BGH Beschluss v. - 2 StR 88/22

Tatrichterliche Feststellungen zur verminderten Schuldfähigkeit des Täters

Gesetze: § 21 StGB

Instanzenzug: LG Frankfurt Az: 5/17 KLs 10/21

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung, Nötigung und unbefugter Herstellung einer Bildaufnahme unter Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs, versuchter Nötigung, Besitz und Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von Patronenmunition, Verschaffens falscher amtlicher Ausweise in zwei tateinheitlichen Fällen, unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln und unbefugten Zugänglichmachens von Bildaufnahmen unter Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten verurteilt. Außerdem hat es Einziehungs- und Adhäsionsentscheidungen getroffen. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

21. Die Schuldsprüche in den Fällen II. 2 sowie II. 4 bis II. 6 der Urteilsgründe halten rechtlicher Nachprüfung stand. Demgegenüber ist der Schuldspruch im Fall II. 1 der Urteilsgründe zu ergänzen; dies hat aus konkurrenzrechtlichen Gründen den Wegfall des Schuldspruchs im Fall II. 3 der Urteilsgründe zur Folge.

3a) Das Landgericht hat bei seinem Schuldspruch zu Fall II. 1 der Urteilsgründe zunächst nicht bedacht, dass der Angeklagte bei seinem Vorgehen gegen die Nebenklägerin am auch eine von ihm regelmäßig mit sich geführte geladene Pistole des Herstellers ISSC, Kaliber .22lr zum Einsatz brachte und sich insoweit tateinheitlich auch wegen Besitzes und Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von Patronenmunition sowie auch wegen Besitzes von Patronenmunition strafbar gemacht hat.

4b) Es hat darüber hinaus nicht in Betracht gezogen, dass es sich bei einer der zwei im Fall II. 3 der Urteilsgründe am sichergestellten „Selbstladepistolen des Herstellers ISSC, Modell M22, Kaliber .22lr“ um diejenige handeln könnte, die der Angeklagte am im Hotelzimmer verwendete. Konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben sich aus der Baugleichheit der Schusswaffen sowie aus der Feststellung des Landgerichts im Fall II. 1 der Urteilsgründe, der Angeklagte habe das Schlafzimmer des Appartements verlassen und die geladene Pistole geholt, „die er regelmäßig mit sich führte und zuvor irgendwo im Appartement gelagert hatte“. Zu Gunsten des Angeklagten geht der Senat deshalb, auch um jede Beschwer auszuschließen, davon aus, dass es sich um dieselbe Pistole handelte, die der Angeklagte im Fall II. 1 sowie im Fall II. 3 der Urteilsgründe bei sich führte. Dies hat zur Folge, dass sich die Tat II. 3 der Urteilsgründe als Teil des Dauerdelikts des Besitzes und Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe bzw. des Besitzes von Patronenmunition darstellt (vgl. Heinrich, MK-StGB, 4. Aufl., § 52 WaffG, Rn. 167) und deshalb zu entfallen hat.

5c) Dies führt zur entsprechenden Schuldspruchänderung. § 265 StPO steht nicht entgegen, da sich der Angeklagte nicht erfolgversprechender hätte verteidigen können.

62. Die Schuldspruchänderung führt zum Entfallen des Strafausspruchs im Fall II. 3 und zur Aufhebung des Strafausspruchs im Fall II. 1 der Urteilsgründe, dessen Unrechtsgehalt sich nunmehr erhöht hat. Der neue Tatrichter ist deshalb nicht gehindert, eine höhere Einzelstrafe festzusetzen; diese darf allerdings wegen des Verschlechterungsverbots (§ 358 Abs. 2 StPO) die Summe der beiden bisherigen Einzelstrafen nicht überschreiten (vgl. Gericke, KK, StPO, 9. Aufl., § 359, Rn. 30). Zudem führt dies zur Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe.

