BGH Beschluss v. - AK 57/23

Gründe

I.

1Der Beschuldigte ist am vorläufig festgenommen worden und befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom Folgetag (2 BGs 373/23) seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft.

2Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe sich in der Zeit von Ende 2013 bis mindestens 2015 als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung im Ausland - dem sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) - beteiligt, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) und Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder 12 VStGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB.

II.

3Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

41. Der Beschuldigte ist der ihm im Haftbefehl vorgeworfenen Tat dringend verdächtig.

5a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines solchen Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

6aa) Der IS ist eine Organisation mit militant-fundamentalistischer islamischer Ausrichtung, die es sich ursprünglich zum Ziel gesetzt hatte, einen das Gebiet des heutigen Irak und die historische Region „ash-Sham“ - die heutigen Staaten Syrien, Libanon und Jordanien sowie Palästina - umfassenden und auf ihrer Ideologie gründenden „Gottesstaat“ unter Geltung der Scharia zu errichten und dazu das Regime des syrischen Präsidenten Assad und die schiitisch dominierte Regierung im Irak zu stürzen. Zivile Opfer nahm und nimmt sie bei ihrem fortgesetzten Kampf im Kauf, weil sie jeden, der sich ihren Ansprüchen entgegenstellt, als „Feind des Islam“ begreift; die Tötung solcher „Feinde“ oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte sieht der IS als legitimes Mittel des Kampfes an.

7Die Vereinigung, die sich mit der Ausrufung des „Kalifats“ am aus „Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien“ (ISIG) in „Islamischer Staat“ (IS) umbenannte, wodurch sie von der territorialen Selbstbeschränkung Abstand nahm, wurde von 2010 bis zu seinem Tod Ende Oktober 2019 durch Abu Bakr al-Baghdadi geführt. Bei der Ausrufung des Kalifats erklärte der Sprecher des IS ihn zum „Kalifen“, dem die Muslime weltweit Gehorsam zu leisten hätten. Auch die nachfolgenden Anführer des IS wurden und werden durch dessen Mitglieder als „Kalifen“ bezeichnet.

8Dem jeweiligen Anführer unterstanden ein Stellvertreter sowie „Minister“ als Verantwortliche für einzelne Bereiche, so ein „Kriegsminister“ und ein „Propagandaminister“. Zur Führungsebene gehörten außerdem beratende „Shura-Räte“. Veröffentlichungen wurden von eigenen Medienstellen produziert und verbreitet. Das auch von den Kampfeinheiten verwendete Symbol der Vereinigung besteht aus dem „Prophetensiegel“ (einem weißen Oval mit der Inschrift „Allah - Rasul - Mohammad“) auf schwarzem Grund, überschrieben mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Die zeitweilig über mehrere Tausend Kämpfer waren dem „Kriegsminister“ unterstellt und in lokale Kampfeinheiten mit jeweils einem Kommandeur gegliedert.

9Die Vereinigung teilte von ihr besetzte Gebiete in Gouvernements ein und richtete einen Geheimdienstapparat ein; diese Maßnahmen zielten auf die Schaffung totalitärer staatlicher Strukturen. Angehörige der irakischen und syrischen Armee, aber auch von in Gegnerschaft zum IS stehenden Oppositionsgruppen, ausländische Journalisten und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen sowie Zivilisten, die den Herrschaftsbereich des IS in Frage stellten, sahen sich der Verhaftung, Folter und der Hinrichtung ausgesetzt. Filmaufnahmen von besonders grausamen Tötungen wurden mehrfach vom IS zu Zwecken der Einschüchterung veröffentlicht. Darüber hinaus begeht er Massaker an Zivilisten und außerhalb seines Machtbereichs Terroranschläge. So übernahm er für Anschläge in Europa, etwa in Paris, Brüssel und Berlin, die Verantwortung.

10Im Jahr 2014 gelang es dem IS, große Teile der Staatsterritorien von Syrien und dem Irak zu besetzen. Er kontrollierte die aneinander angrenzenden Gebiete Ostsyriens und des Nordwestiraks. Ab dem Jahr 2015 geriet die Vereinigung militärisch zunehmend unter Druck und musste schrittweise massive territoriale Verluste hinnehmen. Im August 2017 wurde sie aus ihrer letzten nordirakischen Hochburg in Tal Afar verdrängt. Im März 2019 galt der IS - nach der Einnahme des von seinen Kämpfern gehaltenen ostsyrischen Baghouz - sowohl im Irak als auch in Syrien als militärisch besiegt, ohne dass allerdings die Vereinigung als solche zerschlagen wäre.

