Rechtsbeschwerde im Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung: Rüge unzulässiger Beschränkung der Verteidigung durch Nichtüberlassung von Rohmessdaten
Gesetze: § 62 OWiG, § 79 Abs 3 S 1 OWiG, § 338 Nr 8 StPO, Art 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 6 Abs 1 S 1 MRK
Instanzenzug: Az: 3 OWi 32 SsBs 99/21 Vorlagebeschluss
Gründe
I.
1Die Zentrale Bußgeldstelle des Polizeipräsidiums Rheinpfalz erließ am einen Bußgeldbescheid gegen den Betroffenen mit einem Fahrverbot wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h. Nach seinem form- und fristgerechten Einspruch gegen den Bußgeldbescheid beantragte der Betroffene durch seinen Verteidiger zur Überprüfung der Verlässlichkeit der dem Ordnungswidrigkeitenvorwurf zugrundeliegenden Geschwindigkeitsmessung gegenüber der Verwaltungsbehörde Einsicht in verschiedene Unterlagen sowie die Übermittlung näher bezeichneter Daten, insbesondere der Falldatensätze der „gesamten tatgegenständlichen Messreihe“ mit den Rohmessdaten bzw. Einzelmesswerten. Insoweit lehnte die Zentrale Bußgeldstelle eine Zurverfügungstellung der begehrten Daten ab. Dies bestätigte das Amtsgericht Alzey nach einem Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG). Ein weiteres, im Anschluss an die Vorlage der Akten an das Amtsgericht gestelltes Einsichts- und Übermittlungsersuchen des Betroffenen blieb ebenfalls ohne Erfolg.
2In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Alzey erneuerte der Betroffene sein Einsichtsbegehren nicht. Eine für den Termin bevollmächtigte Verteidigerin des vom persönlichen Erscheinen entbundenen Betroffenen erklärte vielmehr, dass die Ordnungsgemäßheit der Messung nicht bestritten werde.
3Das Amtsgericht Alzey hat den Betroffenen mit Urteil vom wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h zu einer Geldbuße von 195 € verurteilt und ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat verhängt. Nach den Feststellungen überschritt der Betroffene bei der Fahrt mit einem Pkw auf einer Bundesautobahn die an der Messstelle durch Verkehrszeichen auf 100 km/h beschränkte Höchstgeschwindigkeit unter Berücksichtigung der Messtoleranz um 46 km/h. Dem lag eine Geschwindigkeitsmessung mit dem ESO-Einseitensensor ES 3.0 zugrunde.
4Gegen dieses Urteil hat der Betroffene form- und fristgerecht Rechtsbeschwerde eingelegt und das Rechtsmittel mit Verfahrensbeanstandungen und der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet. Mit den Verfahrensrügen beanstandet er unter den Gesichtspunkten einer Verletzung des fairen Verfahrens und einer – im Hinblick auf die Versagung des Rechts auf „Akteneinsicht“ – unzulässigen Beschränkung der Verteidigung unter anderem die unterbliebene Übermittlung der Rohmessdaten der gesamten Messreihe.
II.
5In der Sache möchte das Oberlandesgericht Koblenz die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 349 Abs. 2 StPO verwerfen. Es hält die Verfahrensbeanstandungen nur insoweit für zulässig, als dem Betroffenen die Zurverfügungstellung der vorhandenen Rohmessdaten der Tagesmessreihe versagt wurde, obwohl er das Zugangsersuchen sowohl im Verfahren vor der Bußgeldbehörde als auch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht habe. Die in diesem Umfang zulässig erhobenen Verfahrensrügen erachtet das Oberlandesgericht als unbegründet. Dem Informationsinteresse des Betroffenen in Bezug auf die Falldateien der Tagesmessreihe, aus denen grundsätzlich nicht auf eine Fehlerhaftigkeit der verfahrensgegenständlichen Messung geschlossen werden könne, sei kein Vorrang vor den durch die Gewährung des Informationszugangs erheblich beeinträchtigten Persönlichkeitsrechten und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung anderer Verkehrsteilnehmer sowie der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege einzuräumen.
