Strafverfahren: Feststellende Entscheidung des Revisionsgerichts bei Zweifeln an der Wirksamkeit einer Rechtsmittelrücknahme; Formerfordernisse für die Rücknahmeerklärung
Gesetze: § 302 Abs 2 StPO, § 341 Abs 1 StPO, § 346 Abs 1 StPO
Instanzenzug: Az: 506 KLs 22/22
Gründe
1Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren – im zweiten Rechtsgang – die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Nachdem der Pflichtverteidiger der Beschuldigten frist- und formgerecht Revision gegen das Urteil eingelegt hatte, hat die weitere Pflichtverteidigerin der Beschuldigten mit Schreiben vom , dem Landgericht per Fax zugegangen am selben Tag, erklärt, dass sie „nach mehrfacher und ausführlicher Rücksprache mit der Mandantin und deren Betreuer“ die Revision zurücknehme. Das Landgericht hat hierauf mit Beschluss vom der Beschuldigten die Kosten der Revision gemäß § 473 Abs. 1 StPO auferlegt. Mit Schreiben vom an das Landgericht hat der Pflichtverteidiger erklärt, die Beschuldigte habe ihm mitgeteilt, eine Ermächtigung zur Rücknahme der Revision nicht erteilt zu haben, und Beschwerde gegen die Kostenentscheidung des erhoben. Am folgenden Tag hat er dem Landgericht frist- und formgerecht die Revisionsbegründung sowie ein Schreiben der Beschuldigten übermittelt, in welchem diese erklärt, dass sie ihre weitere Verteidigerin nicht ausdrücklich zur Revisionsrücknahme ermächtigt habe, und für den Fall, dass sie „eine Erklärung abgegeben haben sollte, die als solcherart Ermächtigung zu werten sein könnte oder ist“, diese zurücknehme; an der Revision solle festgehalten werden. In einer schriftlichen Stellungnahme vom hat die Pflichtverteidigerin sodann erklärt, dass die Beschuldigte sie „in vielen ausführlichen Telefonaten ab dem mehrfach darum gebeten [habe], die Revision gegen das Urteil vom zurückzunehmen“.
2Mit Beschluss vom hat das Landgericht festgestellt, dass die Revision der Beschuldigten wirksam zurückgenommen worden ist. Gegen diese dem Verteidiger am zugestellte Entscheidung des Landgerichts richtet sich der am eingegangene Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts.
31. Wird die Wirksamkeit einer Rechtsmittelrücknahme von einem Verfahrensbeteiligten in Zweifel gezogen, ist es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Sache des Revisionsgerichts, hierüber eine feststellende Entscheidung zu treffen. Dies gilt auch in Fällen, in denen der Streit über die Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung – wie hier – nach einer feststellenden Entscheidung des iudex a quo fortbesteht (vgl. nur Rn. 2 mwN). Ob eine solche Entscheidung im Revisionsverfahren in analoger Anwendung des § 346 Abs. 2 StPO einen – fristgerechten – Antrag voraussetzt oder die Entscheidung des Revisionsgerichts formlos und ohne Einhaltung einer Frist herbeigeführt werden kann, bedarf keiner Entscheidung, weil der Antrag des Verteidigers jedenfalls innerhalb der Wochenfrist des § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO bei dem Landgericht eingegangen ist.
42. Die Revision ist wirksam zurückgenommen worden.
5a) Das Schreiben vom , mit dem die Verteidigerin die Zurücknahme der Revision erklärt hat, ist dem Landgericht formgerecht übermittelt worden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestehen für die Rücknahmeerklärung wie auch für die Erklärung eines Rechtsmittelverzichts trotz Fehlens einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung grundsätzlich dieselben Formerfordernisse wie für die Einlegung des Rechtsmittels (vgl. , wistra 2011, 314 Rn. 7; Urteil vom – 1 StR 561/62, BGHSt 18, 257, 260 mwN). Den somit zu beachtenden Anforderungen des § 341 Abs. 1 StPO genügt die Rücknahmeerklärung, denn sie ist schriftlich erfolgt (vgl. zur Wahrung der Schriftform durch Telefax GmS-OGB 1/98, BGHZ 144, 160, 164).
