BFH Beschluss v. - VIII B 110/22

Terminverlegung bei dauerhafter Erkrankung

Leitsatz

NV: Ist der Kläger aufgrund einer länger andauernden (psychischen) Erkrankung, die durch entsprechendes ärztliches Attest belegt ist, gehindert, mit seinem Bevollmächtigten in der Weise zu kommunizieren, dass diesem ein fundierter Vortrag möglich ist, darf das Finanzgericht einen Terminverlegungsantrag nicht ohne vorherige weitere Sachverhaltsermittlungen zur Art und Intensität der Erkrankung sowie gegebenenfalls der Prozessfähigkeit des Klägers ablehnen.

Gesetze: FGO § 65 Abs. 2 Satz 2; FGO § 79b Abs. 1 Satz 1; ZPO § 227 Abs. 1;

Instanzenzug:

Tatbestand

I.

1 Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Einkommensteuerbescheide der Streitjahre 2001 bis 2008. Das Verfahren befindet sich im zweiten Rechtsgang.

2 Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erzielte in den Streitjahren unter anderem Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und aus Kapitalvermögen. Für die Streitjahre 2001 bis 2003 erklärte der Kläger außerdem Verluste aus Gewerbebetrieb und Verluste aus Vermietung und Verpachtung. Da der Kläger für die Streitjahre 2001 bis 2006 keine vollständigen und für die Streitjahre 2007 und 2008 keine Steuererklärungen abgegeben hatte, legte der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) den Veranlagungen zur Einkommensteuer der Streitjahre Schätzungen der Einkünfte des Klägers zugrunde. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhob der Kläger, vertreten durch seine seinerzeitige Prozessbevollmächtigte, Klage vor dem Finanzgericht (FG), die im ersten Rechtsgang unter dem Aktenzeichen 13 K 175/12 geführt wurde. Bei Erhebung der Klage führte der Kläger aus, dass er aufgrund eines schwerwiegenden Unfalls dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt sei und die Klagebegründung deshalb zunächst nicht vorlegen könne. Der Kläger stellte in der Folge mehrfach Fristverlängerungsanträge für die Begründung der Klage, die er jeweils mit seinem schlechten Gesundheitszustand begründete. Den zuletzt am gestellten Fristverlängerungsantrag lehnte das FG ab und bestimmte mit Ladungsverfügung vom den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den . Die seinerzeitige Prozessbevollmächtigte teilte dem FG in der Folge mit, dass sie die Prozessvollmacht „mit sofortiger Wirkung widerrufe“. Der Kläger beantragte daraufhin unter Vorlage eines ärztlichen Attests, den Gerichtstermin am aufzuheben, was das FG ablehnte. In der mündlichen Verhandlung am erschien der Kläger nicht. Das FG wies die Klage durch Urteil vom ab. Auf die hiergegen erhobene Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hob der IX. Senat des im Verfahren IX B 44/14 das Urteil des FG wegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auf und verwies den Rechtsstreit an das FG zurück.

3 Das Verfahren wurde sodann im zweiten Rechtsgang fortgeführt. Das FG setzte dem Kläger mit Schreiben vom eine Frist nach § 79b Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren sich der Kläger beschwert fühle, sowie eine Frist nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO i.V.m. § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO zur Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens. Dieses Schreiben wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragte in der Folge mehrfach Verlängerungen der gesetzten Ausschlussfristen, die er mit der langanhaltenden psychischen Erkrankung des Klägers infolge des von diesem erlittenen Unfalls begründete. Durch Beschluss vom ordnete das FG mit Zustimmung der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens bis zu einer Besserung des Gesundheitszustands des Klägers an. Am und am erörterte der zuständige Berichterstatter die Sach- und Rechtslage mit dem Prozessbevollmächtigten des Klägers und dem FA. Der Berichterstatter wies in diesem Zusammenhang auf die beabsichtigte Wiederaufnahme des Verfahrens sowie auf die Möglichkeit hin, dass das FG dem Kläger einen Prozesspfleger nach § 57 der Zivilprozessordnung (ZPO) bestellen und der Kläger seinerseits beim zuständigen Betreuungsgericht die Bestellung eines Betreuers nach § 1896 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in der im Jahr 2022 geltenden Fassung (a.F.) beantragen könne.

