BSG Beschluss v. - B 5 R 3/23 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - gerügte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie auf ein faires Verfahren

Gesetze: § 62 SGG, § 106 Abs 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 227 Abs 1 ZPO, Art 6 Abs 1 S 1 MRK, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: Az: S 5 R 363/16 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 22 R 410/17 Urteil

Gründe

1I. Zwischen den Beteiligten besteht Streit darüber, ob der im Jahr 1964 geborene und zuletzt bei der D AG beschäftigte Kläger ab dem vom beklagten Rentenversicherungsträger eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung beanspruchen kann. Die Beklagte lehnte den im Juli 2015 gestellten Rentenantrag ab (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ). Eine Klage hiergegen nahm der Kläger Anfang 2016 zurück und stellte einen weiteren Rentenantrag. Die Beklagte hat auch den erneuten Antrag abschlägig beschieden, weil eine Minderung des Leistungsvermögens in rentenberechtigendem Umfang nicht vorliege (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ). Das SG hat ein neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten anfertigen lassen und darauf gestützt die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom ).

2Im Berufungsverfahren sind weitere Sachverständigengutachten eingeholt worden. Zuletzt ist die H. nach einer Untersuchung des Klägers am zu der Einschätzung gelangt, dass dessen quantitative Leistungsfähigkeit - anders als bei den vorangegangenen gutachtlichen Untersuchungen - mittlerweile auf unter drei Stunden täglich gesunken sei. Daraufhin hat die Beklagte ein Vergleichsangebot zur Zahlung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem unterbreitet. Der Kläger hat jedoch auf einer Rentenzahlung ab 2015 bestanden. Das Berufungsgericht hat sodann zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung von der Beklagten einen aktuellen Versicherungsverlauf angefordert. Dieser ist am bei Gericht eingegangen und am den Prozessbevollmächtigten des Klägers übersandt worden. Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen sowie die Klage gegen zwischenzeitlich ergangene, nach § 96 SGG verfahrensgegenständlich gewordene weitere Bescheide abgewiesen (Urteil vom ). Zwar sei der Kläger nach dem überzeugenden Gutachten von H ab dem voll erwerbsgemindert. Zu diesem Zeitpunkt erfülle er aber nicht mehr die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

3Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt. Er rügt einen Verfahrensmangel.

4II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Der Kläger hat einen Verfahrensmangel nicht hinreichend bezeichnet. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.

5Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die Umstände, aus denen sich der Verfahrensfehler ergeben soll, substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist es erforderlich darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

6Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Der Kläger macht eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) geltend. Das LSG habe eine Überraschungsentscheidung getroffen, indem es auf das Fehlen der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung ab dem abgestellt habe. Dieser Gesichtspunkt sei in der mündlichen Verhandlung am erstmals erörtert worden. Das sei für ihn völlig unvorhersehbar gewesen und habe dem Rechtsstreit eine Wende gegeben, mit der er nicht habe rechnen müssen.

7Mit diesem Vorbringen sind Umstände, aus denen sich - ihr Vorliegen unterstellt - eine unzulässige Überraschungsentscheidung ergibt, nicht schlüssig aufgezeigt. Zwar lässt der Vortrag erkennen, dass der Kläger selbst vom weiteren Verlauf des Berufungsverfahrens nach seiner Ablehnung des von der Beklagten unterbreiteten Vergleichsangebots überrascht war. Eine Überraschungsentscheidung, die den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzt, setzt jedoch mehr als das Erwarten einer anderen Entscheidung des Gerichts, ein subjektives "Überrascht sein", voraus. Das Verfahrensgrundrecht des rechtlichen Gehörs soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung des Gerichts überrascht werden, die auf Tatsachen, Beweisergebnissen oder Rechtsauffassungen beruht, zu denen sie sich vor Erlass der Entscheidung nicht äußern konnten (vgl zB BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 2 BvR 2222/21 - NJW 2022, 3413 RdNr 26; BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 1019/22 - juris RdNr 23). Deshalb kann eine unzulässige Überraschungsentscheidung nur angenommen werden, wenn das Gericht zur Grundlage seiner Entscheidung einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfG aaO; s auch - juris RdNr 4; - juris RdNr 9). Nach den eigenen Angaben des Klägers ist in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG vorgetragen worden, "dass nach dem Versicherungsverlauf vom die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung ab dem nicht vorlägen". Dass dieser Gesichtspunkt, auf den sich das anschließend verkündete Urteil des LSG maßgeblich gestützt hat, nicht erörtert worden wäre, ergibt sich daraus nicht (zur Erteilung eines rechtlichen Hinweises als geeignetes Mittel zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung vgl - juris RdNr 12 mwN).

