BGH Beschluss v. - III ZR 57/23

Haftung der BaFin im sog. Wirecard-Bilanzskandal: Konkrete Anhaltspunkte oder Zweifel; Vertretbarkeit der Maßnahmen der BaFin im Rahmen der Marktmissbrauchsüberwachung und Bilanzkontrolle

Leitsatz

1. Zur Haftung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) im Zusammenhang mit dem sogenannten "Wirecard-Bilanzskandal".

2. Ob aus der ex-ante-Sicht der BaFin "konkrete Anhaltspunkte" im Sinne des § 107 Abs. 1 Satz 1 WpHG aF (bis zum geltende Fassung) oder "Zweifel" im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 WpHG aF zu bejahen waren, ist allein anhand des Maßstabs der Vertretbarkeit unter Berücksichtigung der Belange einer effektiven Bilanzkontrolle zu beurteilen.

3. Die Maßnahmen der BaFin im Rahmen der Marktmissbrauchsüberwachung und der Bilanzkontrolle bezüglich der Wirecard AG in dem Zeitraum von April 2015 bis Juni 2020 waren vertretbar.

Gesetze: § 839 Abs 1 S 1 BGB, § 106 WpHG vom , §§ 106ff WpHG vom , § 107 Abs 1 S 1 WpHG vom , § 108 Abs 1 S 2 Nr 2 WpHG vom , Art 34 GG, Art 24 Abs 1 UAbs 1 EGRL 109/2004, Art 24 Abs 4 S 2 Buchst h EGRL 109/2004, Art 22 EUV 596/2014, Art 23 Abs 2 EUV 596/2014, Art 23 Abs 3 UAbs 1 EUV 596/2014

Instanzenzug: OLG Frankfurt Az: 1 U 183/22vorgehend LG Frankfurt Az: 2-20 O 35/22

Gründe

I.

1Der Kläger nimmt die beklagte Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) aus eigenem und abgetretenem Recht seiner Ehefrau im Zusammenhang mit dem Erwerb von Aktien der inzwischen insolventen Wirecard AG unter dem Gesichtspunkt der Amtshaftung und der unionsrechtlichen Staatshaftung auf Schadensersatz in Anspruch.

2Der Beklagten, einer selbständigen Anstalt des öffentlichen Rechts, obliegt unter anderem die Aufsicht über die Einhaltung der Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG). Dies betrifft vor allem die Bilanzkontrolle und die Marktmissbrauchsüberwachung. In dem Zeitraum vom bis zum wurde die Bilanzkontrolle auf der Grundlage eines zweistufigen "Enforcement-Verfahrens" durchgeführt (§§ 37n ff WpHG aF bzw. - ab - §§ 106 ff WpHG aF). Auf dessen erster Stufe wurde die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) tätig. Dabei handelte es sich um eine vom Bundesministerium der Justiz anerkannte privatrechtlich organisierte Einrichtung in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins. Die Beklagte sollte grundsätzlich erst dann - auf der zweiten Stufe - unmittelbar zuständig sein, unter anderem wenn das geprüfte Unternehmen die Kooperation mit der Prüfstelle verweigerte oder erhebliche Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung der Prüfung durch die Prüfstelle bestanden.

3Die Wirecard AG wurde 1999 gegründet und im September 2018 in den Deutschen Aktienindex (DAX) aufgenommen. Das Unternehmen erbrachte - gemeinsam mit diversen Tochterunternehmen - informationstechnische Dienstleistungen im Zusammenhang mit elektronischem Zahlungsverkehr, ohne selbst Zahlungsdienstleister oder Kreditinstitut zu sein. Als Emittent von Aktien unterlag die Wirecard AG der Finanzmarktaufsicht und der Bilanzkontrolle durch die Beklagte. Die Jahres- und Konzernabschlüsse sowie Lageberichte der Wirecard AG hatte der Abschlussprüfer, die E.   & Y.   GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, bis einschließlich für das Geschäftsjahr 2018 jeweils mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk testiert.

