BSG Beschluss v. - B 9 SB 42/22 B

Nichtzulassungsbeschwerde - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - Klärungsbedürftigkeit - einander widersprechende Entscheidungen von Landessozialgerichten - unterschiedliche Rechtssätze zu Versorgungsmedizinischen Grundätzen - weitere Darlegungsanforderungen - Erforderlichkeit zusätzlicher Ausführungen zu einer möglichen Klärung der Fragen durch den Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin - Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen H - Hilflosigkeit - Beurteilung bei Kindern und Jugendlichen - Adrenogenitales Syndrom - Salzverlust - Übertragbarkeit der Regelungen zu Diabetes mellitus - doppelte Begründung des LSG - einzelfallbezogene Alternativbegründung - Entscheidungserheblichkeit

Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 152 Abs 4 SGB 9 2018, § 3 Abs 1 Nr 2 SchwbAwV, § 2 VersMedV, § 3 VersMedV, Anlage Teil A Nr 5 Buchst d DBuchst jj VersMedV, Anlage Teil B Nr 15.1 VersMedV

Instanzenzug: Az: S 178 SB 1106 /16 Urteilvorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 11 SB 65 /18 Urteil

Gründe

1I. In dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit hat das SG den Beklagten verurteilt, bei dem 2008 geborenen Kläger anstelle des bereits zuerkannten Grades der Behinderung (GdB) von 30 einen GdB von 40 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens H (Hilflosigkeit) festzustellen (Urteil vom ). Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen, weil sich der Therapieaufwand und die Gefährdung des an einem angeborenen adrenogenitalen Syndrom (AGS) mit 21-Hydroxylase-Defekt und Salzverlust leidenden Klägers in Notfallsituationen am unteren Rand der nach Teil B Nr 15.1 Abs 3 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (Versorgungsmedizinische Grundsätze <VMG>) bei einer insoweit vergleichbaren Zuckerkrankheit (Diabetes Mellitus) eröffneten GdB-Spanne von 30 bis 40 befänden. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf die Gewährung des Merkzeichens H, weil bei ihm kein Hilfebedarf in erheblichem Umfang bei häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens anzunehmen sei. Hilfe benötige er im Wesentlichen bei der Einnahme der Medikamente und nur dergestalt, dass die rechtzeitige Einnahme der Medikamente überwacht werden müsse. Die Notwendigkeit einer dauernden Beobachtung des Klägers sei durch den im Berufungsverfahren gehörten Sachverständigen nicht bestätigt worden. Eine Gleichstellung mit Kindern und Jugendlichen, für deren Erkrankungen in Teil A Nr 5 Buchst d VMG besondere Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H genannt seien, komme bereits wegen deren Differenziertheit nicht in Betracht. Jedenfalls wäre eine analoge Anwendung der in Teil A ausdrücklich genannten Erkrankungen bereits deshalb ausgeschlossen, weil vorliegend eine Vergleichbarkeit der Erkrankung des Klägers mit der in Teil A Nr 5 Buchst d Doppelbuchst jj VMG genannten Diabetes-mellitus-Erkrankung nicht gegeben sei (Urteil vom ).

2Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt und mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache begründet.

3II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Beschwerdebegründung genügt nicht der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form. Der Kläger hat den von ihm ausschließlich geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nicht in der danach vorgeschriebenen Weise dargelegt.

4Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sogenannte Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB - juris RdNr 5; - juris RdNr 6).

6Zur Klärungsbedürftigkeit verweist er auf die Rechtsprechung des LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom - L 13 SB 87/15 - juris RdNr 41; Urteil vom - L 9 SB 45/03 - juris RdNr 24) und des Bayerischen - juris RdNr 22 f). Diese LSGs sähen es in Anbetracht der Wertung in Teil A Nr 5 Buchst d Doppelbuchst jj VMG, wonach bei Diabetes mellitus bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres Hilflosigkeit angenommen werde, unter Gleichbehandlungsaspekten als gerechtfertigt an, Kindern bei angeborenem AGS mit Salzverlust oder einer vergleichbaren primären Nebennierenrindeninsuffizienz gleichfalls das Merkzeichen H bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres zuzuerkennen. Die aufgeworfene Rechtsfrage werde damit anders beantwortet als in der angegriffenen Entscheidung und durch das - juris RdNr 86; Urteil vom - L 6 SB 94/16 - juris RdNr 34).