8Der Kläger sieht eine Gehörsverletzung vielmehr hauptsächlich darin begründet, dass er wegen der kurzfristig eingetretenen Entwicklung keine Möglichkeit gehabt habe, in der mündlichen Verhandlung adäquat zur Frage der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen Stellung zu nehmen (vgl zu diesem Gesichtspunkt - juris RdNr 24 mwN; - juris RdNr 20). Insoweit lässt die Beschwerdebegründung jedoch nicht erkennen, dass er alles Zumutbare unternommen hat, um sich durch Ausschöpfung der vom Prozessrecht eröffneten Möglichkeiten ausreichend Gehör vor Gericht zu verschaffen (vgl zu diesem Erfordernis bei der Rüge einer Gehörsverletzung zB BVerfG <Kammer> - BVerfGK 17, 479 = juris RdNr 28; - juris RdNr 9). Zwar meint der Kläger, das LSG hätte die mündliche Verhandlung vertagen müssen, um ihm mehr Zeit zur Prüfung und sachgerechten Stellungnahme zu geben. Seine Ausführungen lassen aber nicht erkennen, dass er (bzw sein Prozessbevollmächtigter) einen entsprechenden Vertagungsantrag gegenüber dem LSG angebracht hat (vgl dazu zB - juris RdNr 9; - juris RdNr 9). Wird ein solcher Vertagungsantrag - insbesondere von einem sachkundig vertretenen Beteiligten - nicht gestellt, darf das Gericht selbst nach Erörterung völlig neuer Gesichtspunkte in der mündlichen Verhandlung davon ausgehen, dass die Beteiligten ausreichend Gelegenheit hatten, sich zur Sach- und Rechtslage substanziell zu äußern.

9Entsprechendes gilt, soweit der Kläger aufgrund der vom LSG unterlassenen Vertagung des Rechtsstreits auch seinen Anspruch auf ein faires Verfahren (vgl Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG, Art 6 Abs 1 Satz 1 EMRK) verletzt sieht. Aus dem Vortrag des Klägers ergibt sich nicht, dass das LSG die ihm gegenüber in der konkreten Situation gebotene Rücksichtnahme außer Acht gelassen hätte (vgl dazu BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 2 BvR 1731/18 - juris RdNr 22 ff mwN). Eine Rücksichtnahme auf die Situation des Klägers durch Vertagung des Rechtsstreits war jedenfalls ohne einen darauf zielenden Vertagungsantrag nicht geboten. § 106 Abs 2 SGG fordert nicht zuletzt im Interesse der Beteiligten, den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Soll davon ausschließlich mit Rücksicht auf die persönliche Situation eines Beteiligten ausnahmsweise abgewichen werden, so widerspricht es nicht der Fairness, wenn von dem Beteiligten erwartet wird, dass er einen Vertagungsantrag stellt, falls er meint, dass das zur Wahrnehmung seiner berechtigten Interessen erforderlich ist.

10Den weiteren Vortrag der Ehefrau des Klägers, die sich unter Berufung auf eine Vollmacht im Schreiben vom zur Sache geäußert hat, darf der Senat bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigen (vgl § 73 Abs 4 SGG).

11Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

12Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 183 Satz 1 iVm § 193 Abs 1 und 4 SGG.Düring                Körner                Gasser

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:170423BB5R323B0

Fundstelle(n):
LAAAJ-41973