4Nachdem die Veröffentlichung des Jahres- und Konzernabschlusses 2019 mehrfach verschoben worden war, veröffentlichte die Wirecard AG am eine Ad-hoc-Mitteilung, wonach der Abschlussprüfer mitgeteilt habe, dass über die Existenz von im Konzernabschluss zu konsolidierenden Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Mrd. € (etwa ein Viertel der Konzernbilanzsumme) noch keine ausreichenden Prüfungsnachweise vorlägen und Hinweise bestünden, dass dem Abschlussprüfer unrichtige Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken vorgelegt worden seien. Am gab der Vorstand der Wirecard AG mittels einer weiteren Ad-hoc-Mitteilung bekannt, dass vermeintliches Vermögen in Höhe von 1,9 Mrd. € bei zwei Banken auf den Philippinen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehe. Drei Tage darauf beantragte die Wirecard AG die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen, das am durch das Amtsgericht München eröffnet wurde. Bereits in den Jahren zuvor hatte es immer wieder Medienberichte, insbesondere in der "Financial Times", über (bilanzielle) Unregelmäßigkeiten im Wirecard-Konzern gegeben.

5Der Kläger und seine Ehefrau erwarben am insgesamt 500 Inhaberaktien der Wirecard AG zu einem Kurs von 132,97 € für insgesamt 66.475 €. Am veräußerten sie die Aktien zu einem Kurs von 3,3105 € für insgesamt 1.648,25 €.

6Der Kläger hat geltend gemacht, die Beklagte habe über Jahre ihre gesetzlichen Pflichten zur Aufklärung, Untersuchung, Verhinderung und Anzeige von Marktmanipulationen der Wirecard AG und zur zutreffenden und vollständigen Information der Öffentlichkeit und des Kapitalmarkts verletzt. Sie habe konkrete Hinweise auf Verstöße der Wirecard AG gegen Rechnungslegungsvorschriften weder zum Anlass pflichtgerechter Prüfung noch sachgerechter Information der Öffentlichkeit genommen. Die Beklagte hätte die Bilanzkontrolle bei der Wirecard AG an sich ziehen müssen.

7Das Landgericht hat die auf Zahlung von 64.833,75 € nebst Zinsen gerichtete Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Die Revision wurde nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde.

II.

8Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem angefochtenen Beschluss ist unbegründet, weil die Zulassungsvoraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht vorliegen.

9Das Berufungsgericht hat einen Schadensersatzanspruch des Klägers aus Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG) beziehungsweise unter dem Gesichtspunkt des unionsrechtlichen Staathaftungsanspruchs zu Recht verneint. Die von der Beschwerde als grundsätzlich aufgeworfenen Rechtsfragen, insbesondere zu Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 4 Satz 2 lit. h) der Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2011/34/EG (Transparenz-Richtlinie, ABl. L 390, 98) und zu Art. 22, 23 Abs. 2, Abs. 3 UAbs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung, ABl. L 173/1), sind nicht entscheidungserheblich. Die Maßnahmen der Beklagten im Rahmen der Marktmissbrauchsüberwachung und der Bilanzkontrolle bezüglich der Wirecard AG in dem Zeitraum von April 2015 bis Juni 2020 sind weder nach § 6 oder §§ 106 ff WpHG aF noch im Hinblick auf die Regelungen der Transparenz-Richtlinie oder der Marktmissbrauchsverordnung zu beanstanden und waren jedenfalls vertretbar. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 1, 3 AEUV ist daher nicht veranlasst. Auch die weiteren Rügen des Klägers (Divergenz zur Senatsrechtsprechung, rechtliches Gehör) greifen nicht durch.

101. Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage, ob das zweistufige "Enforcement-Verfahren" den Regelungen von Art. 24 der Transparenz-Richtlinie widersprach und § 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 WpHG aF (vom bis geltende Fassungen der §§ 106 ff WpHG; im Folgenden nur: aF) deshalb dahingehend auszulegen ist, dass entgegen dem Wortlaut der Vorschrift bereits "einfache" Zweifel eine unmittelbare Prüfungspflicht der BaFin begründeten, ist vorliegend nicht entscheidungserheblich. Auch auf der Grundlage des Vorbringens des Klägers lagen die Voraussetzungen für eine Bilanzprüfung durch die Beklagte in eigener Zuständigkeit insbesondere zu Beginn des Jahres 2019 nicht vor, da weder "erhebliche Zweifel" im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 WpHG aF noch "einfache Zweifel", wie sie vom Kläger im Wege richtlinienkonformer Auslegung als ausreichend erachtet werden, durch den Sachvortrag belegt werden. Die Entscheidung der Beklagten, die Bilanzprüfung (zunächst) der DPR zu überlassen, war jedenfalls vertretbar.

