BVerfG Urteil v. - 2 BvQ 184/23

Teilweise erfolgreicher Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in einem Räumungsprozess - Verletzung des Willkürverbots durch Unterlassen weiterer Tatsachenaufklärung bzgl Prozessfähigkeit nicht offensichtlich ausgeschlossen - Folgenabwägung

Gesetze: Art 3 Abs 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 56 Abs 1 ZPO, § 765a Abs 1 S 1 ZPO

Instanzenzug: LG München I Az: 35 O 8569/18 Entscheidungvorgehend LG München I Az: 35 O 8569/18 Beschlussvorgehend LG München I Az: 35 O 9111/20 Versäumnisurteil

Gründe

11. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

2Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte angeführt werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier also die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 <255>; 99, 57 <66>; stRspr).

32. Nach diesen Maßstäben hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung insoweit Erfolg, als sich die Antragsteller gegen die Entscheidung des 1507 M 7038/23 - wenden, wonach die Vollstreckung nicht wegen Prozessunfähigkeit des Antragstellers zu 3. einzustellen sei. Insoweit ist die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

4a) Die Prozessunfähigkeit des Räumungsschuldners ist ein Verfahrenshindernis in der Zwangsvollstreckung ( -, juris, Rn. 8). Die Feststellung mangelnder Prozessfähigkeit setzt voraus, dass alle verfügbaren Beweismittel ausgeschöpft sind. Die Frage, ob eine bestimmte sich anbietende Erkenntnismöglichkeit ungenutzt bleiben darf, bedarf einer besonders sorgfältigen Prüfung (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 577/13 -, Rn. 12 m.w.N.).

5b) Das Amtsgericht hat sich - nachdem es zunächst erhebliche Zweifel an der Prozessfähigkeit des Antragstellers zu 3. geäußert hatte - zur Begründung, wieso es nunmehr von einer Prozessfähigkeit ausgehe, allein darauf bezogen, dass der Antragsteller zu 3. den Schriftsatz vom mitunterzeichnet habe. Allerdings legen die Verfahrensgeschichte und der Schriftsatz selbst mehr als nahe, dass sämtliche Schriftsätze vom Antragsteller zu 1. verfasst wurden und die anderen Antragsteller die Schriftsätze nur mitunterschrieben haben, ohne irgendwelchen inhaltlichen Einfluss auf sie zu nehmen. Angesichts dessen ist eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG durch die insoweit unterlassene weitere Tatsachenaufklärung zur etwaigen Prozessunfähigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 577/13 -, Rn. 9 ff.) nicht offensichtlich ausgeschlossen.

6c) Über den Antrag des Antragstellers zu 3. auf einstweilige Anordnung ist deshalb nach Maßgabe einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese fällt zugunsten des Antragstellers zu 3. aus.

7Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, wäre die Räumung zulasten des Antragstellers zu 3. auf Grundlage einer verfassungswidrigen Versagung von Rechtsschutz im Erinnerungsverfahren erfolgt. Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung, bliebe die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde aber später ohne Erfolg, so verzögerte sich der Räumungstermin voraussichtlich nur um wenige Monate. Dies wiegt insgesamt weniger schwer als die dem Antragsteller zu 3. drohenden Nachteile.

83. Im Übrigen hat der Antrag keinen Erfolg. Insbesondere haben die Antragsteller eine Gefährdung ihres unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht entsprechend § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG hinreichend dargetan, sodass die noch einzureichende Verfassungsbeschwerde unzulässig wäre. Das Amtsgericht hat insoweit richtig gesehen, dass die Antragsteller die behauptete Lebensgefahr im Zusammenhang mit der Räumung in keiner Weise durch ärztliche Atteste substantiiert haben.

94. Gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG wurde wegen der besonderen Dringlichkeit im Hinblick auf den kurzfristig bevorstehenden Räumungstermin davon abgesehen, den Begünstigten des Ausgangsverfahrens und weiteren Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu geben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2023:qk20231004.2bvq018423

Fundstelle(n):
WM 2023 S. 2024 Nr. 43
BAAAJ-50107