BGH Urteil v. - X ZR 78/21

Instanzenzug: Az: 6 Ni 10/19 (EP) Urteil

Tatbestand

1Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 2 002 803 (Streitpatents), das am unter Inanspruchnahme der Priorität einer US-amerikanischen Anmeldung vom angemeldet worden ist und eine Vorrichtung zum Einführen einer Intraokularlinse betrifft.

2Patentanspruch 1, auf den acht weitere Patentansprüche zurückbezogen sind, lautet in der Verfahrenssprache:

An intraocular lens injector cartridge (10) comprising:

a) a body (12) having an internal lumen (15);

b) a tubular nozzle (14) having an outer wall (36) and an opening (18), the nozzle projecting distally from the body, the opening being fluidly connected to the internal lumen of the body;

c) at least one peripheral protrusion (22) extending laterally from the outer wall of the nozzle proximally from the opening;

characterized in that the at least one peripheral protrusion (22) is spaced proximally from the plane of the opening so as to provide an insertion depth limitation and prevent full insertion of the cartridge tip, in use, and wherein the nozzle opening is defined by an extended canopy (20, 20', 20'') projecting distally from a plane of the opening (18, 18', 18'') at least partially encircling the opening.

3Die Klägerin hat geltend gemacht, die Erfindung sei nicht so offenbart, dass der Fachmann sie ausführen könne, der Gegenstand des Streitpatents gehe über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus und sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent wie erteilt und hilfsweise in elf geänderten Fassungen verteidigt.

4Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit der Berufung, mit der sie ihre Anträge erster Instanz weiterverfolgt. Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Gründe

5Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet.

6I. Das Streitpatent betrifft eine Patrone, mit deren Hilfe eine Intraokularlinse in das Auge eingeführt werden kann.

71. Nach der Beschreibung des Streitpatents war im Stand der Technik die Möglichkeit bekannt, die natürliche Linse des Auges zur Behandlung eines Katarakts (Grauen Stars) zu entfernen und durch eine künstliche Intraokularlinse (IOL) zu ersetzen (Abs. 2, 3).

8Die Entwicklung weicher Linsen habe die Möglichkeit eröffnet, diese zu falten oder zu rollen und durch einen verhältnismäßig kleinen Schnitt in das Auge einzuführen. Hierfür seien verschiedene Formen von Einführpatronen entwickelt worden (Abs. 4). Für die zunächst entwickelten Einführpatronen habe man Schnitte von etwa 3 mm benötigt. Die Weiterentwicklung von Operationstechniken und Einführpatronen habe es erlaubt, die Schnitte auf 2,4 mm zu verkürzen. In der Folge seien Techniken einer wundunterstützten Einführung der Linse entwickelt worden (wound assisted insertion oder wound assisted delivery). Dabei stelle die Wunde selbst einen Tunnel bereit, durch den die künstliche Linse in die vordere Kammer gelange. Die künstliche Linse könne durch einen kleinen Schnitt eingeführt werden, ohne dass die Einführpatrone vollständig in die Wunde eingeführt werden müsse (Abs. 5). Bislang sei der Einsatz dieser Technik jedoch in hohem Maß von Geschick und Erfahrung des Chirurgen abhängig.

92. Das Streitpatent betrifft vor diesem Hintergrund das technische Problem, eine verbesserte Einführpatrone für künstliche Intraokularlinsen bereitzustellen, die sich insbesondere für die wundunterstützte Einführung eignet.

103. Zur Lösung schlägt das Streitpatent eine Einführpatrone für Intraokularlinsen vor, deren Merkmale sich wie folgt gliedern lassen:

124. Zutreffend hat das Patentgericht als zuständigen Fachmann einen Ingenieur der Medizintechnik angesehen, der über Erfahrung in der Entwicklung von Instrumenten für die Augenchirurgie, insbesondere die Implantation von Intraokularlinsen verfügt, und mit einem chirurgisch tätigen Augenarzt zusammenarbeitet.

13Anders als die Berufung meint, ist den Ausführungen des Patentgerichts nicht zu entnehmen, dass dem Augenarzt bei dieser Zusammenarbeit nur eine nachgeordnete Rolle zukommt.

145. Einige Merkmale bedürfen der Erläuterung.

15a) Eine Intraokularlinsen-Einführpatrone nach Merkmal 1 ist eine Vorrichtung, die geeignet ist, eine Intraokularlinse in das Auge einzuführen.