11a) Nach § 108 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 107 Abs. 1 Satz 1 WpHG aF ordnete die BaFin eine Prüfung der Rechnungslegung in eigener Zuständigkeit an, soweit konkrete Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften vorlagen und zugleich ihr die Prüfstelle berichtete, dass ein Unternehmen seine Mitwirkung bei einer Prüfung verweigerte oder mit dem Ergebnis der Prüfung nicht einverstanden war (§ 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpHG aF) beziehungsweise erhebliche Zweifel an der Richtigkeit des Prüfungsergebnisses der Prüfstelle oder an der ordnungsgemäßen Durchführung der Prüfung durch die Prüfstelle bestanden (aaO Nr. 2). Durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe auf der Tatbestandsebene ("konkrete Anhaltspunkte", "erhebliche Zweifel") brachte das Gesetz zum Ausdruck, dass der BaFin ein Beurteilungsspielraum zustand mit der Folge, dass es bei der Subsumtion des Sachverhalts unter die vorgenannten Normen mehr als nur eine "richtige" Antwort geben konnte, weil zum Beispiel Erfahrungssätze zu verwerten oder unter Einbeziehung wertender Gesichtspunkte bestimmte tatsächliche Umstände zu würdigen waren, und deshalb verschiedene Betrachter, ohne pflichtwidrig zu handeln, zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen konnten.

12Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass staatsanwaltschaftliche Handlungen, bei denen ein Beurteilungsspielraum des Entscheidungsträgers besteht (z.B. Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, Erhebung der öffentlichen Klage, Beantragung eines Haftbefehls oder einer Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung), im Amtshaftungsprozess nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit zu prüfen sind. Letztere darf nur dann verneint werden, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege die betreffende Entscheidung nicht mehr verständlich ist (vgl. Senat, Urteil vom - III ZR 387/14, BGHZ 213, 200 Rn. 14, 17; BeckOGK/Thomas, BGB, § 839 Rn. 160 ff [Stand: ]; jew. mwN).

13Soweit § 106 WpHG aF die BaFin zu der Prüfung verpflichtete, ob bestimmte Unternehmensabschlüsse und -berichte den gesetzlichen Vorschriften, den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung oder den sonstigen durch Gesetz zugelassenen Rechnungslegungsstandards entsprachen, gilt kein anderer Prüfungsmaßstab. Ob "konkrete Anhaltspunkte" im Sinne des § 107 Abs. 1 Satz 1 WpHG aF gegeben oder "Zweifel" im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 WpHG aF zu bejahen waren, ist allein anhand des Maßstabs der Vertretbarkeit unter Berücksichtigung der Belange einer effektiven Bilanzkontrolle zu beurteilen.

14Bei der nachfolgenden gerichtlichen Beurteilung der fachlichen und rechtlichen Vertretbarkeit kommt es auf die ex-ante-Perspektive an (vgl. , BGHZ 175, 365 Rn. 19). Das Gericht darf sich nicht von einer rückschauenden ex-post-Wertung leiten lassen, die auf späteren Erkenntnissen beruht (vgl. , BGHSt 64, 217 Rn. 25).

15b) Nach diesen Maßstäben lagen die Voraussetzungen für eine Bilanzprüfung durch die Beklagte in eigener Zuständigkeit (§ 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 2 i.V.m. § 107 Abs. 1 Satz 1 WpHG aF) insbesondere zu Beginn des Jahres 2019, worauf der Kläger in erster Linie abhebt, nicht vor.

16aa) Am verlangte die Beklagte gemäß § 108 Abs. 2 WpHG aF die Prüfung des verkürzten Konzernabschlusses der Wirecard AG einschließlich des Lageberichts zum . Als Reaktion auf die Artikel der Financial Times vom wies die Beklagte die Prüfstelle an, die unter Bezugnahme auf interne Dokumente der Wirecard AG konkretisierten Vorwürfe bei der laufenden Prüfung zu berücksichtigen.

17Dass die Wirecard AG bei der von der Prüfstelle durchgeführten und am abgeschlossenen Prüfung nicht mitgewirkt oder ihre Mitwirkung sogar verweigert habe (§ 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpHG aF), behauptet der Kläger nicht. Ebenso wenig lässt sich mangels entsprechenden Parteivortrags des Klägers feststellen, dass (erhebliche beziehungsweise nur einfache) Zweifel hinsichtlich der ordnungsgemäßen Durchführung der Prüfung durch die Prüfstelle bestanden (§ 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 WpHG aF; siehe auch den Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts vom , S. 13 Abs. 4). Im Jahr 2019 lag auch noch kein Prüfungsergebnis vor, mit dem sich die Wirecard AG hätte nicht einverstanden erklären können oder das zu Zweifeln an seiner Richtigkeit hätte Anlass geben müssen.

