BVerwG Urteil v. - 4 CN 10/21

Beeinträchtigungsverbot als Ziel der Raumordnung

Leitsatz

Das Verbot, die Nahversorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich eines Vorhabens wesentlich zu beeinträchtigen, ist als Ziel der Raumordnung unzulässig.

Gesetze: § 1 Abs 4 BauGB

Instanzenzug: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Az: 3 S 559/19 Urteil

Tatbestand

1Die Antragstellerin, eine Gemeinde, wendet sich gegen einen Bebauungsplan ihrer Nachbargemeinde, der die Grundlage für einen großflächigen Lebensmitteleinzelhandel schafft. Sie fürchtet Nachteile für die Nahversorgung.

2Antragstellerin und Antragsgegnerin, Gemeinden mit knapp 2 000 und knapp 3 000 Einwohnern, bilden mit der Gemeinde Aglasterhausen den Gemeindeverwaltungsverband Kleiner Odenwald. Im Einheitlichen Regionalplan Rhein-Neckar vom (ERP) ist Aglasterhausen als Kleinzentrum eingestuft. Antragstellerin und Antragsgegnerin haben keine zentralörtliche Funktion. Das Einzelhandelsangebot auf dem Gebiet der Antragstellerin besteht im Wesentlichen aus einem ehrenamtlich betriebenen und finanziell von der Gemeinde gestützten Bürgermarkt mit einer Verkaufsfläche von 240 qm und einem Jahresumsatz von etwa 600 000 €.

3Auf dem Gebiet der Antragsgegnerin ist der Einzelhandel im Plangebiet konzentriert. Den dort vorhandenen Gebäudekomplex nutzten zunächst ein kleinflächiger Lebensmittelmarkt, ein Getränkemarkt und eine Drogerie sowie Dienstleistungsbetriebe. Vor Beschluss des angegriffenen Bebauungsplans waren der Getränkemarkt und die Drogerie aufgegeben worden, die Antragstellerin befürchtete den Wegzug des Lebensmittelmarktes.

4Der im März 2018 bekannt gemachte Bebauungsplan "Ortsmitte - 3. Änderung" soll die Ansiedlung eines großflächigen Lebensmittelmarktes ermöglichen. Er setzt für das Plangebiet als Art der baulichen Nutzung ein sonstiges Sondergebiet - Nahversorgungszentrum - fest, das vorwiegend der Unterbringung von Einzelhandels- und Dienstleistungsbetrieben für die örtliche Nah- und Grundversorgung dient. Zulässig ist u. a. ein Lebensmittelmarkt mit einer Verkaufsfläche von maximal 1 200 qm, der Verkaufsflächenanteil für Drogeriewaren und/oder Nicht-Lebensmittel muss mindestens 20 % betragen. Zulässig ist auch ein selbständiger Backshop mit maximal 40 qm Verkaufsfläche, wenn die gesamte Verkaufsfläche 1 200 qm nicht überschreitet.

5Im Juni 2019 genehmigte das Landratsamt die Errichtung eines Lebensmittelmarktes. Über den dagegen erhobenen Widerspruch der Antragstellerin ist noch nicht entschieden. Ein Antrag auf Eilrechtsschutz blieb erfolglos ( - juris). Der Markt ist inzwischen errichtet und in Betrieb.

6Der Verwaltungsgerichtshof hat die Unwirksamkeit des Bebauungsplans festgestellt. Der Plan sei wegen eines Verstoßes gegen § 1 Abs. 4 BauGB insgesamt unwirksam. Er sei an die Ziele der Raumordnung nicht angepasst, weil er den Zentralitätsgeboten aus Nr. 3.3.7 (Z) des Landesentwicklungsplans (LEP) und Nr. 1.7.2.2 (Z) ERP widerspreche. Die Antragsgegnerin habe keine zentralörtliche Funktion. Eine Ausnahme von diesem Gebot scheide aus, weil die Planung nicht - wie raumordnungsrechtlich gefordert - die übrigen Zielvorgaben zur Steuerung des großflächigen Einzelhandels beachte. Wegen möglicher Auswirkungen auf den Bürgermarkt im Gebiet der Antragstellerin könne von einer Beachtung des Beeinträchtigungsverbots (Nr. 3.3.7.1 Satz 2 und Nr. 3.3.7.2 Satz 1 <Z> LEP sowie Nr. 1.7.2.4 <Z> ERP) nicht ausgegangen werden. Die verbleibende Prognoseunsicherheit gehe zu Lasten der Antragsgegnerin.