16aa) Entgegen der Auffassung, die das Patentgericht in dem nach § 83 Abs. 1 PatG erteilten Hinweis vertreten hat, muss die Patrone so beschaffen sein, dass sie die Linse aufnehmen und im Auge abgeben kann.

17Dies ergibt sich aus dem Zusammenhang der Merkmale 2, 3 und 3.2.

18Diese sehen zwar, wie die Berufungserwiderung im Ausgangspunkt zutreffend darlegt, weder eine Linse noch deren Aufnahme in der Patrone vor. Das interne Lumen, die röhrenförmige Düse und deren Öffnung, die mit dem Lumen in Fluidverbindung steht, haben nach der Beschreibung aber die Funktion, die Linse aufzunehmen bzw. abzugeben. Dem ist zu entnehmen, dass sie für den genannten Zweck geeignet sein müssen.

19bb) Weitere Einzelheiten legt Patentanspruch 1 nicht fest.

20Dem Anspruch ist insbesondere nicht zu entnehmen, wie groß das Lumen ist und ob es so beschaffen sein kann, dass sich die Linse darin in einem gefalteten oder gerollten Zustand befindet.

21Zwar zeigt das Ausführungsbeispiel in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 1 eine Vorrichtung, bei der die Linse in nicht gefaltetem oder gerollten Zustand in das Lumen eingelegt werden kann. Im Anspruch hat dies jedoch keinen Niederschlag gefunden.

22b) Entgegen der Auffassung der Berufung ist Patentanspruch 1 nicht zu entnehmen, dass die in Merkmal 3 vorgesehene röhrenförmige Düse sich zur Öffnung hin verjüngen muss und dazu dient, die Intraokularlinse zu falten oder zu rollen.

23aa) Die Figuren 1, 3 und 6 zeigen zwar Düsen, die sich in bestimmten Abschnitten verjüngen. In Patentanspruch 1 hat dies jedoch keinen Niederschlag gefunden.

24bb) Aus dem Begriff "Düse" (nozzle) lässt sich eine solche Anforderung nicht ableiten.

25Dem Vorbringen der Berufung ist nicht zu entnehmen, dass eine Düse als Bestandteil einer Einführpatrone für Intraokularlinsen aus fachlicher Sicht zwingend eine verjüngende Röhre aufweisen muss.

26Nach den Feststellungen des Patentgerichts muss eine Düse nach dem allgemeinen technischen Sprachgebrauch nicht zwingend eine Verjüngung aufweisen. Die Berufung zeigt keine konkreten Anhaltspunkte auf, die Zweifel an der Vollständigkeit oder Richtigkeit dieser Feststellung begründen.

27Aus den von der Berufung insoweit angeführten Dokumenten ergibt sich kein hiervon abweichender Sprachgebrauch.

28(1) Die europäische Patentanmeldung 1 481 652 (D12) offenbart eine Einführpatrone mit einem als Düsenabschnitt (nozzle portion) (12) bezeichneten Bereich, der sich zur Spitze hin verjüngt.

29Ein Ausführungsbeispiel ist in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 5 dargestellt.

30In der Beschreibung von D12 wird erläutert, dass der Düsenabschnitt vorzugsweise hohl ist und ein distales Düsenrohr (44) umfasst, dessen Größe geeignet ist, die Linse (34) auf eine hinreichend geringe Größe zu falten, zum Beispiel 1,5 bis 3,5 Millimeter. Der schräge Abschnitt (54) des Bodens (56) unterstützt das Falten der Linse, indem er deren Ränder nach oben bewegt, während eine entsprechende Bewegung des mittleren Teils durch eine Rippe (52) im Deckel (38) verhindert wird (Abs. 13).

31Diesen Ausführungen ist zwar zu entnehmen, dass eine in besonderer Weise ausgestaltete Düse eingesetzt wird, um die Linse zu falten. Hieraus ergibt sich aber nicht, dass schon der Begriff "Düse" eine entsprechende Ausgestaltung impliziert. Die Eignung zum Falten der Linse resultiert vielmehr aus den einzelnen Bestandteilen der Düse, die in der Beschreibung näher erläutert werden.