6An der beabsichtigten Verwerfung der Rechtsbeschwerde sieht sich das Oberlandesgericht Koblenz durch die Entscheidungen des (VRS 140, 33) und des (ZfSch 2021, 709) gehindert. Das Oberlandesgericht Koblenz versteht diese Beschlüsse dahin, dass es den Verwaltungsbehörden und Bußgeldgerichten aus Rechtsgründen verwehrt sei, dem Betroffenen die von ihm im Rahmen eines Auskunftsersuchens begehrte Einsicht in die Tagesmessreihe zu versagen. Es hat die Sache daher mit Beschluss vom (DAR 2022, 218) gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof zur Beantwortung folgender Rechtsfrage vorgelegt:
„Darf ein in einem standardisierten Messverfahren (hier: ESO-Einseitensensor ES 3.0 - Softwareversion 1.007.2) ermitteltes Messergebnis den Urteilsfeststellungen zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zugrunde gelegt werden, wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen Rohmessdaten der Tagesmessreihe, die nicht zur Bußgeldakte gelangt sind, zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, oder beinhaltet dies eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG) bzw. eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung des Betroffenen (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG iVm. § 338 Nr. 8 StPO)?“
7Der Generalbundesanwalt, der die Vorlegung für zulässig hält, hat beantragt zu beschließen:
„Es stellt für sich genommen noch keinen Verstoß gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens dar, wenn in einem Bußgeldverfahren wegen des Vorwurfs einer Geschwindigkeitsüberschreitung im Straßenverkehr einem Antrag des Betroffenen oder seines Verteidigers auf Einsicht in Messdaten aus Bußgeldverfahren gegen andere Betroffene, die am selben Tag mit demselben Messgerät erhoben worden sind, bis zum tatrichterlichen Urteil nicht nachgekommen wird, sofern dieser lediglich mit der abstrakten Möglichkeit, hierdurch an verteidigungsrelevante Informationen zu gelangen, begründet wird, ohne nachvollziehbar darzulegen, welche für die Messreihe spezifischen und für die Beurteilung der konkreten Messung relevanten Aufschlüsse sich daraus möglicherweise ergeben könnten.“
III.
8Die Sache ist an das Oberlandesgericht Koblenz zurückzugeben, denn die Vorlegungsvoraussetzungen des § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG sind zu verneinen. Der Annahme des Oberlandesgerichts, die dem Bundesgerichtshof vorgelegte Frage sei entscheidungserheblich, liegt die nicht mehr vertretbare rechtliche Bewertung einer Vorfrage zugrunde. Damit ist der Senat an die vom Oberlandesgericht bejahte Entscheidungserheblichkeit nicht gebunden (vgl. hierzu Rn. 8, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen; Beschluss vom – 4 StR 652/17, NStZ-RR 2019, 60, 61; Beschluss vom – 1 StR 361/87, BGHSt 35, 238, 240 ff.; Gittermann in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 121 GVG Rn. 78; Feilcke in KK-StPO, 9. Aufl., § 121 GVG Rn. 43 f.; Quentin in SSW-StPO, 5. Aufl., § 121 GVG Rn. 22; jeweils mwN).
91. Die Vorlegungsfrage kann für die Entscheidung des Oberlandesgerichts nur erheblich sein, wenn der Betroffene sein Begehren, Zugang zu den Rohmessdaten der Tagesmessreihe zu erhalten, im behördlichen und gerichtlichen Verfahren in ausreichender Weise geltend gemacht hat (vgl. zu den Anforderungen allgemein etwa 3 Ws (B) 84/21, juris Rn. 7). Hiervon geht das Oberlandesgericht Koblenz auch aus. Es hat jedoch die rechtliche Bedeutung des Umstands verkannt, dass der Betroffene sein Zugangsgesuch – anders als in den Fällen, die den als divergierend angesehenen Entscheidungen zugrunde lagen (vgl. zudem OLG Stuttgart, VRS 140, 319) – nicht in der Hauptverhandlung erneuert hat. Damit kann seinen Verfahrensrügen, die sich auf die verweigerte Einsichtnahme in die Rohmessdaten stützen, von vornherein kein Erfolg beschieden sein. Sollte das Rechtsbeschwerdevorbringen im Hinblick auf das Prozessgeschehen in der Hauptverhandlung nicht bereits als unzureichend anzusehen sein (vgl. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), wären die Rügen jedenfalls unbegründet. Dies ergibt sich aus Folgendem:
10a) Die Verfahrensrüge einer unzulässigen Beschränkung der Verteidigung (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 338 Nr. 8 StPO) kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur durchgreifen, wenn Verteidigungsrechte durch einen Gerichtsbeschluss in der Hauptverhandlung verletzt worden sind (vgl. , NJW 2021, 1252, 1255; Beschluss vom ‒ 3 StR 250/08, BGHR StPO § 338 Nr. 8 Beschränkung 9; Urteil vom – 4 StR 512/66, BGHSt 21, 334, 359). Ein solcher ist hier nicht ergangen. Es kann zwar auch ausreichen, wenn das Gericht es unterlässt, einen in der Hauptverhandlung gestellten Antrag zu bescheiden (vgl. , NStZ 2009, 51; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 338 Rn. 102). Auch daran fehlt es im vorliegenden Fall jedoch, da die für den Betroffenen in der Hauptverhandlung anwesende Verteidigerin dort keinen auf die Zugänglichmachung der Rohmessdaten abzielenden Antrag stellte, sondern vielmehr ausdrücklich erklärte, die Ordnungsgemäßheit der Messung nicht zu bestreiten.
