BGH Beschluss v. - XIII ZB 76/20

Kostenfestsetzung: Vergütung des im Abschiebeverfahren tätigen Rechtsanwalts

Gesetze: Nr 6300 RVG-VV, Nr 6301 RVG-VV, Nr 6302 RVG-VV

Instanzenzug: LG Stade Az: 9 T 96/20vorgehend AG Cuxhaven Az: 3 XIV 2371 B

Gründe

1I. Der Betroffene, ein türkischer Staatsangehöriger, hielt sich im Gebiet der Bundesrepublik auf, obwohl er ausreisepflichtig war.

2Am wurde er festgenommen. Mit Beschluss vom gleichen Tag ordnete das Amtsgericht gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung bis zum an. Auf die hiergegen gerichtete Beschwerde des von Rechtsanwalt K. vertretenen Betroffenen stellte das Beschwerdegericht fest, dass der die Haft anordnende Beschluss des Amtsgerichts den Betroffenen bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts in seinen Rechten verletzte. Im Übrigen wies es die Beschwerde zurück und hielt die Haftanordnung aufrecht.

3Im Kostenfestsetzungsverfahren setzte das Amtsgericht zugunsten von Rechtsanwalt K. eine Verfahrensgebühr nach VV-RVG Nr. 6300, eine Terminsgebühr nach VV-RVG Nr. 6301, eine Entgeltpauschale nach VV-RVG Nr. 7002 und Umsatzsteuer nach VV-RVG Nr. 7008 fest.

4Mit Schriftsatz vom hat der Betroffene, nunmehr vertreten durch Rechtsanwalt F., die Aufhebung der Haft und die Feststellung der Verletzung seiner Rechte seit Eingang des Aufhebungsantrags beantragt. Mit Schriftsatz vom hat der Betroffene weitergehend die Feststellung beantragt, dass seine vorläufige Ingewahrsamnahme durch die beteiligte Behörde bis zum Erlass der Haftanordnung vom rechtswidrig gewesen sei.

5Nach Ablauf der Haftzeit hat das die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme festgestellt. Mit weiterem Beschluss vom hat es - nachdem es bereits mit Beschluss vom dem Betroffenen für das Haftaufhebungsverfahren Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt F. gewährt hatte - festgestellt, dass die Haftanordnung den Betroffenen seit Eingang des Aufhebungsantrags in seinen Rechten verletzt hat. Mit Beschluss vom hat das Amtsgericht seinen Beschluss vom ergänzt und ausgesprochen, dass die Gerichtskosten und die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Landeskasse zur Last fallen.

6Auf Grundlage des Beschlusses von hat das zugunsten von Rechtsanwalt F. die im Haftaufhebungsverfahren zu erstattenden Kosten in Höhe einer Verfahrensgebühr nach VV-RVG Nr. 6302, einer Pauschale für die Herstellung von Kopien nach VV-RVG Nr. 7000 Nr. 1 Buchst. a, einer Entgeltpauschale nach VV-RVG Nr. 7002 und Umsatzsteuer nach VV-RVG Nr. 7008 gegen die Stadt C. festgesetzt. Für das Verfahren zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme hat das eine Verfahrensgebühr nach VV-RVG Nr. 6300, eine Entgeltpauschale nach VV-RVG Nr. 7002 und Umsatzsteuer nach VV-RVG Nr. 7008 festgesetzt.

7Gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom im Haftaufhebungsverfahren hat die Stadt C. Beschwerde eingelegt und geltend gemacht, dass sie nach der Kostengrundentscheidung des Amtsgerichts nicht die richtige Kostenschuldnerin sei. Mit Beschluss vom hat das Amtsgericht der Beschwerde der Stadt C. abgeholfen und die dem Betroffenen zu erstattenden Kosten im gleichen Umfang gegen die weitere Beteiligte (Landeskasse) festgesetzt. Die von der Landeskasse dagegen erhobene Beschwerde hat das Beschwerdegericht mit Beschluss vom zurückgewiesen. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Landeskasse ihr Begehren weiter.

8II. Die nach § 85 FamFG, § 104 Abs. 3, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 575 ZPO) Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

91. Das Beschwerdegericht meint, für die Tätigkeit im Haftaufhebungsverfahren könne Rechtsanwalt F. eine Verfahrensgebühr nach VV-RVG Nr. 6302 und eine Pauschale nach VV-RVG Nr. 7002 verlangen, weil das Haftaufhebungsverfahren ein vom Verfahren über die Anordnung und Überprüfung der Sicherungshaft verschiedenes Verfahren sei. Da es sich mithin um zwei Angelegenheiten handele, gelte die für das Anordnungsverfahren zugunsten des Rechtsanwalts K. festgesetzte Gebühr nach VV-RVG Nr. 6300 nicht die Tätigkeit des Rechtsanwalts F. im Aufhebungsverfahren ab. Auch die im Verfahren über die Feststellung der Rechtswidrigkeit der vorläufigen Ingewahrsamnahme festgesetzte Verfahrensgebühr nach VV-RVG Nr. 6300 decke die Tätigkeit des Verfahrensbevollmächtigten im Haftaufhebungsverfahren nicht mit ab.

102. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand. Das Beschwerdegericht hat zutreffend angenommen, dass der Verfahrensbevollmächtigte nach VV-RVG Nr. 6302 für seine Tätigkeit im Verfahren über die Aufhebung der Freiheitsentziehung eine Verfahrensgebühr neben den Verfahrensgebühren erhält, die das Amtsgericht nach VV-RVG Nr. 6300 zugunsten des Rechtsanwalts K. im Haftanordnungsverfahren und in dem weiteren vom jetzigen Verfahrensbevollmächtigten geführten Verfahren gegen die behördlich angeordnete Freiheitsentziehung festgesetzt hat.

11a) Die Vergütung des Rechtsanwalts für die Tätigkeit im gerichtlichen Verfahren bei Freiheitsentziehungen richtet sich nach den in Teil 6, Abschnitt 3 des Vergütungsverzeichnisses der Anlage 1 zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz enthaltenen Sonderregelungen. Nach der gesetzlichen Anmerkung zu VV-RVG Nr. 6302 entsteht eine Verfahrensgebühr für jeden Rechtszug des Verfahrens über die Verlängerung (§ 425 FamFG) oder Aufhebung (§ 426 Abs. 2FamFG) einer Freiheitsentziehung. Bei dem Antrag des Verfahrensbevollmächtigten vom handelt es sich um einen Antrag auf Aufhebung einer Freiheitsentziehung nach § 426 Abs. 2 FamFG, der eine Verfahrensgebühr nach VV-RVG Nr. 6302 auslöst.

12b) Die Tätigkeit des Verfahrensbevollmächtigten im Haftaufhebungsverfahren ist nicht durch andere Gebührentatbestände abgegolten. Weder das Haftanordnungsverfahren noch das gegen die behördliche Ingewahrsamnahme gerichtete Verfahren bilden im Verhältnis zum Haftaufhebungsverfahren dieselbe Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 RVG, wonach der Rechtsanwalt die Gebühren in derselben Angelegenheit nur einmal fordern kann.

13aa) Die Annahme derselben Angelegenheit im gebührenrechtlichen Sinne setzt einen einheitlichen Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit voraus. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs betreffen weisungsgemäß erbrachte anwaltliche Leistungen in der Regel dieselbe Angelegenheit, wenn zwischen ihnen ein innerer Zusammenhang besteht und sie sowohl inhaltlich als auch in der Zielsetzung so weitgehend übereinstimmen, dass von einem einheitlichen Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit gesprochen werden kann (, AfP 2009, 394 Rn. 23; vom - VI ZR 214/10, NJW 2011, 3657 Rn. 22; vom - I ZR 150/18, ZIP 2020, 242 Rn. 24 - Der Novembermann).

14Soweit der Auftrag die Wahrnehmung der Interessen in gerichtlichen Verfahren betrifft, bildet das gerichtliche Verfahren in einem Rechtszug regelmäßig eine Angelegenheit (, NJW-RR 2016, 883 Rn. 7; Ahlmann in Riedel/Sußbauer, RVG, 10. Aufl., § 15 Rn. 10; Mayer in Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl., § 15 Rn. 5 f., 14). Das gilt allerdings nicht nur dann, wenn mehrere Ansprüche gegen zwei unterschiedliche Parteien zum Gegenstand eines Gerichtsverfahrens gemacht werden, sondern im Grundsatz auch für den umgekehrten Fall, dass ein Recht einer Person in unterschiedlichen Gerichtsverfahren zur Geltung gebracht werden soll.

15Anhaltspunkte für eine gebührenrechtliche Selbständigkeit können sich insbesondere aus der Systematik des gesetzlichen Gebührenverzeichnisses ergeben, wenn dort für die Tätigkeit des Rechtsanwalts in unterschiedlichen Verfahren gesonderte Gebührentatbestände vorgesehen sind.

16bb) Bei dem hier in Rede stehenden Haftaufhebungsverfahren handelt es sich im Verhältnis zum Haftanordnungsverfahren um ein eigenständiges Verfahren mit unterschiedlichen Voraussetzungen, das mit Blick auf die von Art. 104 GG hervorgehobene Bedeutung des Freiheitsgrundrechts sicherstellen soll, dass eine angeordnete Haft aufgehoben wird, wenn die Haftanordnung fehlerhaft war oder der Betroffene durch die Fortdauer der Haft in seinen Rechten verletzt wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XIII ZB 82/19, InfAuslR 2020, 387 Rn. 23; vom - XIII ZB 52/20, juris Rn. 14). Der Betroffene darf unabhängig von der Einlegung und Durchführung einer Beschwerde gegen die Haftanordnung eine Aufhebung der Haft gemäß § 426 Abs. 2 Satz 1 FamFG beantragen (vgl. , InfAuslR 2020, 387 Rn. 8 ff.). Solange er sich in Haft befindet, kann er daher sowohl vor als auch nach Eintritt formeller Rechtskraft im Haftanordnungsverfahren die Aufhebung der Haft ab dem Zeitpunkt des Eingangs des Haftaufhebungsantrags bei Gericht beantragen. Die Haftanordnung kann damit nicht in materielle Rechtskraft erwachsen (, juris Rn. 13 f.).