18bb) Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, die Prüfstelle sei von vornherein ungeeignet gewesen, Prüfungen durchzuführen. Zwar war die Prüfstelle ein privatrechtlicher Verein ohne Hoheitsbefugnisse. Vielmehr war sie bei der Prüfung auf die Kooperation der Unternehmen angewiesen. Allerdings bestimmte § 342b Abs. 4 Satz 1 HGB aF (bis zum geltende Fassung), dass Unternehmen, soweit sie bei der Prüfung durch die Prüfstelle mitwirken, dieser auf Verlangen Auskünfte zu erteilen und Unterlagen vorzulegen haben (für die BaFin galt § 107 Abs. 5 WpHG aF). Weiterhin hatte die Prüfstelle Tatsachen, die den Verdacht einer Straftat im Zusammenhang mit der Rechnungslegung eines Unternehmens begründeten, anzuzeigen (§ 342b Abs. 8 HGB aF).

19cc) Selbst dann, wenn man - wie die Beschwerde auch geltend macht - davon ausginge, dass die Beklagte bereits beim Vorliegen "konkreter Anhaltspunkte" im Sinne des § 107 Abs. 1 Satz 1 WpHG aF für einen Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften europarechtlich zu einer eigenen Prüfungstätigkeit verpflichtet gewesen sei, genügte dies nicht zur Begründung einer Amtspflichtverletzung der Beklagten im konkreten Fall. Die Beklagte war nämlich nach § 37o Abs. 3 WpHG aF (vom bis geltende Fassung) beziehungsweise § 107 Abs. 4 WpHG aF ausdrücklich berechtigt, sich auch im Rahmen einer eigenen Prüfungsanordnung der Prüfstelle sowie anderer Einrichtungen und Personen zu bedienen. Eine Heranziehung Dritter durch die Beklagte zur Erfüllung ihrer aufsichtsrechtlichen Aufgaben war zudem in den Generalklauseln des § 4 Abs. 11 WpHG aF (§ 4 WpHG in der bis geltenden Fassung) beziehungsweise § 6 Abs. 17 WpHG aF (§ 6 WpHG in den vom bis geltenden Fassungen) ausdrücklich vorgesehen, wobei deren Wortlaut ("auch Wirtschaftsprüfer oder Sachverständige") nicht abschließend war, sondern vielmehr zum Ausdruck brachte, dass die Heranziehung Dritter zur Aufgabenerfüllung eher den Regelfall darstellen sollte (vgl. Assmann/Schneider/Döhmel, WpHG, 7. Aufl., § 6 Rn. 245). Einen Verstoß dieser Regelungen gegen europäisches Recht macht der Kläger nicht geltend; ein solcher ist auch nicht ersichtlich. Es ist daher auch unionsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn sich die Beklagte bei der Durchführung der Bilanzprüfung der Prüfstelle bedient hat. Dazu war sie von Gesetzes wegen ausdrücklich befugt.

202. Wird zugunsten des Klägers unterstellt, dass die Generalklausel des § 6 WpHG aF nicht durch die §§ 106 ff WpHG aF als leges speciales verdrängt wird und beim Verdacht auf eine (auch) bilanzgestützte Marktmanipulation anwendbar ist, ist ein amtspflichtwidriges Verhalten der Beklagten dennoch nicht feststellbar. Soweit sie in dem Zeitraum von April 2015 bis Juni 2020 tätig geworden ist und Maßnahmen ergriffen hat, war ihr Verhalten vertretbar und verhältnismäßig. Für den insbesondere interessierenden Zeitraum ab Februar 2019 gilt Folgendes:

21a) Februar 2019 bis zum

22aa) In Artikeln vom 30. Januar sowie vom 1. und (Anlagen K 15, K 16, K 18) äußerte die Financial Times unter Bezugnahme auf interne Dokumente der Wirecard AG und Untersuchungen der Rechtsanwaltskanzlei R.   & T.    Singapore LLP den Verdacht, dass in Kenntnis von Vorstandsmitgliedern der Wirecard AG Umsätze von asiatischen Tochtergesellschaften durch Scheingeschäfte (sog. Round-Tripping) vorgetäuscht und zu Unrecht bilanziert worden seien. In Singapur wurden daraufhin Räumlichkeiten der Wirecard-Tochtergesellschaft durchsucht. Ein am veröffentlichter Artikel der Financial Times (Anlage K 13) betraf das Drittpartnergeschäft der Wirecard AG und stellte in Frage, ob die von der Wirecard AG ausgewiesenen Umsätze mit auf den Philippinen ansässigen Drittpartnern überhaupt angefallen sind.