6Auf die für Verteidiger geltende Pflicht zur elektronischen Übermittlung einer Revision aus § 32d Satz 2 StPO erstreckt sich die Übertragung der für die Einlegung eines Rechtsmittels geltenden Formerfordernisse auf dessen Zurücknahme nicht (vgl. , NStZ-RR 2023, 81; BeckOK-StPO/Cirener, 47. Ed., § 302 Rn. 4; Valerius, ebd., § 32d Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 302 Rn. 7). Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift sowie aus historischen und teleologischen Erwägungen. § 32d Satz 2 StPO zählt diejenigen Prozesserklärungen, für die die Übermittlung als elektronisches Dokument zwingend vorgeschrieben und infolgedessen eine Wirksamkeitsvoraussetzung ist (vgl. , wistra 2022, 388 mwN), enumerativ auf. Schriftsätze anderen Inhalts unterliegen demgegenüber nur der Sollvorschrift des § 32d Satz 1 StPO. Ausweislich der Begründung des diesen Vorschriften zugrundeliegenden Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs (BT-Drucks. 18/9416, S. 50 f.) handelt es sich hierbei um eine bewusste Differenzierung, mit der der Gesetzgeber nur bestimmte schriftliche Erklärungen von Verteidigern oder Rechtsanwälten – nämlich nur solche, bei denen ausgeschlossen ist, dass sie in einer besonders eilbedürftigen Situation abzugeben sind – der strengen Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs unterwerfen wollte. Die Erklärungen der Rechtsmittelrücknahme und des Rechtsmittelverzichts fehlen in dem Katalog des § 32d Satz 2 StPO, was bei der Anwendung des Gesetzes unbeschadet des Umstandes, dass auch sie regelmäßig nicht eilbedürftig sind, hinzunehmen ist (so auch OLG Karlsruhe, aaO). Eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 32d Satz 2 StPO auf diese Prozesserklärungen ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt, der die Rechtsprechung veranlasst hat, für sie grundsätzlich dieselbe Form zu verlangen wie für die Einlegung des Rechtsmittels. Denn dieser besteht maßgeblich in dem Gedanken des Übereilungsschutzes; der Formzwang soll den zu der Erklärung Berechtigten zu einer gründlichen Prüfung des Für und Wider seines Schrittes veranlassen und ihn vor einer unüberlegten Entscheidung bewahren (vgl. , BGHSt 18, 257, 260). Dies gewährleisten aber bereits die Formanforderungen des § 341 Abs. 1 StPO, namentlich das hier gewahrte Schriftformerfordernis. Die für Rechtsanwälte geltenden Pflichten zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs sind hingegen weder geeignet noch bestimmt, diesen Schutz weiter zu erhöhen; sie sollen vielmehr lediglich sicherstellen, dass die vom Gesetzgeber gewollten Vorteile der elektronischen Aktenführung verwirklicht werden können (vgl. KK-StPO/Graf, 9. Aufl., § 32d Rn. 1). Sie auf die im Gesetz nicht genannten Prozesserklärungen nach § 302 StPO zu erweitern ist somit auch teleologisch nicht veranlasst.