7Die Revision macht geltend, das Verbot, die Nahversorgung einer Nachbargemeinde wesentlich zu beeinträchtigen, sei keine raumordnungsrechtliche Regelung. Dies gelte jedenfalls, wenn die Nachbargemeinde kein zentraler Ort sei. Zudem dürfe es nicht zu Lasten der planenden Gemeinde gehen, wenn eine wesentliche Beeinträchtigung der Nahversorgung nicht festgestellt werde, sondern sich lediglich nicht ausschließen lasse.

8Die Antragstellerin verteidigt die vorinstanzliche Entscheidung. Nach ihrer Auffassung steht das Beeinträchtigungsverbot dem Plan entgegen, weil der Lebensmittelmarkt den Bürgermarkt und damit die Nahversorgung ihrer älteren, nicht mobilen Bevölkerung wesentlich beeinträchtige.

Gründe

9Die Revision ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die tatrichterlichen Feststellungen lassen nicht den Schluss zu, dass der Bebauungsplan gegen § 1 Abs. 4 BauGB verstößt.

101. Nach § 1 Abs. 4 BauGB sind die Bauleitpläne den Zielen der Raumordnung anzupassen. Das landesplanerisch festgesetzte Zentralitätsgebot ist ein solches Ziel der Raumordnung. Es verbietet grundsätzlich die Ansiedlung eines großflächigen Einzelhandelsbetriebes auf dem Gebiet der Antragsgegnerin. Davon geht der Verwaltungsgerichtshof zutreffend aus.

11Ziele der Raumordnung sind nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG verbindliche Vorgaben in Form von räumlich und sachlich bestimmten oder bestimmbaren, vom Träger der Raumordnung abschließend abgewogenen textlichen oder zeichnerischen Festlegungen in Raumordnungsplänen zur Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Raums. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 ROG sind in Raumordnungsplänen für einen bestimmten Planungsraum und einen regelmäßig mittelfristigen Zeitraum Festlegungen als Ziele und Grundsätze der Raumordnung zur Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Raums zu treffen. Ziele und Grundsätze sind nach § 7 Abs. 1 Satz 4 ROG als solche zu benennen. Ob eine raumordnerische Vorgabe die Qualität eines Ziels hat, hängt nicht von ihrer Bezeichnung ab, sondern richtet sich nach ihrem materiellen Gehalt ( 4 CN 20.02 - BVerwGE 119, 54 <59> und vom - 4 A 15.20 - NVwZ 2023, 678 Rn. 52).

12Landesplanerische Festlegungen für die Antragsgegnerin trifft der Einheitliche Regionalplan Rhein-Neckar (ERP) als länderübergreifender Teilflächenplan (§ 13 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 ROG). Nach Nr. 1.7.2.2 Abs. 1 (Z) ERP (Zentralitätsgebot) sind Einzelhandelsgroßprojekte in der Regel nur in den Ober-, Mittel- sowie in Baden-Württemberg in den Unterzentren zulässig. Dieser Plansatz ist nach seinem materiellen Gehalt ein Ziel der Raumordnung. Davon geht der Verwaltungsgerichtshof ohne Verstoß gegen revisibles Recht aus. Dass die landesplanerische Aussage im Weiteren eine Regel-Ausnahme-Struktur aufweist, steht ihrer Einordnung als Ziel der Raumordnung nicht entgegen. Denn eine landesplanerische Aussage mit einer solchen Struktur kann ein Ziel der Raumordnung sein, wenn der Planungsträger neben den Regel- auch die Ausnahmevoraussetzungen mit hinreichender tatbestandlicher Bestimmtheit oder doch wenigstens Bestimmbarkeit selbst festlegt ( 4 CN 20.02 - BVerwGE 119, 54 <60>).

13Der geplante Lebensmitteleinzelhandel mit einer Verkaufsfläche von 1 200 qm ist ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb ( 4 C 10.04 - BVerwGE 124, 364 <366 f., 371, 374> und vom - 4 C 1.16 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 220 Rn. 10 f.) und damit ein Einzelhandelsgroßprojekt. Er ist nach Nr. 1.7.2.2 Abs. 1 (Z) ERP auf dem Gebiet der Antragsgegnerin unzulässig, weil diese keine zentralörtliche Funktion wahrnimmt, auch nicht als Unterzentrum.