73. Die übrigen Einzelfreiheitsstrafen halten mit Ausnahme der Einzelstrafe zu Fall II. 2 der Urteilsgründe rechtlicher Nachprüfung stand. Diese hingegen begegnet mit Blick auf die Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

8a) Das Landgericht hat im Hinblick auf den Alkoholkonsum des Angeklagten das Vorliegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung und einer dadurch bedingten erheblichen Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens ausgeschlossen. Es hat mit Hilfe eines Sachverständigen unter Zugrundelegung der Angaben des Angeklagten zu seinem Alkoholkonsum und bezogen auf das lang gestreckte Tatgeschehen zwischen 2.00 Uhr nachts und 8.00 Uhr morgens Blutalkoholkonzentrationen ausgerechnet, die zwischen 4,09 Promille maximal und 0,02 Promille minimal liegen. Diese Blutalkoholwerte führen nach der Wertung eines weiteren Sachverständigen, dem sich das Landgericht anschließt, nicht zu einer tatrelevanten Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit. Die errechneten Blutalkoholkonzentrationen zwischen 0,3 Promille (für einen Tatzeitpunkt um 6.35 Uhr) und über 4 Promille seien wenig aussagekräftig. Die maximalen Promillewerte seien lediglich theoretischer Natur und hätten überdies letale Folgen gehabt. Die minimalen Werte zwischen 0,30 und 1,22 Promille erschienen zudem derart gering, dass von vornherein ein forensisch relevanter Einfluss ausscheide. Im Ergebnis liege kein Eingangsmerkmal vor, da keinerlei Ausfallerscheinungen festzustellen seien. Weder nach der Darstellung der Nebenklägerin noch derjenigen des Angeklagten seien Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass ein vorangegangener Konsum ursächlich für das strafrechtlich relevante Verhalten des Angeklagten geworden sei. Aus psychiatrischer Sicht sei der tatauslösende Faktor im Verhalten der Nebenklägerin zu suchen, die seinem Ansinnen, weiteren Alkohol zu trinken, nicht nachgekommen sei. Gegen einen tatrelevanten Einfluss spreche auch das Leistungsverhalten des Angeklagten, der in einem komplexen Geschehensablauf, der sich über mehrere Stunden hingezogen habe, auf geänderte Situationen reagiert habe.

9b) Diese Schuldfähigkeitsbeurteilung durch das Landgericht hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie lässt schon nicht erkennen, welche Blutalkoholkonzentration das Landgericht seiner Beurteilung letztlich zugrunde gelegt hat. Soweit die Strafkammer den Angaben des Angeklagten zu dem von ihm behaupteten Alkoholkonsum nicht (vollständig) folgt, sondern nur den Konsum berücksichtigt, der von der Nebenklägerin bestätigt wird, bedeutet dies zwar, dass sich die vom Sachverständigen errechneten maximalen Blutalkoholkonzentrationen auf jeden Fall reduzieren. Welche Blutalkoholkonzentration sich auf der Grundlage des tatsächlich angenommenen Konsums aber ergibt, lässt sich den Berechnungen in den Urteilsgründen, die auf den vom Angeklagten behaupteten Konsum abstellen, nicht entnehmen. Nimmt man aber allein nur die von der Nebenklägerin bestätigten Trinkmengen des Angeklagten, die das Urteil mit über 180 Gramm Alkohol angibt, führt dies zu einer deutlichen Alkoholisierung, die sich im Bereich einer im Sinne von § 21 StGB relevanten Blutalkoholkonzentration bewegt. Auf der Grundlage der Angaben der Nebenklägerin durfte das Landgericht nicht von einer darauf gestützten Berechnung der Blutalkoholkonzentration absehen (vgl. , NStZ 2020, 473).