32(2) Die europäische Patentanmeldung 1 857 976 (D7) offenbart ebenfalls eine Einführpatrone für Intraokularlinsen mit einem Düsenabschnitt (12c).

33D7 führt aus, bei einer gebräuchlichen Operationsmethode werde eine gefaltete Linse durch einen schmalen Schnitt in das Auge eingeführt (Abs. 2). Die Linse werde in einem Hauptkörper in eine kleine Form gebracht und aus einer vorderen Endöffnung eines Einsetzzylinders (Düse) in das Auge eingeführt (Abs. 3).

34Als nachteilhaft führt D7 an, dass unmittelbar vor der Operation eine Flüssigkeit in die Einführpatrone eingebracht werden müsse, was umständlich sei. Ferner könne die Flüssigkeit durch Lecks entweichen.

35Zur Verbesserung schlägt D7 unter anderem einen Abdeckring (13) vor, der den Austritt von Flüssigkeit verhindert. Ein Ausführungsbeispiel für eine erfindungsgemäße Einführpatrone ist in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 1A dargestellt.

36In der Beschreibung von D7 wird erläutert, der innere und äußere Durchmesser des Düsenabschnitts (12c) verjünge sich nach vorne hin (Abs. 53). Die Linse wird bei der Bewegung innerhalb des Düsenabschnitts gefaltet (Abs. 113).

37Daraus ist ebenfalls nur zu entnehmen, dass bei der offenbarten Ausführungsform eine Düse eingesetzt wird, um die Linse zu falten. Wie bei D12 ergibt sich diese Funktion nicht allein aus dem Einsatz einer Düse, sondern aus deren besonderer Ausgestaltung.

38c) Zu Recht ist das Patentgericht davon ausgegangen, dass die Vorrichtung nach Patentanspruch 1 nicht zwingend zur wundunterstützten Einführung geeignet sein muss.

39aa) Das in Merkmal 3.3 vorgesehene erweiterte Dach, das die Öffnung der Düse definiert, distal von einer Ebene der Öffnung vorsteht und die Öffnung mindestens teilweise umgibt, ist bei einer wundunterstützten Einführung der Linse allerdings von Vorteil.

40(1) Für die Ausgestaltung des Dachs zeigt das Streitpatent verschiedene Möglichkeiten auf.

41Bei dem Ausführungsbeispiel, das in den nachfolgend wiedergegebenen Figuren 2 und 3 dargestellt ist, wird das erweiterte Dach (20) durch eine Abschrägung an der Spitze (16) der Düse (14) gebildet und umgibt die Öffnung (18) der Düse vollständig.

42Bei den Ausführungsbeispielen in den nachfolgend wiedergegebenen Figuren 4 und 5 umgibt das erweiterte Dach (20', 20'') die Öffnung (18', 18'') jeweils nur teilweise.

43(2) Einem so ausgestalteten Dach kommt nach der Beschreibung die Funktion zu, die Wunde zu öffnen und zu stützen und zugleich die Intraokularlinse beim Durchtritt durch die Wunde zu kontrollieren und zu führen (Abs. 10 und Abs. 17).

44Diese Funktion kommt bei der wundgestützten Einführung zum Tragen, bei der wie bereits erwähnt die Wunde selbst einen Tunnel bereitstellt, durch den die Linse in die vordere Augenkammer eingeführt wird. Durch seine stützende, kontrollierende und führende Wirkung kann das Dach dazu beitragen, das Einführen der Linse durch die Wunde hindurch zu erleichtern. In Einklang damit entsprechen die in der Beschreibung angegebenen Maße für das Dach (1,5 bis 2,4 mm, vorzugsweise 1,9 mm, Abs. 17) den mit 2,4 mm und kleiner (Abs. 5) angegebenen Abmessungen des Schnitts.

45bb) Diese Abmessungen haben in Patentanspruch 1 indes keinen Niederschlag gefunden.

46Das Streitpatent gibt danach nicht näher vor, in welchem Maß die Düsenspitze in die Wunde eindringt, diese stützt und zur Führung der Intraokularlinse beiträgt.

47Damit bleibt die Möglichkeit, das Dach größer auszugestalten, so dass es einerseits im Bereich der Wunde stützen, kontrollieren und führen, andererseits aber weiter in das Augeninnere eindringen kann. Das Streitpatent umfasst aber auch Gestaltungen, bei denen die Spitze der Düse nicht bis zum inneren Rand der Wunde gelangt, sondern nur teilweise in die Wunde eindringt. Ein absolutes oder relatives Mindestmaß der Eindringtiefe lässt sich dem Patentanspruch vor diesem Hintergrund nicht entnehmen.