23Die Beklagte eröffnete bereits am Untersuchungen wegen Marktmanipulationen sowohl durch Marktteilnehmer (Short-Attacke) als auch durch die Wirecard AG (unrichtige Angaben in der Finanzberichterstattung, Unterlassen der Veröffentlichung der von der Financial Times erhobenen Vorwürfe als Insiderinformationen). Sie richtete Amtshilfeersuchen unter anderem an die Aufsichtsbehörde in Singapur und forderte die Wirecard AG am und auf, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Am verlangte die Beklagte von der Prüfstelle die Prüfung des verkürzten Konzernabschlusses der Wirecard AG einschließlich des Lageberichts zum . Am ersuchte sie die Wirecard AG um Vorlage des Abschlussberichts der Rechtsanwaltskanzlei R.   & T.    Singapore LLP, der ihr am übermittelt wurde.

24bb) Die Beklagte hat somit zum einen gegenüber der Wirecard AG Ermittlungsmaßnahmen im Sinne des § 6 Abs. 3 WpHG aF ergriffen und zum anderen von der Prüfstelle die Prüfung des verkürzten Konzernabschlusses zum gemäß § 108 Abs. 2 i.V.m. § 107 Abs. 1 Satz 1 WpHG aF verlangt. Vor dem Hintergrund, dass die Wirecard AG gerade wegen der erhobenen Vorwürfe die Rechtsanwaltskanzlei R.    & T.    Singapore LLP mit externen Untersuchungen beauftragt hatte, war es jedenfalls nicht ermessensfehlerhaft, dass die Beklagte zunächst versuchte, unter Beteiligung der Wirecard AG zu ermitteln und den Sachverhalt aufzuklären. Das Absehen von einer Durchsuchungsmaßnahme nach § 6 Abs. 12 WpHG aF, um Dokumente und Daten sicherzustellen beziehungsweise zu beschlagnahmen, war in diesem (frühen) Verfahrensstadium zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit vertretbar. Hinzukommt, dass sich die Ermittlungen auf Auslandsachverhalte bezogen und es deshalb zweckmäßig war, dass die Beklagte die Aufklärung durch die zuständigen Behörden in Singapur zunächst abwartete, da dort bereits Durchsuchungsmaßnahmen stattgefunden hatten. Zudem war die Prüfung durch die Prüfstelle noch im Gang. Weiterhin ist zugunsten der Beklagten zu berücksichtigen, dass der am aufgestellte Konzernabschluss für das Geschäftsjahr 2018 mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers versehen war. Die Beklagte konnte bei ihrer Entscheidung über das weitere Vorgehen die Bemerkung der E.    & Y.     GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zugrunde legen, dass "sich keine Einwendungen gegen die bilanzielle Behandlung von Sachverhalten auf Grundlage der Erkenntnisse aus Untersuchungen, die aufgrund von Beschuldigungen eines Hinweisgebers in Singapur durchgeführt wurden, ergeben haben" (Anlage K 5 S. 7).

25b) bis Juni 2020

26aa) Die Financial Times warf der Wirecard AG zunächst am (Anlage K 9) und sodann mit zwei am veröffentlichten Artikeln (Anlagen K 10 und K 11) vor, ein Großteil der Zahlungsabwicklungen des mit Gesellschaften in Dubai, Singapur und auf den Philippinen geführten Drittpartnergeschäfts, das zur Hälfte der weltweiten Erträge der Wirecard AG im Jahr 2016 beigetragen habe, habe tatsächlich nicht stattgefunden. Erhebliche Umsätze und Gewinne würden in den Bilanzen nur vorgetäuscht.

27Zutreffend ist, dass die Beklagte keine weitergehenden Ermittlungsmaßnahmen auf den Artikel der Financial Times vom ergriff, sondern erst auf die am veröffentlichten Artikel reagierte und die Prüfstelle anwies, auch diese von der Financial Times erhobenen Vorwürfe bei der laufenden Prüfung zu berücksichtigen.

