für die Arbeitsgerichtsbarkeit nach § 72 Abs 5 ArbGG entsprechend anzuwendenden § 130a Abs 3 Satz 1 ZPO.

10Nach dem Vorbringen der Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist eine diesen Anforderungen gerecht werdende fristwahrende Versendung des Fristverlängerungsantrags per beA durch sie selbst nicht versucht worden. Vielmehr sollte die Rechtsanwaltsfachangestellte die Versendung mittels beA vornehmen, die aber - auch wenn keine technischen Schwierigkeiten aufgetreten wären - nicht die Frist gewahrt hätte. Die mangelnde Kenntnis der Prozessbevollmächtigten der Klägerin von der ordnungsgemäßen Nutzung des beA ist nicht unverschuldet und der Klägerin zuzurechnen.

11Der Einwand der Prozessbevollmächtigten der Klägerin, aufgrund der technischen Schwierigkeiten wäre auch ein von ihr selbst versandter Schriftsatz nicht rechtzeitig bei Gericht eingegangen, rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Der Senat hat nicht über hypothetische Sachverhalte zu entscheiden. Wiedereinsetzung ist nicht deshalb zu gewähren, weil ein rechtmäßiges Alternativverhalten ebenfalls zur Fristversäumnis hätte führen können. Voraussetzung ist allein, dass die Ursache für die Fristversäumnis unverschuldet war. Führen mehrere Ursachen zur Fristversäumnis, müssen alle unverschuldet sein.

122. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem angefochtenen Urteil des LSG war wegen Nichteinhaltung der Begründungsfrist nach § 160a Abs 2 Satz 1 und 2 SGG als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 SGG).

133. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 und 3, § 162 Abs 3 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:140923BB12BA2622B0

Fundstelle(n):
HAAAJ-57798