48cc) Aus Merkmal 4.1, das eine Begrenzung der Einführtiefe und das Verhindern eines vollständigen Eindringens der Patronenspitze vorsieht, ergeben sich keine abweichenden Schlussfolgerungen.

49Auch insoweit sind die Ausführungsbeispiele zwar so ausgestaltet, dass ein wundgestütztes Einführen möglich ist. Merkmal 4.1 sieht aber weder für die Einführtiefe noch für Länge der Patronenspitze ein konkretes Höchstmaß vor. Damit lässt der Patentanspruch einerseits Gestaltungen zu, in denen die Patronenspitze so lang ist, dass sie auch bei nicht vollständigem Einführen über den Bereich der Wunde hinaus weiter in das Augeninnere eindringen kann, umfasst andererseits aber auch Gestaltungen, in denen die Spitze nicht bis zum inneren Rand der Wunde reicht.

50d) Der in Merkmal 4 vorgesehene periphere Vorsprung an der Außenwand der Düse dient dem bereits erwähnten und in Merkmal 4.1 vorgegebenen Zweck, die Einführtiefe der Patronenspitze zu begrenzen.

51Wie ebenfalls bereits erwähnt wurde, bedeutet dies nicht, dass die maximal mögliche Einführtiefe geringer sein muss als die Tiefe der Wunde.

52In der Beschreibung wird zwar ausgeführt, ein peripherer Vorsprung könne jedes Merkmal sein, das verhindern könne, dass die Spitze (16) vollständig in die Wunde eindringe (Abs. 18 Z. 1-3). Patentanspruch 1 greift diese Anforderung aber nur teilweise auf. Er normiert lediglich, dass die Spitze nicht vollständig einführbar sein darf, lässt aber offen, wie weit die Spitze in das Auge eindringen darf.

53e) Die in Merkmal 4.1 normierte Anforderung, dass der periphere Vorsprung proximal von der Ebene der Öffnung beabstandet sein muss, ist erfüllt, wenn der Vorsprung proximal hinter dem Bereich angeordnet ist, über den sich die Öffnung (18) erstreckt.

54Dies kann dadurch erreicht werden, dass der Vorsprung (22) hinter der Position (34) angeordnet ist, an der die Öffnung (18) beginnt. Ob Merkmal 4.1 auch dann verwirklicht ist, wenn die proximale Ebene des Vorsprungs mit dem Beginn der Öffnung fluchtet, wie dies in den Figuren 4 und 5 gezeigt ist, bedarf keiner abschließenden Entscheidung.

55f) Wie das Patentgericht ebenfalls zutreffend angenommen hat, schließt Patentanspruch 1 nicht aus, dass die Vorrichtung weitere Elemente umfasst, etwa eine Vorrichtung zur Fixierung des Augapfels während der Operation.

56II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

57Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung sei durch die deutsche Patentanmeldung 195 44 119 (D2) vollständig vorweggenommen.

58D2 betreffe eine Vorrichtung zur Implantation einer flexiblen Intraokularlinse. Die Vorrichtung weise eine röhrenförmige Düse mit einer äußeren Wand und einer Öffnung auf. Der Vorwegnahme von Merkmal 3 stehe nicht entgegen, dass der Injektor der D2 keinen sich in distaler Richtung verengenden Querschnitt aufweise.

59D2 sehe als Variante einen röhrenförmigen Injektor mit einem abgeschrägten Ende vor. Bei dieser Gestaltung weise die Öffnung ein erweitertes Dach im Sinne von Merkmal 3.3 auf, das die Öffnung der Düse zumindest teilweise umgebe. Der Vorwegnahme von Merkmal 3.3 stehe nicht entgegen, dass diese Spitze nach der Beschreibung der D2 dem geführten und zentrierten Ansetzen des Injektors an der Schnittöffnung diene. Aus der Entgegenhaltung ergebe sich, dass die abgeschrägte Spitze um die Dicke der Cornea oder Sklera hervorstehe und in entsprechendem Umfang in die Schnittöffnung eindringen könne. Damit sei die Vorrichtung geeignet, in die Wunde einzudringen, diese zu öffnen und zu stützen und die Führung der Intraokularlinse zu gewährleisten, wenn diese durch die Öffnung in das Auge ausgestoßen werde.

