BAG Urteil v. - 1 AZR 281/22

Betriebsübergang - Nachwirkung von Kollektivnormen

Leitsatz

Werden die Inhaltsnormen einer Betriebsvereinbarung im Fall eines nicht identitätswahrenden Betriebsübergangs in die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer transformiert, bleibt der kollektive Charakter der Regelungen einschließlich einer vereinbarten Nachwirkung erhalten. Die Bestimmungen können deshalb kollektivrechtlich in gleicher Weise abgeändert werden wie die ursprünglich normativ geltenden Regelungen.

Gesetze: § 242 BGB, § 613a Abs 1 S 1 BGB, § 613a Abs 1 S 2 BGB, § 77 Abs 4 BetrVG, § 77 Abs 6 BetrVG

Instanzenzug: ArbG Bochum Az: 5 Ca 98/21 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen) Az: 18 Sa 1269/21 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger Beihilfen im Krankheitsfall zu gewähren.

2Der Kläger war seit dem bei dem Rechtsvorgänger der Beklagten, dem Rheinisch-Westfälischen Technischen Überwachungs-Verein e. V. (RW TÜV), beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis des Klägers ging im Weg eines Betriebsübergangs auf die Beklagte über.

3Beim RW TÜV galt seit dem eine als „Vereinsordnung“ bezeichnete Gesamtbetriebsvereinbarung vom (VO 1978). Dort heißt es auszugsweise:

4Der Kläger erhielt seit Beginn des Arbeitsverhältnisses Beihilfen zu seinen Krankheitskosten nach den Bestimmungen der VO 1978. Entsprechende Leistungen gewährten die Beklagte und ihr Rechtsvorgänger seit dem Inkrafttreten der Vereinsordnung auch den ausgeschiedenen Arbeitnehmern, soweit es sich um Betriebsrentner handelte.

5Mit Schreiben vom teilte die Personaldienstleisterin der Beklagten deren Betriebsrentnern mit, „die freiwillige Beihilfezahlung in Form einer einmaligen Zahlung erfolg[e] auch weiterhin ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“. Auch für die Zukunft entstünden weder Rechtsanspruch noch Bindungswirkung. „Weiterhin besteh[e] ein Freiwilligkeitsvorbehalt, der eine anspruchsbegründende Übung ausschließ[e].“

6Der Kläger schied mit Ablauf des aus dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten aus und erhält seither Leistungen der betrieblichen Altersversorgung. Die Beklagte gewährte ihm zudem weiterhin Beihilfeleistungen zu seinen Krankheitskosten nach Maßgabe der VO 1978. In den Abrechnungen heißt es jeweils, der Kläger erhalte „ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs einen freiwilligen Zuschuss“. Am wies die Beklagte den Kläger erneut darauf hin, dass ein Anspruch auf Beihilfeleistungen nicht bestehe, weil es sich um freiwillige Leistungen handele.

7Mit Schreiben vom teilte die Beklagte den Betriebsrentnern - darunter auch dem Kläger - mit, dass sie die freiwilligen Beihilfeleistungen mit Ablauf des Jahres 2020 insgesamt einstelle. Am kündigte sie die Regelungen in Teil IV VO 1978 gegenüber dem Gesamtbetriebsrat und den örtlichen Betriebsräten zum .

8Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stehe weiterhin ein Anspruch auf Beihilfen im Krankheitsfall nach Maßgabe von Teil IV VO 1978 aufgrund einer bestehenden betrieblichen Übung zu. Der Anspruch habe lediglich unter der Bedingung gestanden, dass er eine betriebliche Altersversorgung erhalte.

9Der Kläger hat beantragt

10Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die Gewährung von Leistungen an die Betriebsrentner sei stets ohne Rechtsbindungswillen erfolgt. Zudem habe ein Anspruch allenfalls mit dem Eintritt in den Ruhestand entstehen können. Deshalb seien sich aus einer möglichen betrieblichen Übung ergebende Verpflichtungen beim Betriebsübergang nicht auf sie übergegangen. Eine neue betriebliche Übung habe sie nicht begründet. Soweit sie dem Kläger seit Oktober 2017 Beihilfeleistungen gewährt habe, sei dies stets auf freiwilliger Basis erfolgt.

11Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter.

Gründe

12Die zulässige Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben.

13I. Die Klage ist zulässig.

141. Der Antrag ist - wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat - dahingehend auszulegen, dass der Kläger die Feststellung begehrt, die Beklagte habe ihm auch ab dem weiterhin Beihilfeleistungen nach Maßgabe des Teils IV Nr. 34 VO 1978 zu gewähren. Dieses Antragsverständnis hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht ausdrücklich bestätigt.

152. Der so verstandene Antrag genügt den Anforderungen des § 256 Abs. 1 ZPO.

16a) Das vom Kläger geltend gemachte Klagebegehren kann Gegenstand einer Feststellungsklage iSv. § 256 Abs. 1 ZPO sein. Als sog. Elementenfeststellungsklage kann sich eine solche auf einzelne Beziehungen oder Folgen aus einem Rechtsverhältnis, auf bestimmte Ansprüche oder Verpflichtungen oder auf den Umfang einer Leistungspflicht beschränken (st. Rspr., zB  - Rn. 44 mwN; - 5 AZR 529/20 - Rn. 26 mwN).

17b) Dafür besteht auch das erforderliche Feststellungsinteresse. Die Beklagte stellt einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Beihilfen im Krankheitsfall ab dem in Abrede. Die Klage ist geeignet, den Streit der Parteien insgesamt zu beseitigen und das Rechtsverhältnis abschließend zu klären. Da Umfang und Höhe möglicher Beihilfeansprüche zwischen den Parteien nicht streitig sind, steht auch der grundsätzliche Vorrang einer Leistungsklage der Zulässigkeit des Feststellungsantrags nicht entgegen (vgl.  - Rn. 27; - 6 AZR 321/19 - Rn. 19 mwN).

18II. Der Antrag ist begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung von Beihilfen nach Maßgabe von Teil IV Nr. 34 VO 1978 aus betrieblicher Übung.

191. Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Aus einem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen. Dabei ist für die Entstehung eines Anspruchs entscheidend, wie der Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen musste und durfte ( - Rn. 19 mwN). Ob dieser tatsächlich mit einem entsprechenden Verpflichtungswillen gehandelt hat, ist unerheblich. Erbringt der Arbeitgeber die Leistungen erkennbar auf der Basis einer anderen Rechtsgrundlage, können die Arbeitnehmer nicht davon ausgehen, die Gewährung solle auf Dauer unabhängig hiervon erfolgen (vgl.  - Rn. 30 mwN; - 5 AZR 954/12 - Rn. 43 mwN). Will der Arbeitgeber verhindern, dass durch sein mehrfaches Verhalten eine in Zukunft wirkende Bindung entsteht, muss er einen entsprechenden Vorbehalt erklären. Der Vorbehalt muss klar und unmissverständlich kundgetan werden. Der Arbeitgeber ist dabei nicht verpflichtet, den Vorbehalt mit einem bestimmten Inhalt zu formulieren. Es reicht vielmehr aus, dass er sich durch Auslegung des Verhaltens mit Erklärungswert ermitteln lässt ( - Rn. 61 mwN, BAGE 141, 222). Die Beurteilung, ob eine betriebliche Übung entstanden ist und welchen Inhalt sie hat, unterliegt der vollen revisionsrechtlichen Überprüfung ( - Rn. 32 mwN; - 5 AZR 439/17 - Rn. 15 mwN, BAGE 163, 301).

202. In Anwendung dieser Grundsätze ist für den Kläger während seines bestehenden Arbeitsverhältnisses durch betriebliche Übung ein vertraglicher Anspruch entstanden. Danach erhält er auch als Betriebsrentner Beihilfeleistungen nach Maßgabe der für Arbeitnehmer geltenden Bestimmungen.