4 Mit Verfügung vom nahm das FG das Verfahren unter dem neuen Aktenzeichen 13 K 683/22 wieder auf und verlängerte mit Schreiben vom selben Tag die gesetzten Ausschlussfristen bis zum . Der Prozessbevollmächtigte beantragte daraufhin im Hinblick auf die schwerwiegende Erkrankung des Klägers eine weitere Verlängerung der Ausschlussfristen jedenfalls bis zum . Das FG bestimmte mit Verfügung vom den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den und lehnte die beantragte Fristverlängerung ab. Mit Schreiben vom beantragte der Prozessbevollmächtigte des Klägers unter Vorlage eines auf den datierten ärztlichen Attests über den Gesundheitszustand des Klägers erneut die Verlängerung der Ausschlussfristen sowie die Aufhebung des Termins zur mündlichen Verhandlung. In dem ärztlichen Attest ist ausgeführt, der Kläger sei unter anderem wegen einer schweren rezidivierenden depressiven Störung und chronischer Suizidalität „nicht dazu in der Lage, an einem Gerichtsverfahren teilzunehmen, an der Begründung der Klage mitzuwirken oder Dritte damit zu instruieren“. Nach Ablehnung auch dieses Terminverlegungs- und Fristverlängerungsantrags durch Verfügung des Vorsitzenden des fand am die mündliche Verhandlung im Beisein des Prozessbevollmächtigten des Klägers statt. Im Termin beantragte der Prozessbevollmächtigte für den Kläger abermals eine Vertagung unter Hinweis auf den Inhalt des ärztlichen Attests vom . Das FG schloss die mündliche Verhandlung mit der Verkündung des Beschlusses, dass eine Entscheidung an die Beteiligten zugestellt werde.

5 Mit Urteil vom wies das FG die Klage ab. Zur Begründung führte das FG aus, dass die Klage unzulässig und im Übrigen auch unbegründet sei. Das FG verwies darauf, dass erhebliche Gründe für eine Verlegung beziehungsweise für eine Vertagung der mündlichen Verhandlung oder für eine Verlängerung der dem Kläger gesetzten Ausschlussfristen nicht vorgelegen hätten. Hierzu führte das FG insbesondere aus, dass durch die Gewährung der Möglichkeit, für diesen einen Prozesspfleger nach § 57 ZPO zu bestellen oder den Kläger selbst einen Betreuer nach § 1896 BGB a.F. bestellen zu lassen, dem Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör genüge getan worden sei, zumal der Kläger durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten gewesen sei. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebiete es nicht, im Falle der Erkrankung eines Beteiligten die Entscheidung über den Rechtsstreit auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben, zumal im vorliegenden Fall völlig ungewiss sei, ob überhaupt jemals wieder eine Besserung des Gesundheitszustands des Klägers eintreten werde.

6 Mit seiner gegen das Urteil erhobenen Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger eine Verletzung des rechtlichen Gehörs.

Gründe

II.

7 Die Beschwerde ist begründet.

8 Das FG hat den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 119 Nr. 3 FGO und Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) verletzt, indem es trotz des gestellten Terminverlegungsantrags am die mündliche Verhandlung durchgeführt und eine verfahrensabschließende Entscheidung getroffen hat. Hierin liegt ein Verfahrensmangel gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, auf dem das Urteil des FG beruhen kann. Der Senat hält es für sachgerecht, das Urteil des FG gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und den Streitfall zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

9 1. Das FG hat den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es nach Ablehnung des Terminverlegungsantrags des Klägers mündlich verhandelt und in der Sache entschieden hat.

10 a) Einem Verfahrensbeteiligten wird das rechtliche Gehör zu Unrecht versagt, wenn das Gericht mündlich verhandelt und in der Sache entscheidet, obwohl der Beteiligte einen Antrag auf Terminverlegung gestellt und dafür nach den Umständen des Falls, insbesondere dem Prozessstoff oder den persönlichen Verhältnissen des Beteiligten beziehungsweise seines Prozessbevollmächtigten, erhebliche Gründe geltend und glaubhaft gemacht hat (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 ZPO). Zu diesen erheblichen Gründen gehört auch die krankheitsbedingte Verhinderung (vgl. , BFH/NV 2021, 1361, Rz 4). Dabei kann allerdings die Erkrankung des Beteiligten selbst, der —wie im Streitfall— einen Bevollmächtigten bestellt hat und damit fachkundig vertreten ist, nur in Ausnahmefällen eine Terminverlegung rechtfertigen (vgl. BFH-Beschlüsse vom  - III B 12/13, BFH/NV 2014, 1581; vom  - X B 174/13, BFH/NV 2014, 1725; vom  - I B 16, 17/16, BFH/NV 2017, 466; vom  - VIII B 58/18, BFH/NV 2019, 571; vom  - IV B 11/18, BFH/NV 2019, 1136).