11bb) Der Beschuldigte trat Ende des Jahres 2013 dem IS bei, dem er zu einem nicht genau bekannten Zeitpunkt öffentlich die Treue schwor, und gehörte ihm jedenfalls bis zu seiner Flucht aus Syrien (frühestens im Jahr 2015) an.

12Er war Mitglied einer Kampfeinheit, welche die Macht des IS in dem im Süden von Damaskus gelegenen Stadtteil H.           sicherte, und nahm - mit einer Kalaschnikow bewaffnet - regelmäßig an Patrouillen teil.

13Diese Einheit entführte gegnerische Kämpfer sowie andere missliebige Personen und richtete sie auch hin. So erschoss sie am mindestens elf Menschen, von denen die meisten für die Freie Syrische Armee (FSA) gekämpft hatten. Auch enthaupteten schwarz gekleidete und vermummte Angehörige der Einheit am vor der Moschee              zwei gefesselte, wehrlos auf dem Boden liegende Tatopfer; das Hinrichtungsgeschehen wurde gefilmt und die Aufnahmen zu propagandistischen Zwecken weiterverbreitet.

14b) Der Beschuldigte hat gegenüber den Strafverfolgungsbehörden bisher keine Angaben gemacht.

15aa) Den dringenden Tatverdacht stützen bereits die Angaben von mehr als einem Dutzend Zeugen, die von seiner Mitgliedschaft beim IS berichten.

16Auch wenn die Protokolle über fünf Zeugenvernehmungen, die zwischen dem und dem stattgefunden hatten, der Verteidigerin nicht vorliegen, sind sie für die Haftprüfungsentscheidung heranzuziehen. Vier der Niederschriften können erst zur Akte gelangt sein, nachdem ihr am letztmalig Einsicht in diese gewährt worden ist. Ausdrücklich darauf hinweisen, dass weitere Beweisergebnisse aktenkundig geworden sind, musste der Generalbundesanwalt ohnehin nicht - anders als ein Tatgericht nach Erlass des Eröffnungsbeschlusses (vgl. dazu , BGHR StPO § 1 Hinweispflicht 8). Denn dem Ermittlungsverfahren ist es immanent, dass fortlaufend be- und entlastende Erkenntnisse zusammengetragen werden.

17Soweit die Verteidigerin in ihrer Stellungnahme vom Zweifel an den Angaben mehrerer Zeugen geäußert und (vermeintliche) Ungereimtheiten aufgezeigt hat, rechtfertigt dies keine abweichende Bewertung des dringenden Tatverdachts. Eine ins Einzelne gehende Analyse solcher Äußerungsinhalte auf ihren Wahrheitsgehalt hin bleibt einer etwaigen Hauptverhandlung vorbehalten. Im jetzigen Stadium des Verfahrens ist sie weder rechtlich geboten noch tatsächlich möglich (vgl. BGH, Beschlüsse vom - AK 34/23, juris Rn. 25; vom - AK 63/19, juris Rn. 18).

18bb) Überdies werden die Angaben der Zeugen bestätigt durch die Auswertung beim Beschuldigten sichergestellter Asservate, Ermittlungen bei E-Mail-Dienstleistern und in sozialen Netzwerken sowie überwachte Telefongespräche. Exemplarisch haben mehrere Zeugen dem Beschuldigten die Kunya „      “ zugeordnet. Bestätigt wird dies durch den Umstand, dass er bei mehreren Telefonaten mit diesem Namen angesprochen wurde und die Auswertung des bei seiner illegalen Einreise bei ihm sichergestellten Mobiltelefons ergeben hat, dass er unter anderem die E-Mail-Adresse                       nutzte und diese mit zahlreichen Internetdiensten verknüpfte.

19cc) Wegen der Einzelheiten der Verdachtslage wird auf den Haftbefehl vom sowie den ausführlichen Vermerk des Bundeskriminalamts vom verwiesen.

20c) In rechtlicher Hinsicht ist der Beschuldigte dringend verdächtig der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB), indem er sich mit hoher Wahrscheinlichkeit dem IS anschloss und sich durch seine Patrouillengänge an ihm beteiligte (vgl. zu den Anforderungen BGH, Beschlüsse vom - AK 31/22, juris Rn. 21 ff.; vom - AK 14/22, juris Rn. 28 ff.; vom - AK 18/22, juris Rn. 5 ff.).

21Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts folgt aus § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB, weil der Beschuldigte im Inland festgenommen worden ist, die Tat auch in Syrien - als Anschluss an eine terroristische Organisation gemäß Art. 1 und 3 des syrischen Anti-Terror-Gesetzes Nr. 19 vom - mit Strafe bedroht ist und ein Auslieferungsverkehr mit Syrien derzeit nicht stattfindet (s. zum Ganzen , juris Rn. 41 mwN). Die Voraussetzungen des § 129b Abs. 1 Satz 2 Variante 4 StGB sind ebenfalls erfüllt.

22Die nach § 129b Abs. 1 Satz 2 und 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur Strafverfolgung liegt vor.

232. Es bestehen die Haftgründe der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. nur , BVerfGE 19, 342, 350 f.) - der Schwerkriminalität.

24Der Beschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung mit einer erheblichen Haftstrafe zu rechnen. Von der Straferwartung geht ein ganz erheblicher Fluchtanreiz aus, der sich jedenfalls regelmäßig nach der prognostisch tatsächlich zu verbüßenden Strafhaft richtet (zur sog. Nettostraferwartung s. , juris Rn. 9; BeckOK StPO/Krauß, 48. Ed., § 112 Rn. 29 f.). Der danach zu stellenden Prognose ist zugrunde zu legen, dass der Regelstrafrahmen eines Verbrechens der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland im Mindestmaß Freiheitsstrafe von einem Jahr vorsieht. Auch mit Blick auf den Umstand, dass es sich beim IS um eine jedenfalls im Tatzeitraum besonders gefährliche und grausam vorgehende terroristische Vereinigung handelte, was im besonderen Maße für die Kampfeinheit zutrifft, welcher der Beschuldigte angehörte, und er sich an der Organisation über einen langen Zeitraum beteiligte, dürfte die ihm drohende Strafe nicht mehr im unteren Bereich des bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe reichenden Strafrahmens liegen.

25Bei dieser Sachlage stellen die Umstände, dass sich der Beschuldigte, der in einer niedersächsischen Asylbewerberunterkunft gemeldet ist und über keine Arbeitsstelle verfügt, zuletzt weit überwiegend in der Wohnung seiner Brüder in N.               aufhielt, keine maßgeblich fluchthindernden Tatsachen dar.

26Zwar blieb der Beschuldigte auch noch dort, als die Durchsuchungen seiner Wohnanschrift und der seiner Brüder am ihm offenbarten, dass die Strafverfolgungsbehörden gegen ihn ermittelten. Dass er die sich hieran anschließenden zwölf Tage in Freiheit nicht dazu nutzte, sich dem drohenden Strafverfahren zu entziehen, ist - entgegen der Ansicht der Verteidigung - weder ein Indiz für seine Unschuld, noch spricht es entscheidend gegen eine Fluchtgefahr. Die etwaigen Auswirkungen einer Haftstrafe stehen ihm erst seit seiner Festnahme aufgrund der Inhaftierung konkret vor Augen (vgl. , juris Rn. 24).

27Insgesamt ist es wahrscheinlicher, dass sich der Beschuldigte - sollte er auf freien Fuß gelangen - dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm stellen wird. Dies begründet erst recht die für den Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO ausreichende Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne seine weitere Inhaftierung vereitelt werden könnte (vgl. u.a., juris Rn. 40).

28Der Zweck der Untersuchungshaft kann unter den gegebenen Umständen nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO - die bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO möglich sind - erreicht werden.

293. Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Die besonderen Schwierigkeiten und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft. Die elektronische Zweitakte umfasst am annähernd 3.700 Dateien mit einer Gesamtgröße von 7,77 Gigabyte.

30Das Ermittlungsverfahren ist, auch nach der vorläufigen Festnahme des Beschuldigten am , mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden. Anlässlich seiner Ergreifung haben, wie schon zuvor am , Durchsuchungen stattgefunden, bei denen insgesamt 43 Asservate sichergestellt worden sind, darunter 18 elektronische mit einer Gesamtdatenmenge von ungefähr 550 Gigabyte, deren Durchsicht, Auslesung und Auswertung weitgehend abgeschlossen ist. Überdies sind, auch nach dem , zahlreiche Zeugen vernommen worden, bis zum insgesamt 77 (zum Teil mehrfach).

31Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Zuschrift des Generalbundesanwalts vom Bezug genommen.

324. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht derzeit nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:051023BAK57.23.0

Fundstelle(n):
PAAAJ-51015