21a) Der RW TÜV gewährte nicht nur den bei ihm beschäftigten, sondern auch den ausgeschiedenen Arbeitnehmern - soweit sie Anspruch auf betriebliche Altersversorgung hatten - seit Inkrafttreten der VO 1978 Beihilfeleistungen im Krankheitsfall nach Maßgabe der dortigen Regelungen. Dazu war er nicht schon nach der VO 1978 verpflichtet, weil diese - wie ihre Bestimmung über den Geltungsbereich in Teil I Nr. 1 sowie die Regelungen in Teil IV Nr. 34.2 Buchst. b und c zeigen - nur für Arbeitnehmer während des laufenden Arbeitsverhältnisses galt. Aus diesem langjährigen gleichförmigen Verhalten konnten und mussten die Arbeitnehmer ableiten, ihnen würden die Beihilfeleistungen während des Bezugs einer Betriebsrente in gleicher Weise gewährt werden wie im laufenden Arbeitsverhältnis. Sie durften sich daher auch für die Zeit nach ihrem Eintritt in den Ruhestand auf den Erhalt von Beihilfeleistungen im Krankheitsfall nach Maßgabe der für aktive Arbeitnehmer geltenden Regelungen einrichten (vgl. auch  - zu II 4 der Gründe).

22b) Den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts lässt sich nicht entnehmen, dass die Beihilfeleistungen im Krankheitsfall für Betriebsrentner beim RW TÜV ursprünglich unter dem Vorbehalt ihrer Freiwilligkeit erbracht worden wären. Soweit die Beklagte hierzu behauptet hat, die Beihilfe sei an die Betriebsrentner als „jederzeit kündbar[e] und immer mit einem entsprechenden Freiwilligkeitsvorbehalt“ versehene Regelung ausgestaltet gewesen, ist dieser Vortrag unsubstantiiert. Im Übrigen genügte ein bloßer Hinweis auf die freiwillige Gewährung der Leistungen nur dann, wenn sich hieraus das Fehlen jedes Rechtsbindungswillens unzweifelhaft ergäbe. Ein bloßer „Freiwilligkeitsvorbehalt“ kann jedoch auch dahin verstanden werden, dass sich der Arbeitgeber lediglich „freiwillig“ zur Erbringung der Leistung verpflichtet, ohne dazu durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Gesetz gezwungen zu sein (vgl. schon  - zu II 4 c bb (2) der Gründe). Bei einem gleichzeitigen Hinweis auf die Kündbarkeit der Regelung dürfte es zudem an der Eindeutigkeit der arbeitgeberseitigen Erklärung fehlen, er wolle sich nicht rechtlich binden (vgl. zu einer Kombination aus Widerrufs- und Freiwilligkeitsvorbehalt zB  - Rn. 20, BAGE 136, 294).

23c) Der Kläger durfte - auch ohne bereits selbst als Betriebsrentner aufgrund der betrieblichen Übung Beihilfen erhalten zu haben - davon ausgehen, er werde mit Eintritt in den Ruhestand entsprechend begünstigt. Die bindende Wirkung einer betrieblichen Übung tritt auch gegenüber dem Arbeitnehmer ein, der unter der Geltung der Übung im Betrieb gearbeitet, selbst aber die Vergünstigung noch nicht erhalten hat, weil er die nach der Übung vorausgesetzten Bedingungen noch nicht erfüllte. Eine Mitteilung über die an einen bestimmten Personenkreis erfolgten Zahlungen oder gewährten Vergünstigungen gegenüber den übrigen Arbeitnehmern ist dabei ebenso wenig erforderlich wie eine allgemeine Veröffentlichung im Betrieb ( - Rn. 59 mwN, BAGE 141, 222).

24d) Der Entstehung des Anspruchs steht die im „Dienstvertrag“ des Klägers vom vereinbarte Schriftformklausel nicht entgegen. Eine einfache Schriftformklausel, nach der - wie hier - Änderungen und Ergänzungen des Vertrags der Schriftform bedürfen, verhindert eine konkludente Vertragsänderung oder das Entstehen einer betrieblichen Übung nicht. Die Vertragsparteien können das für eine Vertragsänderung vereinbarte Schriftformerfordernis jederzeit schlüssig oder formlos aufheben. Das ist sogar dann möglich, wenn die Vertragsparteien bei ihrer mündlichen Abrede an die Schriftform überhaupt nicht gedacht haben (vgl.  - Rn. 22 mwN; - 10 AZR 526/10 - Rn. 17 mwN, BAGE 139, 156).

253. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die durch betriebliche Übung entstandene Verpflichtung des RW TÜV, dem Kläger nach Eintritt in den Ruhestand Beihilfeleistungen nach Maßgabe der im laufenden Arbeitsverhältnis geltenden Bestimmungen zu gewähren, im Weg des Betriebsübergangs auf sie übergegangen. Da der Anspruch des Klägers bereits während seines bestehenden Arbeitsverhältnisses mit dem Rechtsvorgänger der Beklagten entstanden war, ist er Teil der Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB. Die Beklagte ist deshalb in gleicher Weise an die sich aus der betrieblichen Übung ergebenden Verpflichtungen gebunden wie ihr Rechtsvorgänger (vgl.  - zu III 1 a der Gründe).

264. Der Anspruch des Klägers ist auch später nicht entfallen.

27a) Das Schreiben vom vermochte keinen vertraglichen Freiwilligkeitsvorbehalt für die Zukunft zu begründen. Die Mitteilung, dass die freiwillige Beihilfezahlung „auch weiterhin ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“ erfolge und auch für die Zukunft „weder Rechtsanspruch noch Bindungswille“ entstünden, ist lediglich eine Wiederholung der arbeitgeberseitig bereits für die Vergangenheit vertretenen Rechtsauffassung. Die Empfänger konnten sie deshalb nicht als Willenserklärung verstehen, die auf die Abänderung eines vertraglichen Anspruchs gerichtet gewesen wäre. Abgesehen davon war das Schreiben nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ausschließlich an die Betriebsrentner gerichtet. Der Kläger war zu dem Zeitpunkt aber noch aktiv beschäftigt. Ihm ist das Schreiben auch unstreitig nicht zugegangen. Er hat davon erst im Lauf des Rechtsstreits Kenntnis erhalten.

28b) Anders als die Beklagte meint, ist der Anspruch zudem nicht durch eine sog. gegenläufige betriebliche Übung entfallen, die bereits vor Aufgabe dieser Rechtsfigur durch das Bundesarbeitsgericht (sh. dazu  - Rn. 11 ff., BAGE 130, 21) entstanden wäre. Es fehlt schon an den hierfür erforderlichen Voraussetzungen. Aus diesem Grund kam es nicht darauf an, ob sich die Beklagte - wie von ihr geltend gemacht - mit Erfolg auf Vertrauensschutz hätte berufen können.

29aa) Wollte ein Arbeitgeber die betriebliche Übung einer vorbehaltlosen Gewährung von Leistungen beenden und durch eine Leistung ersetzen, auf die in Zukunft kein Rechtsanspruch mehr besteht, durfte er sich schon nach der früheren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht auf den bloßen Hinweis beschränken, dass es sich um eine freiwillige Leistung handelt. Er musste vielmehr unmissverständlich erklären, die bisherige betriebliche Übung einer vorbehaltlosen Zahlung solle beendet und durch eine Leistung ersetzt werden, auf die in Zukunft kein Rechtsanspruch mehr bestehe. Nur unter dieser Voraussetzung konnte die dreimalige widerspruchslose Entgegennahme der Leistung durch den Arbeitnehmer den Verlust des bindenden Anspruchs bewirken (vgl.  - zu II 4 b bb der Gründe, BAGE 91, 283).

30bb) Daran fehlt es hier. Das Schreiben vom vermochte die betriebliche Übung schon deshalb nicht abzuändern, weil darin lediglich zum Ausdruck gebracht wurde, die Arbeitgeberin werde die Beihilfegewährung „auch weiterhin“ - und damit in gleicher Weise wie zuvor - nur „freiwillig“ und „ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“ leisten. Ungeachtet dessen richtete sich das Schreiben nicht an die Arbeitnehmer, sondern lediglich an die Betriebsrentner.

31c) Die Beklagte hat die Gewährung von Beihilfeleistungen für Betriebsrentner auch nicht mit Ablauf des Jahres 2020 rechtswirksam eingestellt. Ihr Schreiben vom enthält keine Willenserklärung, sondern die bloße Mitteilung, nach Ablauf des Jahres - tatsächlich - keine Beihilfeleistungen mehr zu erbringen, und damit lediglich die Ankündigung einer künftigen Verhaltensänderung.