7b) Der Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung steht auch nicht entgegen, dass sie nicht von demjenigen Pflichtverteidiger abgegeben worden ist, der auch die Revision eingelegt hatte (vgl. ). Die Verteidigerin war zu der Erklärung ermächtigt (§ 302 Abs. 2 StPO). Für diese Ermächtigung ist eine bestimmte Form nicht vorgeschrieben, so dass sie auch mündlich und telefonisch erteilt werden kann. Für ihren Nachweis genügt die anwaltliche Versicherung des Verteidigers (vgl. Rn. 5). Eine solche enthielt sowohl das Rücknahmeschreiben der Verteidigerin vom als auch deren weitere schriftliche Stellungnahme vom . Deren Beweiswirkung wird auch durch das von dem anderen Verteidiger eingereichte Schreiben der Beschuldigten vom nicht entkräftet. Denn aus diesem geht hervor, dass die Beschuldigte sich gerade nicht imstande sieht auszuschließen, dass sie ihrer Verteidigerin gegenüber – wie von dieser vorgetragen – eine Erklärung abgegeben habe, die als Ermächtigung „zu werten“ war.
8Die Beschuldigte hat die der Verteidigerin erteilte Ermächtigung auch nicht wirksam widerrufen. Ein Widerruf der Ermächtigung zur Revisionsrücknahme ist nur zulässig, solange die Rücknahmeerklärung noch nicht bei Gericht eingegangen ist (vgl. , NStZ-RR 2017, 185, 186). Dies war aber am bereits geschehen; ein zu einem früheren Zeitpunkt der Verteidigerin gegenüber erklärter Widerruf der Ermächtigung ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Ein Widerruf oder eine Anfechtung der Rücknahmeerklärung selbst kommt nicht in Betracht (vgl. Rn. 4 mwN).
9c) Schließlich bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschuldigte nicht in der Lage gewesen sein könnte, die Bedeutung der von ihr abgegebenen Erklärung zu erfassen (vgl. zur maßgeblichen prozessualen Handlungsfähigkeit Rn. 9 ff.; Beschluss vom – 1 StR 552/16, NStZ 2017, 487, 488 mwN). Zwar ist ausweislich der Urteilsgründe bei der Beschuldigten in der Kindheit eine Grenzbegabung (IQ 73) festgestellt worden und sie hat nur bis zu ihrem 14. Lebensjahr die Schule, eine Förderschule, besucht. Überdies besteht bei ihr eine paranoide Schizophrenie. Allerdings konnte deren Symptomatik durch die der Beschuldigten in der einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verabreichten antipsychotischen Medikamente erheblich vermindert werden, so dass im Urteilszeitpunkt Halluzinationen zwar noch vorhanden, aber nicht mehr handlungsleitend waren. Der Beschuldigten konnten ihre Erkrankung und die Bedeutung der medikamentösen Therapie jedenfalls oberflächlich vermittelt werden. Die Beschuldigte war ausweislich des im Freibeweisverfahren verwertbaren Akteninhalts (vgl. , NStZ 2017, 487, 488 mwN) zudem bereits während des laufenden landgerichtlichen Verfahrens in der Lage, sich mit schriftlichen Eingaben unter Angabe der Aktenzeichen an die Staatsanwaltschaft und „den zuständigen Richter“ zu wenden und auf in sich schlüssige Weise ihre Interessen wahrzunehmen, insbesondere ihre „Entlassung auf Bewährung aus dem Maßregelvollzug“ unter Äußerung des Bedauerns über die Anlasstaten und dem Versprechen, sich an etwaige Bewährungsauflagen halten zu wollen, anzuregen. Auch ihr Schreiben vom , mit dem sie nicht geltend macht, die Bedeutung einer von ihr erteilten Ermächtigung zur Zurücknahme der Revision nicht verstanden zu haben, sondern nur die Erteilung in Abrede stellt und eine etwa doch erklärte Ermächtigung widerruft, spricht für die Verhandlungsfähigkeit der Beschuldigten, welche im Übrigen auch das Landgericht – auf der Grundlage seines in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks – ohne weiteres angenommen hat.
103. Über die Beschwerde gegen den Kostenbeschluss des Landgerichts hat der Senat – wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat – nicht zu entscheiden, weil er nicht mit einer Revision gegen das landgerichtliche Urteil befasst ist (§ 464 Abs. 3 Satz 3 StPO).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:040723B4STR171.23.0
Fundstelle(n):
HAAAJ-45171