14Nr. 3.3.7 Satz 1 (Z) LEP als Zielaussage des landesweiten Raumordnungsplans nach § 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ROG stimmt mit Nr. 1.7.2.2 Abs. 1 (Z) ERP überein, so dass aus dieser Vorschrift nichts Abweichendes folgt.

152. Der Bebauungsplan ist an das Zentralitätsgebot als Ziel der Raumordnung nur angepasst im Sinne des § 1 Abs. 4 BauGB, wenn die Antragsgegnerin sich auf die Ausnahme der Nr. 1.7.2.2 Abs. 2 (Z) ERP berufen kann. Nach dieser Vorschrift kommen für Einzelhandelsgroßprojekte andere Standortgemeinden in Betracht, wenn dies ausschließlich zur Sicherung der Nahversorgung geboten ist und keine negativen Auswirkungen auf Ziele der Raumordnung zu erwarten sind. Die Nr. 1.7.2.3 (Z) ERP (Kongruenzgebot), Nr. 1.7.2.4 (Z) ERP (Beeinträchtigungsverbot) und Nr. 1.7.2.5 (Z) ERP (Integrationsgebot) gelten entsprechend. Diese Ausnahmeregelung konkretisiert nach der für die auf die Revision ergehende Entscheidung gemäß § 173 Satz 1 VwGO und § 560 ZPO maßgebenden Auslegung des Verwaltungsgerichtshofs die Anforderung der Nr. 3.3.7 Satz 2 1. Spiegelstrich (Z) LEP, die eine Ausnahme gestattet, wenn dies nach den raumstrukturellen Gegebenheiten zur Sicherung der Grundversorgung geboten ist.

16Der Verwaltungsgerichtshof hat eine Ausnahme für ausgeschlossen gehalten, weil das Vorhaben mit dem als Beeinträchtigungsverbot bezeichneten Plansatz Nr. 1.7.2.4 (Z) ERP nicht in Einklang stehe. Dies steht mit Bundesrecht nicht in Einklang. Der Plansatz verbietet u. a., die Nahversorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich wesentlich zu beeinträchtigen (a). Die Festlegung überschreitet die Regelungsbefugnis der Raumordnung (b). Sie ist als raumordnungsrechtliches Ziel auch unzulässig, wenn sie - wie hier - eine Ausnahme zum Zentralitätsgebot beschränkt (c).

17a) Nach Nr. 1.7.2.4 (Z) ERP dürfen Einzelhandelsgroßprojekte - erstens - die städtebauliche Entwicklung, Ordnung und Funktionsfähigkeit der Stadt- und Ortskerne der Standortgemeinde, - zweitens - anderer Zentraler Orte sowie - drittens - die Nahversorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich nicht wesentlich beeinträchtigen. Der Plansatz Nr. 1.7.2.4 (Z) ERP errichtet damit drei voneinander zu unterscheidende Beeinträchtigungsverbote. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich nur zum dritten Verbot geäußert und eine wesentliche Beeinträchtigung der Nahversorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich angenommen. Das Verbot ist nach seiner Auffassung verletzt, wenn die Geschäftsaufgabe eines raumordnungsrechtlich nicht unbeachtlichen, für eine Gemeinde wesentlichen Betriebs der Grund- und Nahversorgung droht. Der Landesentwicklungsplan regelt nichts Anderes. Denn Nr. 1.7.2.4 (Z) ERP stimmt nach der für den Senat bindenden Auffassung der Vorinstanz mit den Beeinträchtigungsverboten in Nr. 3.3.7.1 Satz 2 (Z) und Nr. 3.3.7.2 (Z) LEP überein.

18b) Das auf die Nahversorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich bezogene Beeinträchtigungsverbot ist als Ziel der Raumordnung unzulässig, wenn ein Bezug zum System Zentraler Orte fehlt. Davon geht der Verwaltungsgerichtshof zutreffend aus (UA S. 31) (ähnlich Schmitz, ZfBR 2015, 124 <127>; Runkel, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Oktober 2022, § 1 Rn. 59; ders., in: Spannowsky/Runkel/Goppel, ROG, 2. Aufl. 2018, § 4 Rn. 193; zweifelnd Kuschnerus/Bischopink/Wirth, Der standortgerechte Einzelhandel, 2. Aufl. 2018, Rn. 471; weitergehend Uechtritz, in: Steger/Bunzel <Hrsg.>, Raumordnungsplanung quo vadis?, 2012, 103 <125>; a. A. möglicherweise Grotefels, in: Kment, ROG, 2019, § 13 Rn. 118).