32d) Der Anspruch des Klägers auf Gewährung von Beihilfeleistungen nach Maßgabe der im laufenden Arbeitsverhältnis geltenden Bestimmungen ist zudem nicht durch die von der Beklagten gegenüber ihrem Gesamtbetriebsrat und den örtlichen Betriebsräten erklärte Kündigung der Beihilferegelungen in Teil IV VO 1978 zum beseitigt worden. Sie hat nicht zur Folge, dass damit die Regelungen in Teil IV Nr. 34 VO 1978 für aktive Arbeitnehmer der Beklagten nicht mehr zur Anwendung gelangen. Zwar ist Teil IV Nr. 34 VO 1978 gesondert kündbar. Die gekündigten Bestimmungen der VO 1978 gelten aber aufgrund der Vereinbarung in Teil I Nr. 3 VO 1978 so lange weiter, bis eine neue Vereinbarung zwischen der Arbeitgeberin und ihrem Gesamtbetriebsrat getroffen ist. Das gilt unabhängig davon, ob die Regelungen der VO 1978 im Zeitpunkt der Kündigung durch die Beklagte bei ihr nach § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG unmittelbar und zwingend wirkten oder infolge des Betriebsübergangs nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in die einzelnen übergegangenen Arbeitsverhältnisse transformiert worden waren. Deshalb ist es unerheblich, dass das Landesarbeitsgericht keine Feststellungen getroffen hat, die die Beurteilung ermöglichten, ob der Betrieb, in dem der Kläger beim RW TÜV beschäftigt war, unter Wahrung seiner Identität auf die Beklagte übergegangen ist.

33aa) Die in einem Betrieb bestehenden Betriebsvereinbarungen gelten auch nach einem Betriebsübergang weiterhin unmittelbar und zwingend iSv. § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG, wenn bei dem Übergang die Identität des Betriebs gewahrt wurde. Bestand bei dem Betriebsveräußerer eine Gesamtbetriebsvereinbarung und geht nur ein Betrieb auf einen bis dahin betriebslosen Betriebserwerber über, gilt sie als Einzelbetriebsvereinbarung fort. Das ist auch der Fall, wenn ein Betrieb unter Wahrung seiner Identität von einem Unternehmen mit mehreren Betrieben übernommen wird und die in der Gesamtbetriebsvereinbarung geregelten Rechte und Pflichten beim aufnehmenden Unternehmen nicht normativ ausgestaltet sind (vgl.  - Rn. 46 ff., BAGE 151, 302).

34bb) Der Betriebserwerber hat in diesen Fällen grundsätzlich die Möglichkeit, die Betriebsvereinbarung nach § 77 Abs. 5 BetrVG zu kündigen. Unterliegen die in der Betriebsvereinbarung geregelten Angelegenheiten der erzwingbaren Mitbestimmung, wirken ihre Bestimmungen nach § 77 Abs. 6 BetrVG nach. Handelt es sich hingegen um eine Betriebsvereinbarung über finanzielle Leistungen des Arbeitgebers, die ohne eine vertragliche oder sonstige rechtliche Verpflichtung erbracht werden, und will der Betriebserwerber diese Leistungen vollständig und ersatzlos einstellen, tritt von Gesetzes wegen keine Nachwirkung ein (vgl.  - zu II A 2 der Gründe). Da der Arbeitgeber bei solchen teilmitbestimmten Betriebsvereinbarungen den Dotierungsrahmen mitbestimmungsfrei vorgeben kann, kann er auch über die Einstellung dieser Leistungen einseitig entscheiden. Nur für die Ausgestaltung, also für den Verteilungs- und Leistungsplan, benötigt er nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG die Zustimmung des Betriebsrats (vgl.  - Rn. 19, BAGE 135, 382). Allerdings können die Betriebsparteien die Nachwirkung auch einer teilmitbestimmten Betriebsvereinbarung vereinbaren und damit die gleiche Rechtslage schaffen, die im Bereich der erzwingbaren Mitbestimmung ausdrücklich vorgesehen ist. Eine derartige Vereinbarung ist regelmäßig dahingehend auszulegen, dass ihr eine Konfliktlösungsmöglichkeit innewohnt, die der gesetzlichen im Fall der erzwingbaren Mitbestimmung entspricht. Scheitern die Verhandlungen der Betriebsparteien über eine einvernehmliche Neuregelung, kann deshalb jeder von ihnen die Einigungsstelle anrufen, die dann verbindlich entscheiden kann (vgl.  - zu B II 2 b der Gründe, BAGE 88, 298).