11 b) Im Streitfall hätte das FG den Terminverlegungsantrag des Klägers nicht ohne weitere Sachverhaltsermittlungen zum Gesundheitszustand und der Prozessfähigkeit des Klägers ablehnen dürfen. Der Kläger war nach Wiederaufnahme des Verfahrens am aufgrund seiner schweren psychischen Erkrankung weder in der Lage, selbst das Klagebegehren zu bezeichnen noch mit seinem Bevollmächtigten in der Weise zu kommunizieren, dass diesem ein fundierter Vortrag möglich war, noch an der mündlichen Verhandlung am teilzunehmen. Dies hat der Kläger durch Vorlage des fachärztlichen Attests vom , das substantiierte Ausführungen zur Schwere seiner Erkrankung und seiner hierdurch bedingten Verhandlungsunfähigkeit enthält, glaubhaft gemacht. Das FG durfte einen erheblichen Grund für eine Verlegung beziehungsweise für eine Vertagung der mündlichen Verhandlung nicht mit der Begründung verneinen, dass ungewiss sei, ob überhaupt jemals wieder eine Besserung des Gesundheitszustands des Klägers eintreten würde. Das FG hätte sich im Gegenteil genauere Sachkenntnis von der weiteren Dauer der psychischen Erkrankung des Klägers verschaffen müssen, dies auch vor dem Hintergrund, dass die Prozessfähigkeit eines Beteiligten von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen ist (vgl. , BFH/NV 2002, 651; , BFH/NV 2006, 94). Der Grundsatz rechtlichen Gehörs gebietet es, dass sich das Gericht, zum Beispiel durch Anhörung des behandelnden Arztes oder gegebenenfalls eines Amtsarztes, ein genaueres Bild von der Art und Intensität der gesundheitlichen Beeinträchtigung verschafft. Denn nur bei genauer Kenntnis der Art und Intensität der Erkrankung lässt sich beurteilen, ob eine weitere Vertagung zweckmäßig sein kann —zum Beispiel weil eine Stabilisierung des Gesundheitszustands in einem vertretbaren Zeitrahmen vorstellbar ist— oder ob auf unabsehbare Zeit mit einer Mitwirkung des Klägers an der Aufklärung des Sachverhalts nicht gerechnet werden kann (, BFH/NV 2017, 466, Rz 14), so dass weitere prozessuale Maßnahmen seitens des FG erforderlich sind. Zu diesen weiteren Maßnahmen gehört auch, dass das FG selbst prüft, ob aufgrund der Umstände eine Tätigkeit des Betreuungsgerichts erforderlich ist und deshalb gemäß § 22a des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) eine Mitteilungspflicht gegenüber dem Betreuungsgericht besteht oder ob es die Einleitung eines Betreuungsverfahrens nach § 24 FamFG anregt. Die Bestellung eines Prozesspflegers nach § 57 ZPO kommt demgegenüber nicht in Betracht, da sich die Vorschrift des § 57 ZPO darin erschöpft, dem Kläger einen prozessfähigen Gegner gegenüberzustellen, damit er seinen Anspruch geltend machen kann (, BFH/NV 2016, 1044, Rz 14, m.w.N.).

12 An dieser Beurteilung ändert es nichts, dass der Kläger in der Vergangenheit offenkundig seinen steuerlichen Mitwirkungspflichten nicht vollständig nachgekommen ist und das FA deshalb gehalten war, die angefochtenen Bescheide auf der Grundlage von Schätzungen zu erlassen. Das FG hat mit Schreiben vom die bereits zu einem früheren Zeitpunkt gesetzten Ausschlussfristen nach § 65 Abs. 2 Satz 2, § 79b Abs. 1 Satz 1 FGO letztmalig bis zum verlängert und dem Kläger damit insbesondere Gelegenheit geben wollen, sein Klagebegehren zu bezeichnen. Waren aber weder der Kläger persönlich (aus gesundheitlichen Gründen) noch der bestellte Prozessbevollmächtigte (wegen fehlender Möglichkeit zur fachlichen Kommunikation mit dem Kläger) in der Lage, diese Gelegenheit wahrzunehmen, hätte das FG auch unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens prüfen müssen, ob es sich dabei um ein nur vorübergehendes Hindernis handelte (vgl. , BFH/NV 2017, 466, Rz 15).

13 2. Mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung und Entscheidung des Streitfalls hat das FG somit den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Auf diesem Verfahrensfehler beruht die Vorentscheidung. Wenn eine mündliche Verhandlung trotz des Terminverlegungsantrags eines Beteiligten, dem das FG hätte nachkommen müssen, verfahrensfehlerhaft durchgeführt wird, betrifft dieser Mangel das Gesamtergebnis des Verfahrens (BFH-Beschlüsse vom  - X B 13/20, BFH/NV 2020, 900, Rz 29, 30; vom  - VIII B 144/22, BFH/NV 2023, 859, Rz 7).

14 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2023:B.311023.VIIIB110.22.0

Fundstelle(n):
BFH/NV 2024 S. 22 Nr. 1
JAAAJ-52524