28bb) Dass die Beklagte den Artikel vom nicht zum Anlass für sofortige weitere Ermittlungsmaßnahmen (z.B. Durchsuchung der Geschäftsräume der Wirecard AG) nahm, war vor dem Hintergrund nicht pflichtwidrig, dass der Abschlussprüfer den Konzernabschluss der Wirecard AG für das Geschäftsjahr 2018 am mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk versehen hatte und zu diesem Zeitpunkt die Auswertung der Untersuchungen der Rechtsanwaltskanzlei R.    & T.    Singapore LLP sowie die Prüfung durch die Prüfstelle noch andauerten. Dabei war auch zu berücksichtigen, dass sich der Artikel vom allein auf das Jahr 2016 bezog und zu den aktuelleren Umsätzen der Drittpartner keine Angaben enthielt.

29Nachdem die Financial Times durch die Artikel vom unter anderem unter Bezugnahme auf interne Dokumente der Wirecard AG ihre Vorwürfe konkretisiert hatte, informierte die Beklagte - neben der Anweisung an die Prüfstelle - gemäß § 11 Satz 1 WpHG die Staatsanwaltschaft München I und bekam von dort die Mitteilung, der Sachverhalt werde geprüft. Damit hatte die Beklagte aber bei ihrem weiteren Vorgehen zu beachten, bei ihren Ermittlungen nicht den Untersuchungszweck von Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden zu gefährden (vgl. § 11 Satz 4 WpHG). Zudem war seit dem durch eine entsprechende Pressemitteilung der Wirecard AG bekannt, dass die K.    AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Auftrag der Wirecard AG eine unabhängige Sonderuntersuchung der von der Financial Times erhobenen Vorwürfe durchführen sollte. Die Entscheidung der Beklagten, diese in dem Zeitraum vom bis zum unter anderem durch Befragungen von Geschäftspartnern der Wirecard AG in deren Räumen in Dubai und auf den Philippinen sowie durch Einsichtnahme von Unterlagen in den Räumen des Abschlussprüfers durchgeführte Sonderuntersuchung (siehe Anlage K 8 S. 3) abzuwarten, war nicht unvertretbar. Zum einen hatte K.    weitergehende Möglichkeiten, die Sachverhalte - wie geschehen - auch im Ausland aufzuklären. Zum anderen hatte K.    Zugriff auf Unterlagen des Abschlussprüfers, den die Beklagte wegen dessen Verschwiegenheitspflicht nach § 6 Abs. 3 Satz 3 WpHG aF i.V.m. § 323 Abs. 1 Satz 1 HGB in dem Maße nicht gehabt hätte.

30c) Nach alledem eröffnete die Beklagte unzweifelhaft Untersuchungen gegen die Wirecard AG auch im Hinblick auf eine mögliche informationsgestützte Marktmanipulation durch unrichtige Angaben in der Finanzberichterstattung und ging den in den Artikeln der Financial Times geäußerten Vorwürfen nach. Sie ergriff - wie ausgeführt - Ermittlungsmaßnahmen, zu denen sie nach der Generalklausel des § 4 WpHG aF beziehungsweise § 6 WpHG aF befugt war, um die in Rede stehenden Sachverhalte aufzuklären. Dass die Beklagte daneben von der Prüfstelle verlangte, den verkürzten Konzernabschluss und den Lagebericht zum zu prüfen, ist für den mit der Klage erhobenen Vorwurf, Ermittlungen im Rahmen der Generalklausel unterlassen zu haben, nicht relevant und war jedenfalls auch auf der Grundlage von § 4 Abs. 11 WpHG aF beziehungsweise § 6 Abs. 17 WpHG aF und § 37o Abs. 3 WpHG aF beziehungsweise § 107 Abs. 4 WpHG aF möglich.

313. Aus den vorstehenden Gründen ist auch die von der Beschwerde als rechtsgrundsätzlich bezeichnete und ihrer Ansicht nach zu einer Vorlage gemäß Art. 267 Abs. 1, 3 AEUV zwingende Frage, ob § 4 Abs. 4 FinDAG im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben der Marktmissbrauchsverordnung, insbesondere aus deren Art. 22, 23 Abs. 3 UAbs. 1, unanwendbar sei, nicht entscheidungserheblich.

32Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:100124BIIIZR57.23.0

Fundstelle(n):
BB 2024 S. 297 Nr. 6
BB 2024 S. 322 Nr. 7
BB 2024 S. 431 Nr. 8
BB 2024 S. 434 Nr. 8
DB 2024 S. 453 Nr. 8
DStR-Aktuell 2024 S. 10 Nr. 5
NWB-Eilnachricht Nr. 6/2024 S. 387
WM 2024 S. 206 Nr. 5
ZIP 2024 S. 292 Nr. 6
ZIP 2024 S. 5 Nr. 5
EAAAJ-57760