35cc) Diese Grundsätze gelten auch, wenn die Betriebsvereinbarung - wie im Ausgangsfall die VO 1978 - mehrere unterschiedliche Angelegenheiten regelt, die zu einem Teil der erzwingbaren Mitbestimmung unterliegen und zu einem anderen Teil nur teilmitbestimmt oder freiwillig sind. Eine solche Betriebsvereinbarung kann - selbst ungeachtet ausdrücklicher Vereinbarungen - teilweise gekündigt werden, wenn der gekündigte Teil einen selbständigen Regelungskomplex betrifft, der auch in einer eigenständigen Betriebsvereinbarung hätte geregelt werden können (vgl. dazu  - Rn. 30, BAGE 124, 314). Den Betriebsparteien steht es frei, für die gekündigten Regelungskomplexe eine nicht von Gesetzes wegen eingreifende Nachwirkung zu vereinbaren (vgl. zur Nachwirkung in solchen Fällen  - Rn. 18). Auch eine solche Vereinbarung ist regelmäßig so zu verstehen, dass in den Fällen, in denen zwischen ihnen keine Einigung zustande kommt, die Einigungsstelle angerufen werden kann, die dann verbindlich entscheidet.

36dd) Danach hätte die von der Beklagten erklärte Kündigung der in Teil IV Nr. 34 VO 1978 geregelten - teilmitbestimmt ausgestalteten - Beihilfeleistungen im Fall einer normativen Fortgeltung der „Vereinsordnung“ im Betrieb der Beklagten nicht dazu geführt, dass die Regelungen für aktive Arbeitnehmer entfallen wären. Zwar war die Teilkündigung dieser - einen eigenständigen Regelungskomplex bildenden - Bestimmungen nach Teil I Nr. 2.2 VO 1978 ausdrücklich zulässig. Sie wirken aber nach Maßgabe von Teil I Nr. 3 VO 1978 nach.

37(1) Die Betriebsparteien der VO 1978 haben in deren Teil I Nr. 3 die Nachwirkung vereinbart. Diese Regelung erfasst auch den Fall, dass die „Vereinsordnung“ nicht insgesamt, sondern - wie hier - nur teilweise gekündigt wird.

38(a) Das ergibt sich allerdings nicht schon eindeutig aus der sprachlichen Fassung von Teil I Nr. 3 VO 1978. Danach gelten die Bestimmungen der Vereinsordnung über den Zeitpunkt weiter, in dem die Vereinsordnung endet, „bis eine neue Vereinbarung zwischen Vorstand und Gesamtbetriebsrat getroffen ist“. Während die Formulierungen „Bestimmungen der Vereinsordnung“ und „neue Vereinbarung“ darauf hindeuten, dass bei einer teilweisen Kündigung der VO 1978 auch die jeweiligen Normen des betroffenen Regelungskomplexes nachwirken sollen, erfasst die Formulierung „in welchem die Vereinsordnung endet“ ihrem reinen Wortlaut nach nur den Fall ihrer vollständigen Kündigung.

39(b) Der systematische Zusammenhang mit der Regelung in Teil I Nr. 2.2, nach der auch nur Teile der Vereinsordnung gekündigt werden können, spricht jedoch dafür, Teil I Nr. 3 VO 1978 auch anzuwenden, wenn nur - selbständig kündbare - Teile der VO 1978 enden. Die Norm regelt - im unmittelbaren Anschluss an die Vereinbarungen zu „Inkrafttreten und Kündigung“ - die näheren Maßgaben zur Weitergeltung der „Bestimmungen der Vereinsordnung“ über deren Ende hinaus. Da die VO 1978 aber nach ihrem Teil I Nr. 2.2 sowohl im Ganzen als auch nur in Teilen gekündigt werden kann, ist die Regelung zur Nachwirkung auch ohne ausdrückliche Klarstellung dahingehend zu verstehen, dass sie ebenfalls beide Fälle der Beendigung umfasst.