60Das in D2 als Hülsenelement bezeichnete Bauteil und die an deren Ende ausgebildete Auflagefläche seien als peripher Vorsprung im Sinne von Merkmalsgruppe 4 anzusehen. Dieser diene der Begrenzung der Einführtiefe des Injektorrohres und verhindere, dass die Injektorspitze vollständig in die Wunde eindringe. Der Umstand, dass die Einführtiefe darüber hinaus auch durch eine Halteeinrichtung begrenzt werde, stehe der Vorwegnahme von Merkmal 4.1 nicht entgegen.

61Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung der Hilfsanträge 1 bis 5 sei gegenüber D2 ebenfalls nicht neu. Die mit den weiteren Hilfsanträgen verteidigten Gegenstände seien zwar neu, aber durch eine Kombination der Veröffentlichung von Tsuneoka (Ophtalmic Instruction Course No. 9 - Wound assisted implantation, D9a) mit D2 nahegelegt.

62III. Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Berufungsrechtszug stand.

631. Die von der Beklagten erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht.

64a) Entgegen der Auffassung der Berufung war das Patentgericht nicht gehalten, das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen.

65Der Senat hat bereits entschieden, dass ein Technischer Beschwerdesenat des Patentgerichts auf den technischen Gebieten, die in seine Zuständigkeit fallen, aufgrund der Anforderungen, die das Gesetz an die berufliche Qualifikation der technischen Richter stellt und deren durch die ständige Befassung mit Erfindungen in diesen Bereichen gebildetes Erfahrungswissen grundsätzlich über die zur Beurteilung der jeweils entscheidungserheblichen Fragen erforderliche technische Sachkunde verfügt (, GRUR 2014, 1235 Rn. 8 - Kommunikationsrouter). Für einen Nichtigkeitssenat gilt nichts anderes.

66Konkrete Umstände, die im Streitfall ausnahmsweise die Inanspruchnahme externer Sachkunde erforderlich gemacht hätten, sind weder aufgezeigt noch sonst ersichtlich.

67Die von der Beklagten abweichend beurteilten Fragen zur Auslegung des Streitpatents sind ohnehin Rechtsfragen. Dass das Patentgericht zahlreiche dieser Fragen anders beantwortet hat, als die Beklagte dies möchte, beruht nicht auf abweichenden Vorstellungen von den im Stand der Technik bekannten Implantationsmethoden, sondern von einer abweichenden Beurteilung der Frage, welche in der Beschreibung geschilderten Funktionen und Wirkungen im Patentanspruch Niederschlag gefunden haben.

68b) Ob das Patentgericht der Beklagten eine ausreichende Frist zur Stellungnahme auf den Hinweis nach § 83 Abs. 1 PatG gesetzt hat, bedarf keiner Entscheidung. Ein diesbezüglicher Verfahrensfehler steht einer Sachentscheidung durch den Senat jedenfalls deshalb nicht entgegen, weil der Beklagten im Berufungsverfahren hinreichend Zeit zur Äußerung zur Verfügung stand.

692. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung ist, wie das Patentgericht zutreffend entschieden hat, durch D2 vollständig vorweggenommen.

70a) D2 befasst sich ebenso wie das Streitpatent mit einem Instrument zur Einführung einer Intraokularlinse in das Auge.

71D2 bemängelt, für den Durchtritt der Injektionsnadel durch Cornea oder Sklera sei bislang ein Schnitt von mindestens 3,5 mm erforderlich. Wünschenswert sei eine Verkleinerung der Schnittlänge, um das Risiko einer mechanischen Verletzung oder einer Infektion zu verringern.

72D2 schlägt vor diesem Hintergrund ein Werkzeug vor, das nicht oder nur geringfügig in die Schnittöffnung eingeführt werden muss und an dem an der Augenoberfläche ausgeführten Schnitt angeordnet wird. Eine Auflagefläche dient dazu, den Injektor abzudichten und den Druck gleichmäßig zu verteilen (Sp. 1 Z. 43-57). Die Auflagefläche kann senkrecht oder schräg zur Längsachse des Injektorrohrs verlaufen (Sp. 2 Z. 29-31). Dies erlaube es, die Schnittlänge auf 1,5 bis 2 mm zu verringern.