17(1) Hat sich der Haftaufhebungsantrag - wie hier - durch die Entlassung des Betroffenen erledigt und begehrt der Betroffene gemäß § 62 FamFG die Feststellung, durch die Haft ab dem Zeitpunkt des Eingangs des Haftaufhebungsantrags bei Gericht in seinen Rechten verletzt zu sein, kann über den Gegenstand dieses Antrags - anders als bei der Aufhebung einer noch andauernden Haft - aber nur einmal abschließend entschieden werden (vgl. , juris Rn. 21). Nach Eintritt der Erledigung sperrt daher der zuerst rechtshängig gewordene Feststellungsantrag den inhaltsgleichen Antrag im anderen Verfahren. Kommt es in einem dieser Verfahren zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Feststellungsantrag, bleibt es dabei.

18(2) Hier liegt eine solche rechtskräftige Entscheidung für den Zeitraum ab Erlass der Beschwerdeentscheidung im Haftanordnungsverfahren aber nicht vor. Die Beschwerdeentscheidung im Haftanordnungsverfahren stellte zwar die Rechtswidrigkeit der Haft bis zur Entscheidung fest, hielt aber die noch andauernde Haft aufrecht. Da eine im Haftanordnungsverfahren ergangene Entscheidung über die Rechtswidrigkeit der Haft keine in die Zukunft gerichtete Feststellungswirkung hat (, juris Rn. 9), steht sie einer Entscheidung über die Rechtswidrigkeit der Haft im Aufhebungsverfahren nicht entgegen, soweit damit - wie hier - Zeiträume im Anschluss an die Entscheidung im Anordnungsverfahren erfasst werden sollen. Anders als die Rechtsbeschwerde meint, stand daher die Entscheidung des Beschwerdegerichts vom im Anordnungsverfahren der auf Antrag des Verfahrensbevollmächtigten vom ergangenen Entscheidung des Amtsgerichts im Aufhebungsverfahren nicht entgegen. Daran ändert auch die formelle Rechtskraft der Entscheidung vom nichts.

19(3) Die Eigenständigkeit von Anordnungs- und Aufhebungsverfahren hat sich auch in den Sonderregelungen der Gebührentatbestände gemäß Teil 6, Abschnitt 3 des Vergütungsverzeichnisses der Anlage 1 zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz niedergeschlagen. Danach richtet sich die Verfahrensgebühr für das Haftanordnungsverfahren gemäß Anlage 1 nach VV-RVG Nr. 6300, während VV-RVG Nr. 6302 die Verfahrensgebühr für das Aufhebungsverfahren regelt (v. Seltmann in BeckOK RVG, Einl. VV-RVG 6300; Schmitt in Toussaint, Kostenrecht, 53. Aufl., VV-RVG 6300 Rn. 17; Toussaint in: Toussaint, Kostenrecht, 53. Aufl., § 15 RVG Rn. 32 "Freiheitsentziehungsverfahren").

20cc) Die Tätigkeit des Verfahrensbevollmächtigten im Haftaufhebungsverfahren ist auch nicht durch die Gebühren abgegolten, die das Amtsgericht für das gegen die behördliche Ingewahrsamnahme gerichtete Verfahren festgesetzt hat. Das folgt schon daraus, dass sich dieses Verfahren gegen eine von der gerichtlichen Haftanordnung verschiedene Maßnahme der Freiheitsentziehung (, InfAuslR 2021, 289 Rn. 29) richtet, die einen selbständigen Verfahrensgegenstand bildet (, juris Rn. 13). Dieses Verfahren stellt daher ebenfalls eine eigene Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 RVG dar.

21c) Die Festsetzung der Gebühren ist auch im Übrigen nicht zu beanstanden. Ob das Amtsgericht C. oder das Amtsgericht H. für die Entscheidung über den Haftaufhebungsantrag zuständig war, kann auf sich beruhen, weil Einwände gegen die gerichtliche Zuständigkeit nicht im Kostenfestsetzungsverfahren geltend gemacht werden können (vgl. , MDR 2017, 1027 Rn. 7).

223. Die Kostenentscheidung beruht auf § 85 FamFG i.V.m. § 97 Abs. 1 ZPO (vgl. , NJW-RR 2014, 186 Rn. 21 mwN). Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 1 GNotKG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:210323BXIIIZB76.20.0

Fundstelle(n):
YAAAJ-40936