40(c) Dieses Verständnis entspricht auch Sinn und Zweck von Teil I Nr. 3 VO 1978. Die vereinbarte Nachwirkung soll den Eintritt eines ungeregelten Zustands vermeiden. Vor dem Hintergrund dieser Zielrichtung bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, die Betriebsparteien hätten die Fälle der vollständigen und der teilweisen Kündigung der VO 1978 unterschiedlich regeln wollen.

41(2) Die Nachwirkung der Bestimmungen von Teil IV Nr. 34 VO 1978 ist bislang nicht beendet worden. Es fehlt an einer ablösenden Vereinbarung mit der zuständigen Arbeitnehmervertretung. Die fehlende Einigung der Betriebsparteien ist auch nicht durch den Spruch einer Einigungsstelle ersetzt worden.

42ee) Die Teilkündigung der VO 1978 durch die Beklagte hätte auch dann nicht zum Wegfall der in diesem Fall nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformierten Inhaltsnormen in Teil IV Nr. 34 VO 1978 geführt, wenn der Betrieb nicht identitätswahrend auf sie übergegangen wäre.

43(1) Bleibt die Betriebsidentität bei einem Betriebsübergang nicht erhalten, werden die Inhaltsnormen einer Betriebsvereinbarung nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in die Arbeitsverhältnisse der übergehenden Arbeitnehmer transformiert. Dadurch werden die transformierten Normen nicht Bestandteil der arbeitsvertraglichen Vereinbarungen zwischen dem vom Betriebsübergang erfassten Arbeitnehmer und dem Betriebserwerber, sondern ihr kollektivrechtlicher Charakter bleibt erhalten. Die als „Inhalt des Arbeitsverhältnisses“ fortwirkenden Inhaltsnormen der Betriebsvereinbarung werden daher mit dem - jeder kollektivrechtlichen Norm innewohnenden - Vorbehalt ihrer nachfolgenden Abänderbarkeit mit kollektivrechtlichen Mitteln transformiert ( - Rn. 16 mwN, BAGE 168, 337). Dies hat zur Folge, dass der Betriebserwerber die transformierten Normen gegenüber dem zuständigen Gremium der Arbeitnehmervertretung kündigen kann (vgl. für eine teilmitbestimmte Betriebsvereinbarung  - Rn. 18 mwN, aaO). Allerdings gelten die gekündigten Normen wegen ihres kollektivrechtlichen Charakters so weiter, wie sie im Fall eines normativen Fortbestands im Erwerberbetrieb gegolten hätten (vgl. für den Ausschluss der Nachwirkung bei Tarifverträgen  - Rn. 84, BAGE 130, 237). Dies gebieten Sinn und Zweck von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. Die Norm soll den Bestand der kollektivrechtlichen Regelungen bei einem Betriebsübergang schützen (vgl. BT-Drs. 8/3317 S. 11) und verhindern, dass sich die vor dem Betriebsübergang bestehende kollektivrechtliche Rechtsposition der Arbeitnehmer durch den Betriebsübergang verschlechtert. Haben die Betriebsparteien daher für teilmitbestimmte Regelungen einer Betriebsvereinbarung deren Nachwirkung vereinbart, kommt diese - einschließlich der damit verbundenen kollektivrechtlichen Möglichkeit ihrer Beendigung - auch im Fall einer Transformation der betreffenden Inhaltsnormen nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zum Tragen.

44(2) Damit konnte die Beklagte die Regelungen in Teil IV Nr. 34 VO 1978 zwar auch im Fall ihrer Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB kündigen. Die gekündigten Bestimmungen würden im fortbestehenden Arbeitsverhältnis aber weitergelten, weil sie weder einvernehmlich noch durch Spruch der Einigungsstelle geändert oder beseitigt wurden.

45III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2023:190923.U.1AZR281.22.0

Fundstelle(n):
BB 2024 S. 307 Nr. 6
DB 2024 S. 532 Nr. 9
ZIP 2024 S. 365 Nr. 7
CAAAJ-57726