73D2 sieht die Möglichkeit vor, dass die Auflagefläche bündig mit einem stumpfen Ende des Injektors abschließt.

74Als Alternative ist eine Gestaltung offenbart, bei der das Injektorrohr abgeschrägt ist und geringfügig aus der Auflagefläche hervorsteht. In diesem Fall kann das Injektorrohr in entsprechendem Maße in die Schnittöffnung eindringen, ragt jedoch nicht in die vordere Augenkammer hinein. Bei der Verwendung eines abgeschrägten, spitz zulaufenden vorderen Ende des Injektors steht die Spitze maximal um die tatsächliche Dicke der Cornea oder Sklera im Bereich der Schnitt-öffnung hervor und weitet diese geringfügig auf. Der die Spitze bildende Wandbereich erstreckt sich nur über einen geringen Umfangsabschnitt des Rohres, so dass die Schnittöffnung nur geringfügig aufgeweitet wird (Sp. 2 Z. 25-42).

75Ein Ausführungsbeispiel zeigt die nachfolgend wiedergegebene Figur 1.

76Der rohrförmige Injektor (10) ist mit einem Hülsenelement (14) umgeben, das an seinem vorderen Ende eine ring- oder wulstförmige Verbreiterung aufweist, die eine schräg zur Längsachse des Injektorrohrs verlaufende Auflagefläche (15) ausbildet. Dieser vordere Abschluss des Hülsenelements kann teilweise oder ganz aus elastischem Material, etwa Silikon, bestehen, um sich unter Verformung an das Auge anpassen zu können (Sp. 3 Z. 43-46).

77Die Vorrichtung nach D2 umfasst ferner eine Halteeinrichtung (18) mit zwei Haltearmen (19, 20). Deren vordere Enden bilden einen Fixationsringabschnitt (23) aus, der bei der Einführung der Linse außerhalb der Cornea aufliegt und den Augapfel fixiert (Sp. 3 Z. 47-64).

78Die Intraokularlinse (27) befindet sich im Injektorrohr und kann mittels einer Schubstange (26) in das Auge geschoben werden. Der Injektor weist ein abgeschrägtes vorderes Ende (13) auf, das aus der Auflagefläche hervorsteht und eine seitliche Führung (16) ausbildet, die dazu dient, den Injektor an der Schnittöffnung (8) anzusetzen.

79Der Verlauf der Wundöffnung ist in Figur 1 nur schematisch dargestellt. Tatsächlich verläuft der Schnitt in Stufen und ist als Lappenventil ausgebildet (Sp. 2 Z. 7, Sp. 3 Z. 9-13). Wie solche Schnittformen typischerweise aussehen, ist in der von der Beklagten vorgelegten Stellungnahme von Dr. Stephen S. Lane (AR27a) dargestellt:

80b) In der in Figur 1 dargestellten Variante nimmt D2 den Gegenstand von Patentanspruch 1 vollständig vorweg.

81aa) D2 offenbart mit dem rohrförmigen Injektor (10) eine röhrenförmige Düse im Sinne von Merkmal 3.

82Die abweichende Auffassung der Beklagten beruht auf der Annahme, Patentanspruch 1 fordere eine sich in distale Richtung verjüngende Düse. Wie oben aufgezeigt wurde, trifft dies nicht zu. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob die Intraokularlinse erst im Injektorrohr gefaltet oder gerollt wird.

83bb) D2 zeigt auch ein erweitertes Dach im Sinne von Merkmal 3.3, das in die Wunde eindringt, diese öffnet und zur Führung der Intraokularlinse beiträgt.

84Für den Fall eines stumpf endenden Injektors sieht D2 allerdings vor, dass die Wunde nur durch die Intraokularlinse aufgedrückt wird (Sp. 4 Z. 29-33).

85Wenn das vordere Ende des Injektorrohrs abgeschrägt ist und es aus der Auflagefläche (15) hervorragt, dringt es hingegen um ein entsprechendes Maß in die Schnittöffnung ein. Damit ist die Spitze geeignet, zur Öffnung und Stützung der Wunde beizutragen. Tritt die Intraokularlinse aus dem Injektor aus, wird sie durch die Wundöffnung, aber auch durch den Teil der Spitze, der in die Wunde eingedrungen ist, geführt.