19Ein so formuliertes Beeinträchtigungsverbot überschreitet die durch Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG eröffnete Kompetenz für das Raumordnungsrecht. Raumordnung ist die zusammenfassende, übergeordnete Planung und Ordnung des Raums. Sie ist übergeordnet, weil sie überörtliche Planung ist und weil sie vielfältige Fachplanungen zusammenfasst und aufeinander abstimmt (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 7 ROG; BVerfG, Gutachten vom - 1 PBvV 2/52 - BVerfGE 3, 407 <425>). Maßgeblich ist eine räumlich-funktionale Abgrenzung (Kment, in: ders., ROG, 2019, Grundlagen, Rn. 47). Die Raumordnung hat im Interesse der räumlichen Gesamtentwicklung alle auftretenden Nutzungsansprüche an den Raum und alle raumbedeutsamen Belange zu koordinieren und in diesem Zusammenhang unter anderem verbindliche Vorgaben für nachgeordnete Planungsstufen zu schaffen ( 4 C 14.01 - BVerwGE 119, 25 <38 f.>). Es kommt auf den Koordinierungsbedarf an, den etwa ein konkretes Vorhaben im Hinblick auf überörtliche und damit raumbedeutsame Belange auslöst ( 4 CN 9.01 - BVerwGE 118, 181 <186>). Der zu bewältigenden Aufgabe muss ein Gewicht zukommen, das über das Gebiet einer Gemeinde hinausreicht (Halama, in: FS Schlichter, 1995, 201 <218>). Diese am Koordinierungsbedarf orientierte Abgrenzung lässt es nicht zu, einen Sachverhalt schon dann für raumordnungsrechtlich regelungsfähig zu halten, wenn er nur in irgendeiner Weise über das Gebiet einer Gemeinde hinausreicht (Langguth, ZfBR 2011, 436 <438 f.>; a. A. Lieber NVwZ 2011, 910 <911>) und so einen in der Abwägung zu bewältigenden Bedarf nach interkommunaler Abstimmung im Sinne von § 2 Abs. 2 Satz 1 BauGB auslöst.

20Der Schutz der Nahversorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich durch einen Schutz vorhandener Betriebe ungeachtet ihrer Größe und Lage löst weder stets noch zumindest regelhaft Bedarf nach raumordnerischer Koordinierung aus. So mag der Bürgermarkt auf dem Gebiet der Antragstellerin zwar der wesentliche, weil einzige Nahversorger sein. Er ist aber - so auch die Einschätzung der Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung - weder nach Umsatz noch nach Zuschnitt geeignet, den Bedarf der dort lebenden Bevölkerung nach Lebensmitteln, Getränken, Drogeriewaren und Kosmetik vollständig oder zumindest überwiegend zu befriedigen. Es mag allenfalls angenommen werden, dass er für die Nahversorgung einer älteren, nicht-mobilen Bevölkerung im fußläufig zu erreichenden Umfeld von herausgehobener Bedeutung ist. Dies genügt für sich genommen noch nicht, um einen raumordnerischen Koordinierungsbedarf auszulösen.

21Dem Begriff der Nahversorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich fehlt darüber hinaus der Raumbezug. Zwar nennt er den Einzugsbereich als räumliche Grenze, lässt die Siedlungsstruktur aber im Übrigen außer Betracht. Darin unterscheidet er sich von den anderen Beeinträchtigungsverboten der Nr. 1.7.2.4 (Z) ERP. Diese verbieten die wesentliche Beeinträchtigung von Stadt- und Ortskernen der Standortgemeinde und anderer Zentraler Orte. Sie schützen zentrale Versorgungsbereiche und damit bestimmte oder jedenfalls bestimmbare Gebiete, die eine raumordnerisch erwünschte Struktur bilden (vgl. ERP, Begründung zu Nr. 1.7.2.4 <Z>, S. 41 mit dem Hinweis auf 4 C 7.07 - BVerwGE 129, 307). Dem Begriff der Nahversorgung in der Lesart des Verwaltungsgerichtshofs fehlt ein solcher Bezug zum Raum und seinen Funktionen, er erfasst vielmehr auch Betriebe, deren Standort zu Zielen oder Grundsätzen der Raumordnung in Widerspruch oder einem Spannungsverhältnis steht.

