BGH Beschluss v. - 4 StR 462/22

Beweiswürdigungsanforderungen in besonderen Beweissituationen

Gesetze: § 261 StPO

Instanzenzug: LG Hagen (Westfalen) Az: 41 KLs 9/21

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen und sexuellen Missbrauchs von Kindern in 574 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg und ist im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

21. Das Landgericht hat – soweit hier von Bedeutung – die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:

3a) An zwölf nicht näher festgestellten Tagen in den Jahren 2017 und 2018 veranlasste der Angeklagte die am geborene A.   P.   , mit der und deren Mutter er seinerzeit zusammenlebte, ihn mit der Hand zu befriedigen. Die Geschädigte musste dabei jeweils von unten in die Boxershorts des im Übrigen unbekleideten, in Bauchlage auf einem Bett liegenden Angeklagten greifen und seinen Penis bis zum Samenerguss „massieren“. In 553 weiteren Fällen berührte der Angeklagte zu nicht näher festgestellten Zeitpunkten zwischen dem und dem die Geschädigte A.    P.   „in sexuell bestimmter Weise“ unter ihrer Kleidung entweder an ihrem Gesäß, ihren Brüsten oder ihrer Scheide.

4b) Der Angeklagte hat zu den Tatvorwürfen geschwiegen. Das Landgericht hat seine Überzeugung maßgeblich auf die Angaben der Geschädigten A.   P.   in einer polizeilichen Vernehmung vom gestützt, welche es durch die Zeugenaussage der Vernehmungsbeamtin in die Hauptverhandlung eingeführt hat. Nach deren Angaben hatte die Geschädigte in jener Vernehmung den Angeklagten entsprechend den Feststellungen belastet. Das Tatgeschehen habe mit dem „Anfassen“ begonnen, als sie sieben oder acht Jahre alt gewesen sei. Der Angeklagte habe sie sowohl ober- als auch unterhalb ihrer Kleidung an den festgestellten Körperstellen berührt, wozu es bei unterschiedlichen Gelegenheiten an fast jedem Tag außer an Tagen, an denen sie „ihre Periode“ gehabt habe, gekommen sei. Die Handverkehre hätten – in der festgestellten Weise – immer im Bett des Angeklagten und der Mutter der Geschädigten stattgefunden, wohin der Angeklagte sie zu diesem Zweck gerufen habe. Zudem sei der Angeklagte mehrfach gegen ihre Mutter und ihren Halbbruder gewalttätig geworden.

5In einer weiteren Vernehmung durch die Polizei sowie in der Hauptverhandlung bei dem Landgericht gab A.   P.   dann an, dass sie am bei der Polizei die Unwahrheit gesagt habe. Die ihre Person betreffenden Tatvorwürfe gegen den Angeklagten träfen nicht zu; gewalttätig sei der Angeklagte allerdings gewesen, auch gegen sie. In der Hauptverhandlung sagte A.   P.   aus, dass es weder die sexuellen Übergriffe noch die Gewalttätigkeiten des Angeklagten gegeben habe. Sie habe den Angeklagten wahrheitswidrig belastet, weil er immer so streng zu ihr gewesen sei.

62. Die Beweiswürdigung des Landgerichts betreffend die Taten zum Nachteil der A.   P.   hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

7a) Allerdings ist die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts, dem es allein obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. nur Rn. 16; Beschluss vom – 4 StR 434/19 Rn. 7, jew. mwN).

8Besondere Beweissituationen, wozu namentlich die Konstellationen gehören, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht oder das Tatgericht sich auf die Angaben eines Zeugen vom Hörensagen stützt, stellen dabei erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung ( Rn. 11 ff. mwN) und ihre Darlegung in den schriftlichen Urteilsgründen (vgl. ‒ 4 StR 30/22 Rn. 6 mwN).

9b) Diesen Anforderungen, die hier aus mehrfachem Grund zu beachten waren, weil sich das Landgericht bei Schweigen des Angeklagten auf die durch die Vernehmungsbeamtin eingeführten Angaben der Zeugin A.    P.   gestützt hat, welche diese selbst später als unwahr bezeichnet hatte, wird das Urteil nicht gerecht. Zwar hat das Landgericht ausdrücklich nicht verkannt, dass es eine Situation zu beurteilen hatte, in der die „hohen Anforderungen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ zu beachten waren, und es war auch nicht grundsätzlich gehindert, der Aussage der Zeugin in ihrer ersten polizeilichen Vernehmung Glauben zu schenken und die spätere Rücknahme dieser Angaben durch die Zeugin für unwahr zu halten.

10Die Ausführungen, mit denen das Landgericht diese Überzeugung begründet hat, bleiben jedoch unklar und sind daher rechtsfehlerhaft im oben bezeichneten Sinn. Das Urteil gibt den von der Vernehmungsbeamtin bekundeten Inhalt der den Angeklagten belastenden ersten Aussage der Zeugin bei der Polizei nicht – wie geboten – in einer Weise wieder, die es dem Senat ermöglichen würde, die Glaubhaftigkeitsbeurteilung der Strafkammer nachzuvollziehen. Für maßgeblich hat das Landgericht unter anderem gehalten, dass die Aussage der A.   P.   einen – angesichts der Vielzahl gleichförmiger Taten innerhalb eines mehrjährigen Tatzeitraums – relativ hohen Detaillierungsgrad aufgewiesen habe. Die Bekundungen der Zeugin seien sehr ausführlich gewesen und diese habe, wie von der Vernehmungsbeamtin bekundet worden sei, sämtliche ihrer Nachfragen „letztendlich weitgehend schlüssig erläutern“ können. Diese Würdigung lässt allerdings im Unklaren, ob und in welcher Hinsicht das Landgericht verbleibende Schlüssigkeitsdefizite bei der Beantwortung von Nachfragen der Polizeibeamtin durch die Zeugin gesehen und warum es diese gegebenenfalls für unerheblich gehalten hat. Zwar enthalten die Urteilsgründe nähere Ausführungen zum Inhalt der (ersten) Aussage der Zeugin und zu Nachfragen, die die Vernehmungsbeamtin ihr hierbei gestellt habe. Aus dieser Darstellung ergeben sich aber keine Hinweise auf etwaige Unstimmigkeiten, die die Zeugin A.   P.    lediglich „weitgehend schlüssig“ aufzuklären vermochte. Der Senat kann daher auch nicht sicher nachvollziehen, ob die Strafkammer hier selbst – letztlich für überwindbar gehaltene – Restzweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussage gesehen oder sich lediglich einer von ihr nur wiedergegebenen Bewertung der Vernehmungsbeamtin angeschlossen hat.

113. Die Sache bedarf daher in Bezug auf die Taten zum Nachteil der A.   P.    neuer Verhandlung und Entscheidung.

124. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

13a) Den Verfahrensrügen des Angeklagten bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts der Erfolg versagt.

14b) Auch in sachlich-rechtlicher Hinsicht hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keine weiteren Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Die Strafkammer hat ihre Überzeugung hinsichtlich der Taten in den übrigen Fällen (zum Nachteil der Geschädigten G.    P.   ) nicht auf die belastenden Angaben der Zeugin A.   P.   in deren erster polizeilicher Vernehmung gestützt.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:250423B4STR462.22.0

Fundstelle(n):
TAAAJ-41175