86Der sich nach vorne erstreckende Teil der abgeschrägten Spitze bildet mithin ein erweitertes Dach im Sinne von Patentanspruch 1.

87Anders als die Berufung meint, steht dem nicht entgegen, dass die Spitze des Injektorrohrs nach der Beschreibung der D2 nur geringfügig aus der Auflagefläche hervorsteht und der die Spitze bildende Wandbereich sich nur über einen geringen Umfangsabschnitt des Rohres erstreckt.

88Wie oben ausgeführt wurde, ist Patentanspruch 1 kein bestimmtes Mindestmaß für die Länge des erweiterten Dachs zu entnehmen. Es reicht deshalb aus, wenn die Spitze so ausgestaltet ist, dass sie die Wunde in praktisch erheblichem Umfang öffnen und stützen kann. Eine solche Funktion ist in D2 durch die bereits erwähnten Ausführungen offenbart, wonach die Schnittöffnung durch das Einführen der Spitze aufgeweitet wird. Dass dies bei D2 nur in geringfügigem Maße geschieht, ist unerheblich.

89cc) Auch Merkmalsgruppe 4 ist vorweggenommen.

90(1) Bei der Variante mit einer abgeschrägten, aus der Auflagefläche herausragenden Spitze bildet die Auflagefläche einen peripheren Vorsprung, der sich seitlich von der Außenwand des Injektorrohrs erstreckt. Wie sich aus der Beschreibung der D2 ergibt, dringt die Spitze nur um das Maß in die Schnittöffnung ein, um das sie aus der Auflagefläche hervorsteht, während verhindert wird, dass der Injektor durch die Schnittöffnung geschoben wird, also bis in die vordere Augenkammer reicht.

91Die Auflagefläche dient danach nicht nur der Abdichtung der Wunde, sondern begrenzt auch die Einführtiefe.

92(2) Dem steht nicht entgegen, dass die Auflagefläche elastisch ausgebildet sein kann.

93Diese Elastizität der Auflagefläche soll sicherstellen, dass sie sich der individuellen Form des Auges anpasst. Soll die Auflagefläche ihre Funktion erfüllen können, die Wunde abzudichten und den vom Injektor ausgeübten Druck gleichmäßig zu verteilen (Sp. 1 Z. 49-57), darf sie nicht so elastisch sein, dass die Spitze tiefer als angestrebt in die Wunde geschoben werden kann.

94(3) Eine andere Beurteilung ergibt sich ferner nicht daraus, dass D2 die Fixierung des Augapfels durch einen Haltearm vorsieht.

95Wie oben ausgeführt wurde, schließt Patentanspruch 1 zusätzliche Maßnahmen zur Gewährleistung einer komplikationslosen Durchführung des Eingriffs nicht aus.

96Aus der Beschreibung der D2 ergibt sich zudem, dass die Halteeinrichtung erst eingesetzt wird, wenn die Injektorrohrspitze bereits am Auge angesetzt ist (Sp. 4 Z. 7-29). Danach wird die Eindringtiefe in der Phase vor dem Einsatz der Halteeinrichtung allein durch die Auflagefläche begrenzt.

973. Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass der Gegenstand von Patentanspruch 1 auch in den Fassungen nach den Hilfsanträgen nicht patentfähig ist.

98a) Nach Hilfsantrag 1 werden in Merkmal 3.3 folgende Wörter angefügt:

which extended canopy (20, 20', 20'') opens and supports the wound while guiding and controlling the folded lens as it passes through the wound

99Diese Ergänzung führt hinsichtlich des erweiterten Dachs nicht zu einer sachlichen Änderung des geschützten Gegenstands, weil sich die damit beschriebene Funktion, wie oben ausgeführt wurde, im Wege der Auslegung bereits aus der erteilten Fassung ergibt. Zudem ergeben sich auch aus der Ergänzung keine konkreten Vorgaben hinsichtlich der Größe des erweiterten Dachs.

100Soweit der Gegenstand des Hilfsantrags 1 nunmehr die Führung und Steuerung einer "gefalteten" Linse vorsieht, wird dieses Element ebenfalls von D2 vorweggenommen (D2, Sp. 2 Z. 13-17).

