BGH Beschluss v. - 2 StR 158/23

Persönlichkeitsstörung als „schwere andere seelische Störung“

Gesetze: § 20 StGB, § 21 StGB

Instanzenzug: LG Gießen Az: 2 KLs - 401 Js 14071/19

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten verurteilt. Von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt wurde abgesehen. Die mit der allgemeinen Sachrüge geführte Revision des Angeklagten hat im Umfang der Beschlussformel Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

21. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Prüfung des angefochtenen Urteils hat zum Schuldspruch keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben.

32. Hingegen erweist sich die Begründung, mit der das Landgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB verneint hat, als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

4a) Die Strafkammer ist – sachverständig beraten – davon ausgegangen, dass der Angeklagte bei Begehung der Tat unter einer dissozialen Persönlichkeitsstörung gelitten hat. Das Vorliegen eines Eingangsmerkmals im Sinne des § 20 StGB hat sie abgelehnt, weil die Persönlichkeitsstörung „nicht von solcher Schwere“ sei, dass eine schwere andere seelische Störung im Sinne des § 20 StGB vorliege. Das Landgericht hat den Angeklagten deshalb als uneingeschränkt schuldfähig angesehen.

5b) Im Ausgangspunkt hat die Strafkammer dabei zutreffend bedacht, dass die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung nicht gleichbedeutend mit derjenigen einer schweren anderen seelischen Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB ist. Denn die beim Angeklagten diagnostizierte Persönlichkeitsstörung kann die Annahme einer schweren anderen seelischen Störung nur dann begründen, wenn sie Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Angeklagten vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen wie eine krankhafte seelische Störung (vgl. Senat, Beschluss vom – 2 StR 511/21, juris Rn. 20 mwN; , NStZ-RR 2015, 137 mwN). Vorzunehmen ist insoweit eine Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten, ihrer Entwicklung, der Vorgeschichte und des unmittelbaren Anlasses sowie der Ausführung der Tat und des Nachtatverhaltens (Senat, Beschluss vom – 2 StR 459/16, juris Rn. 20). Der Täter muss aufgrund der Störung aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt haben, wobei der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit innerhalb der Gesamtschau entscheidend sind (, NStZ-RR 2022, 132, 133 mwN). Für die Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung ist insbesondere maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Deliktes zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist (Senat, Beschluss vom – 2 StR 562/19, NStZ-RR 2020, 222, 223; , NStZ-RR 2017, 176, 177).

6c) Die Urteilsgründe lassen indes unerörtert, wie sich die Ablehnung des Vorliegens einer schweren anderen seelischen Störung mit der Einschätzung des Sachverständigen in Einklang bringen lässt, dass die beim Angeklagten diagnostizierte Persönlichkeitsstörung eine besonders starke Ausprägung aufgewiesen hat. Der Sachverständige führte hierzu aus, dass die Persönlichkeitsstörung so stark ausgeprägt sei, wie er es in seiner bisherigen forensischen Praxis noch nicht erlebt habe. Wieso der Schweregrad der Persönlichkeitsstörung eingedenk dieser sachverständigen Einschätzung dennoch nicht ausreicht, das Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Störung zu begründen, erläutert die Strafkammer nicht in nachvollziehbarer Weise. Die Begründung des Sachverständigen hierzu, auf die die Strafkammer im Wesentlichen Bezug nimmt, beschränkt sich auf die bloße Feststellung, dass die diagnostizierte Persönlichkeitsstörung – auch in Kombination mit einer ebenfalls festgestellten Polytoxikomanie – nicht die Schwere einer schweren anderen seelischen Störung erreiche. Nähere Begründung erfährt lediglich die Annahme des Sachverständigen, dass auch die Polytoxikomanie nicht unter ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB falle. Ergänzend weist die Strafkammer bezogen auf die Persönlichkeitsstörung – ebenfalls ohne nähere Begründung – darauf hin, dass beim Angeklagten keine Persönlichkeitsdepravation vorliege.

7Die Ausführungen zur uneingeschränkten Schuldfähigkeit stehen demnach auch in Widerspruch zu den Erwägungen des Landgerichts zur fehlenden Erfolgsaussicht der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB. Denn diese wird mit der Begründung abgelehnt, dass aufgrund der „schweren Dissozialität des Angeklagten“ weiterhin Straftaten zu erwarten seien. Er agiere geradezu als Berufsverbrecher. In den Ausführungen zur Prüfung einer – nicht angeordneten – Sicherungsverwahrung findet sich zudem der auf sachverständiger Einschätzung beruhende Hinweis, dass das Leben des Angeklagten „als Ausdruck eigener, dissozial geprägter Hinwendung zu kriminellen Handlungen als Lebensunterhalt“ erscheine. Auch in Ansehung dessen erschließt sich nicht ohne weiteres, dass nicht die für die Einstufung der Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Störung maßgeblichen und auf die Persönlichkeitsstörung zurückzuführenden Einschränkungen vorliegen.

83. Aufgrund der rechtsfehlerhaften Erörterungen zum Schweregrad der Persönlichkeitsstörung bedarf auch die Entscheidung über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB erneuter Prüfung und Entscheidung. Denn zur Begründung der Ablehnung der Erfolgsaussicht einer solchen Unterbringung hat die Strafkammer im Wesentlichen die dissoziale Persönlichkeitsstörung herangezogen, aufgrund derer auch weiterhin die Begehung von Straftaten zu erwarten sei. Das neue Tatgericht wird – naheliegend unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen – Gelegenheit haben, widerspruchsfreie Feststellungen zur Ausprägung der Persönlichkeitsstörung und ihrer Auswirkungen einerseits auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten und andererseits auf die Erfolgsaussichten der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB zu treffen.

94. Der Schuldspruch wird durch den Rechtsfehler nicht berührt. Der Senat kann ausschließen, dass die Strafkammer bei fehlerfreier Würdigung zur Annahme einer vollständigen Aufhebung der Schuldfähigkeit des Angeklagten gelangt wäre.

105. Die Einziehungsanordnung bedarf zur Gesamtschuldnerschaft der Ergänzung (§ 354 Abs. 1 StPO analog).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:210623B2STR158.23.0

Fundstelle(n):
AAAAJ-46034