11b) Die Rüge, der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) sei verletzt, versagt ebenfalls, wenn das Einsichtsersuchen nicht (auch) in der Hauptverhandlung geltend gemacht wird. Dies liegt – ohne dass es auf die Frage ankäme, ob nicht insoweit ohnehin § 338 Nr. 8 StPO anzuwenden ist (vgl. OLG Brandenburg, ZfSch 2021, 469; Ss (Bs) 6/2016 (4/16 OWi), juris Rn. 8) – schon im Grundsatz der Verfahrensfairness selbst begründet.
12aa) Das Recht auf ein faires Verfahren ist erst verletzt, wenn bei einer Gesamtschau rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde (vgl. BVerfGE 133, 168, 200; BVerfGE 130, 1, 25 f.; OLG Karlsruhe, NZV 2020, 368). Ein Verstoß gegen den auf die Gesamtheit des Verfahrens abhebenden Fairnessgrundsatz (vgl. EGMR, NJW 2019, 1999; NJW 2017, 2811, 2812; BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 33, 35) kommt daher bei verweigerter Einsichtnahme in Rohmessdaten nur dann in Betracht, wenn einem rechtzeitig und unter Ausschöpfung aller prozessualen Möglichkeiten angebrachten Zugangsgesuch nicht entsprochen worden ist (vgl. 3 Ws (B) 84/21, juris Rn. 7; Thüringer Oberlandesgericht, VRS 140, 33, 35).
13bb) Nach diesen Maßgaben muss der Betroffene, will er mit der Rechtsbeschwerde einen Verstoß gegen die Verfahrensfairness rügen, den Zugang zu nicht zur Akte genommenen Informationen nicht nur bereits im Bußgeldverfahren und im Verfahren nach § 62 OWiG begehren (so 3 Ws (B) 84/21, juris Rn. 7 mwN; OLG Koblenz, BeckRS 2020, 10860 Rn. 7; s. ferner BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 60, 66), sondern sein Einsichtsbegehren auch in der Hauptverhandlung weiterverfolgen (vgl. hierzu VerfGH Saarland, NZV 2018, 275 Rn. 35, 38; OLG Brandenburg, ZfSch 2021, 469; Ss (Bs) 6/2016 (4/16 OWi), juris Rn. 8; jeweils mwN; Hannich, FS Fischer 2018, S. 655, 658; s. zudem BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 66). Im Blick auf die gebotene Gesamtschau kann die Fairness des Ordnungswidrigkeitenverfahrens überhaupt nur in Frage stehen, wenn der (verteidigte) Betroffene die Einsicht in die Rohmessdaten auch mithilfe eines in der Hauptverhandlung gestellten Antrags begehrt hat. Denn bei dieser handelt es sich um den maßgeblichen Verfahrensabschnitt für die tatrichterliche Sachentscheidung, die der Betroffene durch seinen Einspruch herbeiführt. Das Gericht trifft seine Entscheidung allein aufgrund des Inbegriffs der Hauptverhandlung (vgl. § 46 Abs. 1 OWiG, § 261 StPO).
14Der Betroffene hat es hier versäumt, sein Informationszugangsersuchen in der Hauptverhandlung geltend zu machen. Aus den zuvor genannten Gründen genügt – anders als das Oberlandesgericht Koblenz annimmt – sein beim Amtsgericht vor der Hauptverhandlung gestelltes Einsichtsgesuch nicht, um eine Verletzung des Fairnessgrundsatzes mit Erfolg rügen zu können. Hieran ändert § 336 Satz 1 StPO nichts (vgl. auch zur Akteneinsicht ; OLG Hamm, NJW 1972, 1096). Denn diese Vorschrift entbindet das Rechtsbeschwerdegericht bei der Prüfung der als verletzt gerügten Verfahrensfairness nicht davon, die Gesamtheit des Verfahrens in den Blick zu nehmen.
152. Damit kommt es nicht mehr darauf an, dass ein von dem vorlegenden Oberlandesgericht womöglich befürworteter Rechtssatz des Inhalts, dass bei einem standardisierten Messverfahren die Persönlichkeitsrechte Dritter und die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege dem Informationsinteresse des Betroffenen an der Tagesmessreihe generell vorgehen, mit den bindenden verfassungsgerichtlichen Vorgaben einer Einzelfallprüfung (vgl. BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 58) unvereinbar sein könnte. Sollte den begehrten Informationen nach der zulässigen (individuellen) gerichtlichen Überprüfung des Gesuchs die Verteidigungsrelevanz abzusprechen sein (vgl. dazu BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 56 ff.), wohin auch das Oberlandesgericht Koblenz nach dem Vorlagebeschluss zumindest tendiert, scheidet allerdings schon deshalb ein Zugangsanspruch des Betroffenen aus (vgl. , NZV 2022, 287 Rn. 9; OLG Zweibrücken, BeckRS 2022, 15436 Rn. 16).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:160323B4STR84.22.0
Fundstelle(n):
CAAAJ-40790