7Der Kläger weist zwar zutreffend darauf hin, dass sich widersprechende Entscheidungen von LSGs grundsätzlich geeignet sind, die Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage zu begründen (vgl auch Meßling in Krasney/Udsching/Groth/Meßling, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 8. Aufl 2022, Kap IX RdNr 84; zu einer Ausnahme vgl - juris RdNr 3). Allerdings verhält sich die Beschwerdebegründung nicht dazu, ob und inwieweit nicht auch eine Klärung der aufgeworfenen Fragestellung durch den Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin in Betracht gezogen werden könnte. Denn nach der Rechtsprechung des BSG sind wegen der Rechtsnatur der VMG auch als antizipierte Sachverständigengutachten Zweifel an ihrem durch besondere medizinische Sachkunde geprägten Inhalt vorzugsweise durch Nachfrage bei dem Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin als dem fachlich verantwortlichen Urheber zu klären ( - SozR-4 <vorgesehen> - juris RdNr 27 ff; vgl auch - juris RdNr 7).

8Letztlich kann aber dahinstehen, ob der Kläger die Klärungsbedürftigkeit der von ihm formulierten Frage formgerecht dargelegt hat. Denn jedenfalls hat er deren Klärungsfähigkeit nicht schlüssig begründet. Zur Klärungsfähigkeit gehört auch, dass die Rechtsfrage in einem nach erfolgter Zulassung durchgeführten Revisionsverfahren entscheidungserheblich ist. Entscheidungserheblichkeit bedeutet, dass es für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits auf die Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfrage ankommt und die Entscheidung bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Beschwerdeführers in seinem Sinne hätte ausfallen müssen (stRspr; zB - juris RdNr 9 mwN). Daran mangelt es zB, wenn die Entscheidung der Berufungsinstanz auf verschiedene Begründungen gestützt wird, die nicht alle von der aufgeworfenen Rechtsfrage betroffen sind ( - juris RdNr 9; - SozR 4-1500 § 160a Nr 5 - juris RdNr 2 f), oder die Entscheidung aus anderen rechtlichen Gründen aufrechterhalten werden kann ( - juris RdNr 6).

9Vorliegend ergibt sich aus der Darstellung der Entscheidungsgründe des LSG auf Seite 16 der Beschwerdebegründung, dass sich das Berufungsgericht der Rechtsprechung des - juris RdNr 34 ff) angeschlossen hat, wonach in Bezug auf die Beurteilung der Voraussetzungen des Merkzeichens H bei anderen Gesundheitsstörungen als einem Diabetes mellitus ein Rückgriff auf Teil A Nr 5 Buchst d Doppelbuchst jj VMG grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Anschließend führt das LSG jedoch aus, dass eine analoge Anwendung der in Teil A (Nr 5 Buchst d VMG) ausdrücklich genannten Erkrankungen "jedenfalls" bereits deshalb ausgeschlossen sei, weil vorliegend eine Vergleichbarkeit der Erkrankung des Klägers mit der in Teil A Nr 5 Buchst d Doppelbuchst jj VMG genannten Diabetes-mellitus-Erkrankung nicht gegeben sei. In Bezug hierauf versäumt es der Kläger darzulegen, dass die angegriffene Entscheidung im angestrebten Revisionsverfahren unabhängig von der Beantwortung der von ihm formulierten Frage nicht schon deshalb aufrechtzuerhalten wäre, weil das LSG eine entsprechende Anwendung von Teil A Nr 5 Buchst d Doppelbuchst jj VMG nicht nur aus grundsätzlichen Erwägungen heraus, sondern auch wegen einer mangelnden Vergleichbarkeit im Einzelfall des Klägers abgelehnt hat. Hierzu hätte insbesondere deshalb Anlass bestanden, weil sich das LSG in der durch die Beschwerdebegründung wiedergegebenen Passage ausdrücklich auf die Feststellungen des im Berufungsverfahren gehörten Sachverständigen zum konkret beim Kläger vorliegenden Therapieaufwand bezieht. Anders als erforderlich ist aufgrund der Beschwerdebegründung nicht zu erkennen, dass sich die vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam herausgestellte Frage auch auf diese einzelfallbezogene alternative Begründung des LSG bezieht. Ebenso wenig wird dargelegt, dass die angestrebte Revisionsentscheidung auch in Bezug hierauf die erforderliche Breitenwirkung entfalten könnte.

10Dass der Kläger die Entscheidung des LSG inhaltlich für unrichtig hält, kann als solches nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; vgl zB - juris RdNr 10; - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4).

11Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

12Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:300523BB9SB4222B0

Fundstelle(n):
JAAAJ-42804