22Bei der Abgrenzung der Raumordnung vom Städtebaurecht ist zu berücksichtigen, welche Organe oder Stellen über die besten Voraussetzungen für eine möglichst sachgerechte Entscheidung verfügen (vgl. - BVerfGE 139, 321 Rn. 125). Im Gebiet des Einheitlichen Regionalplans Rhein-Neckar und des Landesentwicklungsplans nimmt eine Vielzahl von Betrieben Aufgaben der Nahversorgung wahr. Eine raumordnerische Zielvorgabe, welche vorhandene Betriebe der Nahversorgung vor existenzbedrohenden Beeinträchtigungen durch Einzelhandelsgroßprojekte in anderen Gemeinden schützt, müsste für eine kaum überschaubare Vielzahl von Fallgestaltungen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG abschließend abgewogen erscheinen. Eine solche Abwägung auf der Planungsebene der Raumordnung (vgl. § 7 Abs. 2 Satz 1 ROG) erscheint schwerlich sachgerecht möglich, wenn die planende Stelle nicht auf ein analytisches Modell wie das der zentralen Orte (Schrödter/Wahlhäuser, in: Schrödter, BauGB, 9. Aufl. 2019, § 1 Rn. 100) zurückgreifen kann.

23Der Senat hat erwogen, ob das Verbot einer wesentlichen Beeinträchtigung der Nahversorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich so ausgelegt werden kann, dass die der Raumordnung kompetenzrechtlich gesetzten Grenzen gewahrt werden. Für eine solche Auslegung ist indes nichts ersichtlich. Insbesondere geben weder die Begründung des Einheitlichen Regionalplans Rhein-Neckar (dort S. 41) noch des Landesentwicklungsplans (dort S. B37) Anhaltspunkte, welche raumordnerischen Vorstellungen der Plangeber mit dem Verbot verbunden haben könnte.

24c) Nach Auffassung der Vorinstanz ist das Verbot einer wesentlichen Beeinträchtigung der Nahversorgung der Bevölkerung zu beachten, wenn es für eine Ausnahme vom Zentralitätsgebot von Bedeutung ist. In diesem Fall sei es mit einem Grundpfeiler des Zentrale-Orte-Systems verknüpft und gehe über den Bereich interkommunaler Abstimmung hinaus (UA S. 31). Das steht mit Bundesrecht nicht in Einklang.

25Das Verbot, die Nahversorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich wesentlich zu beeinträchtigen, ist als Ziel der Raumordnung unzulässig. Dies gilt auch, wenn es einer nicht zentral-örtlichen Gemeinde entgegengehalten wird, die sich auf eine Ausnahme zum Zentralitätsgebot beruft. Denn in diesem Fall schränkt das Verbot ebenso die gemeindliche Planungshoheit ein (vgl. 4 CN 9.10 - BVerwGE 141, 144 Rn. 12), ohne sich auf eine auf raumordnerischen Erwägungen beruhende und abschließende Abwägung stützen zu können. Das Verbot erscheint in diesem Fall nicht deswegen raumordnungsrechtlich zulässig, weil es die Ansiedlung von Einzelhandelsgroßprojekten in nicht zentral-örtlicher Lage erschwert. Dies mag als Reflex dem Schutz zentraler Orte dienen, lässt das Beeinträchtigungsverbot aber nicht zu einer zulässigen raumordnerischen Regelung werden. Auf die von der Antragsgegnerin zur Beweislast aufgeworfenen Frage kommt es daher nicht an.

26Der Senat kann auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen nicht entscheiden, ob der Bebauungsplan den Zielen der Raumordnung, insbesondere dem Zentralitätsgebot, angepasst ist. Denn der Verwaltungsgerichtshof hat nicht festgestellt, ob der Lebensmittelmarkt im Sinne von Nr. 1.7.2.2 Abs. 2 Satz 1 (Z) ERP ausschließlich zur Sicherung der Nahversorgung geboten ist. Die tatrichterlichen Feststellungen erlauben ferner keine Entscheidung, ob der Plan an anderen Mängeln leidet, die zu seiner Unwirksamkeit führen. Die Sache ist daher nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zurückzuverweisen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2023:230523U4CN10.21.0

Fundstelle(n):
HAAAJ-47394