Online-Nachricht - Dienstag, 02.01.2024

Kindergeld | Berechtigung trotz möglichen Verstoßes gegen das MiLoG (FG)

Ein möglicher Verstoß des Arbeitgebers gegen arbeitnehmerschützende Vorschriften (hier: Mindestlohngesetz - MiLoG) kann nicht zur Versagung von Kindergeld für einen freizügigkeitsberechtigten EU-Staatsangehörigen in Deutschland führen. Auch eigene strafrechtliche Verurteilungen des Arbeitnehmers allein würden nicht dazu führen, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt werden kann (, rechtskräftig).

Sachverhalt: Der Kläger ist südosteuropäischer EU-Staatsangehöriger und der leibliche Vater eines Kindes, für das er seit März 2016 Kindergeld erhält. Das Kind ist bei der Mutter in Südosteuropa, wo auch der Kläger lebt, wenn er nicht Deutschland arbeitet. Der Kläger ist seit April 2014 in Deutschland nichtselbständig tätig und lebt in der Zeit seiner Arbeitstätigkeit in einem Wohncontainer, welchen die Arbeitgeberin zur Verfügung stellt. Ein schriftlicher Mietvertrag liegt nicht vor. Als Entgelt für die Nutzung wird pauschal vom Lohn ein Abzug vorgenommen. In welcher Höhe, ist nicht bekannt. Der Kläger erhält von der Arbeitgeberin keine Lohnabrechnungen. Die wöchentliche Arbeitszeit des Klägers liegt bei mindestens acht Stunden pro Tag bei einer Sieben-Tage-Woche. In den Monaten, in denen sich der Kläger in Südosteuropa aufhält, hat er seiner Arbeitgeberin keine Miete zu zahlen, da er in diesen Monaten auch keinen Arbeitslohn (Urlaubsentgelt) erhält und auch bei der Sozialversicherung (Versicherung) abgemeldet wird.

Die beklagte Familienkasse (Beklagte) hob die Kindergeldfestsetzung von Januar 2019 bis einschließlich April 2020 sowie von Februar bis Dezember 2021 auf und forderte überzahltes Kindergeld i.H. von 3.326,80 € zurück. Die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit als Arbeitnehmer stelle keine Beschäftigung im Sinne der VO Nr. 883/2004 dar, da es sich um ein illegales Beschäftigungsverhältnis handele, mit dessen Durchführung Straf- und Ordnungswidrigkeiten begangen würden. Der Kläger erhob gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid erfolglos Einspruch.

Das FG gab der Klage statt:

  • Der Kläger ist als freizügigkeitsberechtigter Staatsangehöriger eines anderen EU-Mitgliedstaates nach den nationalen Vorschriften kindergeldberechtigt. Freizügigkeitsberechtigt ist ein Staatsangehöriger eines anderen EU-Mitgliedstaates nach Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland, wenn er Arbeitnehmer ist oder sich zur Berufsausbildung im Inland aufhält. Vorliegend ist der Kläger Arbeitnehmer gewesen und während seines gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland unstreitig einer nichtselbständigen Arbeit nachgegangen.

  • Dass in diesem Arbeitsverhältnis möglicherweise gegen das Mindestlohngesetz verstoßen worden ist und sich die Arbeitgeberin - nach Auffassung der Beklagten - nach § 266a StGB strafbar gemacht haben könnte, ändert daran nichts. Schon vom Schutzzweck der genannten Vorschriften - nämlich die Interessen des Arbeitnehmers zu wahren - ist es nicht zulässig, den Kläger bei (möglichen) Rechtsverstößen seiner Arbeitgeberin durch die Aberkennung der Kindergeldberechtigung zu sanktionieren. Ist die Beklagte daher davon überzeugt, dass der Arbeitgeberin entsprechende Rechtsverstöße anzulasten sind, hat sie den Sachverhalt näher aufzuklären und/oder durch Mitteilung an die zuständigen Behörden im Rahmen der §§ 30 und 31a Abgabenordnung für eine Verfolgung der Arbeitgeberin zu sorgen (z.B. § 14 MiLoG).

  • In den Streitzeiträumen besteht eine Konkurrenzsituation mit südosteuropäischen Familienleistungen. Die sich daraus ergebene Anspruchskumulierung ist nach Art. 68 VO Nr. 883/2004 (sog. Grundverordnung) dahingehend aufzulösen, dass Deutschland die Familienleistungen als vorrangig zuständiger EU-Mitgliedsstaat nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 883/2004 zu erbringen hat.

  • Ist nämlich der persönliche und sachliche Geltungsbereich der Grundverordnung eröffnet und liegen konkurrierende Ansprüche in deren Sinne vor, dann sind die Ansprüche ausschließlich nach Art. 68 VO Nr. 883/2004 zu koordinieren.

  • Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG vorrangig. Der Kläger unterliegt in den streitigen Monaten gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO i.V.m. Art. 1 Buchst. a Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften Deutschlands als dem Beschäftigungsstaat. Wie bereits oben ausgeführt kann ein möglicher Verstoß der Arbeitgeberin gegen arbeitnehmerschützende Vorschriften nicht zur Versagung von Familienleistungen in Deutschland führen. Deutschland bleibt vorrangig zuständiger EU-Mitgliedsstaat.

  • Auch kann die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU nur aufgrund des Ordre-Public-Vorbehalts in Art. 45 Abs. 3 AEUV eingeschränkt werden. Selbst strafrechtliche Verurteilungen des Arbeitnehmers allein sind dafür nicht ausreichend. Gemäß Art. 27 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (RL 2004/38) i.V.m. § 6 Abs. 2 FreizügG/EU dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt.

  • Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Unter Anwendung dieser Maßstäbe ist ein Rechtsverlust des Klägers, der weder strafrechtlich verurteilt noch einer Straftat verdächtig ist, nicht zu begründen. Wie bereits ausgeführt, wird auch von der Beklagten ein Tatvorwurf nicht gegen den Kläger, sondern gegen seine Arbeitgeberin erhoben. Dem wird die Beklagte im Weiteren mit den geeigneten Maßnahmen nachzugehen haben.

Hinweis:

Die Entscheidung ist rechtskräftig. Die unter dem Aktenzeichen III R 12/23 beim BFH eingelegte Revision wurde zurückgenommen.

Quelle: FG Baden-Württemberg, Newsletter 2/2023 v. (il)

Fundstelle(n):
AAAAJ-55868