101b) Nach Hilfsantrag 2 ist Merkmal 1 wie folgt gefasst (Änderung hervorgehoben):

An intraocular lens injector cartridge (10) for use in wound assisted intraocular lens delivery

102Auch in dieser Fassung ist der Gegenstand von Patentanspruch 1 nicht patentfähig.

103Wie oben bereits ausgeführt wurde, beschreibt D2 der Sache nach eine Vorgehensweise, bei der durch Einführung der Injektorspitze in die Schnittöffnung in dieser ein Tunnel ausgebildet wird, durch den die Intraokularlinse in die vordere Augenkammer eingeführt werden kann.

104c) Nach Hilfsantrag 3 ist Merkmal 3.3 auf ein erweitertes Dach beschränkt, das die Öffnung der röhrenförmigen Düse vollständig umgibt.

105Wie sich aus der Beschreibung des Streitpatents ergibt, fällt darunter eine Gestaltung, wie sie in der oben wiedergegebenen Figur 2 dargestellt ist, bei der die Spitze der Düse abgeschrägt ist (Sp. 3 Z. 34-36).

106Eine entsprechende Gestaltung ist bereits in D2 unmittelbar und eindeutig offenbart. D2 beschreibt ein Injektorrohr mit abgeschrägter Spitze (Sp. 2 Z. 35, Sp. 3 Z. 34 f.) und nimmt dabei auf die oben wiedergegebene Figur 1 Bezug.

107Eine andere Beurteilung ergibt sich nicht daraus, dass sich nach der Beschreibung von D2 der die Spitze bildende Wandbereich nur über einen geringen Umfangsabschnitt des Rohres erstreckt, so dass die Schnittöffnung nur geringfügig aufgeweitet wird (Sp. 2 Z. 39-42). Diese Ausführungen stehen am Ende eines Absatzes, der das Anliegen der D2 verdeutlicht, dass das Injektorrohr bei der dort beschriebenen Alternative zwar in die Wunde eindringt, jedoch nicht in die vordere Augenkammer ragt. Ihnen ist nicht zu entnehmen, dass die Spitze die Öffnung der röhrenförmigen Düse abweichend von der Darstellung in Figur 1 nur teilweise umgibt. Sie sind vielmehr dahin zu deuten, dass die Abschrägung in einem eher stumpfen Winkel zur Längsrichtung des Injektorrohrs verläuft. Dies sorgt, zusammen mit der Angabe, dass das Injektorrohr nur geringfügig aus der Auflagefläche hervorsteht (Sp. 2 Z. 26-29; Sp. 3 Z. 34-37), dafür, dass das Rohr nicht zu tief in die Wunde eindringt.

108d) Hilfsantrag 4 kombiniert die Ergänzungen gemäß den Hilfsanträgen 1 und 3. Auch diese Kombination unterliegt keiner abweichenden Beurteilung.

109e) Nichts anderes gilt für Hilfsantrag 5, der die Ergänzungen der Hilfsanträge 2 und 3 kombiniert.

110f) Nach Hilfsantrag 6 wird der Anspruch am Ende wie folgt ergänzt:

[the at least one peripheral protrusion (22)] comprises an angled distal face (23) sloped at an angle of between approximately 18 to 26 degrees

111Wie das Patentgericht zutreffend dargelegt hat, sieht D2 die Möglichkeit vor, die dort auch als Begrenzung der Einführtiefe fungierende Auflagefläche schräg zur Längsachse des Injektors auszubilden (Sp. 2 Z. 29-31). Anhaltspunkte dafür, dass mit der Wahl einer Neigung in dem in Hilfsantrag 6 genannten Bereich besondere Vorteile verbunden sind, sind nicht ersichtlich.

112g) Mit den Hilfsanträgen 7 bis 11 sollen jeweils Kombinationen von Hilfsantrag 6 mit Ergänzungen aus den Hilfsanträgen 1, 2 und 3 unter Schutz gestellt werden.

113Auch in diesen Fassungen ist der Gegenstand von Patentanspruch 1 nicht patentfähig, da ein zusätzlicher, über die Aggregation der betreffenden Merkmale hinausgehender technischer Effekt nicht ersichtlich ist.

114IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG in Verbindung mit § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:040723UXZR78.21.0

Fundstelle(n):
AAAAJ-47285