10Unterlässt es der Tatrichter, sich eine eigene Überzeugung von der Blutalkoholkonzentration eines Angeklagten zu verschaffen, obwohl es ihm möglich wäre, erweisen sie die von ihm im Übrigen angestellten Erwägungen zur Prüfung der Schuldfähigkeit jedenfalls dann als unzureichend, wenn, wie hier, eine erhebliche Alkoholisierung inmitten steht. Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss (BGHSt 43, 66, 72f.; 57, 247, 250), ist der im Einzelfall festzustellende Wert doch immerhin ein gewichtiges Beweisanzeichen für eine erhebliche alkoholische Beeinflussung. Maßgeblich für die Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, ist dementsprechend eine Gesamtwürdigung, in die sowohl die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch psychodiagnostische Kriterien einzustellen sind (st. Rspr.; vgl. etwa Senat, Urteil vom - 2 StR 115/15, NStZ-RR 2016, 103). Dementsprechend greifen die Überlegungen des Landgerichts hier zu kurz; die Strafkammer hätte nicht nur auf das Fehlen von Ausfallerscheinungen und das Leistungsverhalten des Angeklagten abstellen dürfen, sondern hätte jeweils die entsprechende Blutalkoholkonzentration zu den Tatzeitpunkten berücksichtigen müssen. Überdies ist zu besorgen, dass das Landgericht den Beweiswert des Leistungsverhaltens des Angeklagten, der auf veränderte Umstände reagiert habe, überbewertet hat. Das Hemmungsvermögen eines Täters darf - was die Strafkammer möglicherweise verkannt hat - nicht mit zweckrationalem Handeln gleichgesetzt werden. Auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden (vgl. , StV 2023, 381).

11c) Die Sache bedarf unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen neuer Verhandlung und Entscheidung. Da der Senat ausschließen kann, dass der Angeklagte im schuldunfähigem Zustand gehandelt hat, bleibt der Schuldspruch von der Aufhebung unberührt. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass der neue Tatrichter im Rahmen einer umfassenden Gesamtbewertung zu erwägen und zu prüfen hat, ob gegebenenfalls die festgestellte histrionische Persönlichkeit mit dissozialen und narzisstischen Anteilen des Angeklagten im Zusammenhang mit einer bestehenden Alkoholisierung zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit geführt hat (vgl. zur umfassenden Gesamtbetrachtung , StV 2022, 83 m. Nachw. z. st. Rspr.).

124. Rechtsfehlerhaft ist auch die Einziehung des „Snapchatvideos“ “s.             “. Es handelt sich dabei nicht um eine (unbewegliche oder bewegliche) Sache oder ein Recht und damit nicht um einen einziehungsfähigen Gegenstand im Sinne des § 74 StGB (vgl. Senat, Beschluss vom - 2 StR 529/19). Die Einziehung hat zu entfallen.

135. Auch die Adhäsionsentscheidung weist Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.

14a) Das Landgericht hat im Tenor festgestellt, dass der Angeklagte verpflichtet ist, der Nebenklägerin alle aus den strafbaren Handlungen erwachsenen materiellen Schäden zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungs- oder andere Leistungsträger übergegangen sind. Ein Feststellungsinteresse hat es hingegen nur im Hinblick auf künftige materielle Schäden begründet, ohne sich mit der Frage zu befassen, ob ein solches auch im Hinblick auf bereits entstandene Schäden besteht. Dies versteht sich hier trotz noch nicht abgeschlossener Schadensabwicklung auch nicht von selbst (vgl. Senat, Beschluss vom - 2 StR 466/21), da die Nebenklägerin einen materiellen Schaden in Höhe von 131,90 € beziffert und in der Begründung ihres Adhäsionsantrags auch nicht geltend gemacht hat, es seien bereits weitere materielle Schäden entstanden, die noch nicht beziffert werden könnten.

15b) Die Urteilsformel ist entsprechend der Anregung des Generalbundesanwalts dahingehend zu ergänzen, dass die Ansprüche auf Zahlung des Schmerzensgeldes und des Ersatzes der materiellen Schäden auf einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung beruhen.

16Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass der neue Tatrichter im Hinblick auf die Dauer des Revisionsverfahrens eine Kompensationsentscheidung wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung zu treffen haben wird.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:200723B2STR88.22.0

Fundstelle(n):
XAAAJ-48660