BGH Beschluss v. - StB 26/23

Instanzenzug: Az: 5 - 2 StE 7/20

Gründe

I.

1Der Angeklagte wurde am vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem - unterbrochen vom 8. Mai bis zum zur Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe - in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des ), sodann aufgrund des ihm am eröffneten Haftbefehls des (5 - 2 StE 7/20).

2Gegenstand des aktuell vollstreckten Haftbefehls ist neben dem Angeklagten zur Last liegenden tateinheitlich begangenen Waffendelikten der Vorwurf, er habe im Februar 2020 eine Vereinigung (§ 129 Abs. 2 StGB) gegründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen, und sich mitgliedschaftlich an dieser Vereinigung beteiligt (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 52 Abs. 1 StGB).

3Mit Beschlüssen vom (AK 32/20) und vom (AK 8/21) hat der Senat im besonderen Haftprüfungsverfahren die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Der Generalbundesanwalt hat am gegen den Angeklagten und elf Mitangeklagte Anklage erhoben. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens dauert die Hauptverhandlung seit dem an. Auf einen Haftprüfungsantrag des Angeklagten hat der Staatsschutzsenat den von ihm erlassenen Haftbefehl am aufrechterhalten und in Vollzug belassen.

4Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom hat der Angeklagte ohne nähere Ausführungen „Antrag auf Haftbeschwerde“ gestellt. Das Oberlandesgericht hat dem Ersuchen nicht abgeholfen.

II.

5Das Begehr ist analog § 300 StPO dahin auszulegen, dass Beschwerde gegen den Haftfortdauerbeschluss des als zuletzt ergangene den Bestand des Haftbefehls betreffende Haftentscheidung eingelegt ist, weil dieses Rechtsmittel nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthaft (vgl. , juris Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 117 Rn. 8 mwN), auch im Übrigen zulässig (§ 306 Abs. 1 StPO) und offensichtlich bezweckt ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom - StB 38/22, juris Rn. 6; vom - StB 5/16, juris Rn. 8). In der Sache bleibt es aber ohne Erfolg.

61. Der Angeklagte ist der ihm angelasteten Taten weiterhin dringend verdächtig. Im Sinne eines solchen Verdachts ist nunmehr von dem Sachverhalt auszugehen, den das Oberlandesgericht im Haftbefehl vom angeführt hat, auf den verwiesen wird. Im Vergleich zum ursprünglichen Haftbefehl, dem Inhalt der genannten Beschlüsse des Senats und der Anklageschrift hat sich eine Änderung dahin ergeben, dass die Angeklagten die in Rede stehende terroristische Vereinigung mit hoher Wahrscheinlichkeit erst am in M.    und nicht früher gründeten.

7Der dringende Tatverdacht folgt im Wesentlichen aus den in der bisherigen Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnissen. Diese hat der Staatsschutzsenat im von ihm erlassenen Haftbefehl, im Haftfortdauerbeschluss vom und in seiner Nichtabhilfeentscheidung vom im Einzelnen dargelegt und seine vorläufige Beweiswürdigung plausibel erörtert. Die tatgerichtliche Würdigung ist angesichts der laufenden Hauptverhandlung nur eingeschränkt überprüfbar (st. Rspr.; s. etwa , juris Rn. 11). Nach den insoweit anzulegenden Maßstäben (s. etwa , BGHR StPO § 112 Tatverdacht 5 Rn. 16 f. mwN) ergeben sich keine Beanstandungen.

8Rechtlich ist der geschilderte Sachverhalt im angegriffenen Haftfortdauerbeschluss hinsichtlich der verwirklichten Straftatbestände zutreffend gewürdigt. Auf die konkurrenzrechtliche Einordnung, namentlich darauf, ob und inwieweit der Angeklagte Tathandlungen im Sinne des § 129a Abs. 1 StGB nur gelegentlich des Waffenbesitzes vornahm (vgl. hierzu u.a., juris Rn. 37 f.), kommt es für die Haftfrage nicht an.

92. Die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität liegen unverändert vor.

10a) Die Würdigung sämtlicher Umstände macht es nach wie vor wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte dem Verfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung stellen wird (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

11aa) Von der konkreten Straferwartung geht weiterhin ein Fluchtanreiz aus, denn der Angeklagte hat noch immer eine zu vollstreckende Haftzeit von Gewicht zu gewärtigen. Das Oberlandesgericht hat hierzu im Haftfortdauerbeschluss vom ausgeführt, dass die damals etwa zwei Jahre und sechs Monate andauernde Inhaftierung des Angeklagten sich im Fall einer Verurteilung voraussichtlich im Bereich von zwei Dritteln der zu erwartenden Freiheitsstrafe bewege. Danach ist aktuell mit einer noch etwa achtmonatigen weiteren Vollstreckungsdauer zu rechnen. Aus der im Nichtabhilfebeschluss getroffenen Prognose, die derzeit erlittene Untersuchsuchungshaftdauer werde „voraussichtlich um weniger als ein Jahr“ überstiegen, ergibt sich nichts anderes.

12Diese Beurteilung ist nachvollziehbar. Die mögliche Sanktion für den Angeklagten wird § 129a Abs. 1 StGB zu entnehmen sein, der eine Freiheitsstrafe zwischen einem und zehn Jahren vorsieht. Der Staatsschutzsenat hat in seine Bewertung unter anderem mildernd eingestellt, dass der Angeklagte Aufklärungshilfe geleistet hat. Schärfend hat er die rassistischen und fremdenfeindlichen Beweggründe und Ziele gewürdigt (§ 46 Abs. 2 StGB; vgl. im Übrigen BT-Drucks. 18/3007 S. 15; , BGHR StGB § 60 Absehen, fehlerhaft 1 Rn. 14 mwN).

13bb) Eine hypothetische Aussetzung des Strafrests zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB hat das Oberlandesgericht bei der Einschätzung der drohenden weiteren Haftzeit in den Blick genommen (vgl. dazu , BVerfGK 7, 140, 161 f.; vom - 2 BvR 644/12, BVerfGK 19, 428, 435; zur sog. Nettostraferwartung s. ferner , juris Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112 Rn. 23), eine solche Aussetzung jedoch angesichts des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit für unwahrscheinlich erachtet (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB; vgl. , NStZ-RR 2018, 255 f. mwN). Der Angeklagte habe sich von der im Tatvorwurf zum Ausdruck kommenden Gesinnung bisher nicht distanziert. Auch diese Würdigung ist plausibel. Dem Tatgericht, das allein einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten aus der Hauptverhandlung gewonnen hat, kommt insoweit ein Beurteilungsspielraum zu (, NStZ-RR 2022, 209, 210).

14cc) Der konkrete Tatvorwurf begründet zudem die besondere Gefahr, dass sich der Angeklagte in den Untergrund absetzen wird. Er verfolgte vor seiner Inhaftierung hochwahrscheinlich das Ziel, den deutschen Staat und seine Vertreter zu bekämpfen. Vor diesem Hintergrund ist eine Bereitschaft zur freiwilligen Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden trotz des frühzeitig abgelegten Teilgeständnisses und der Aufklärungshilfe nicht zu erwarten. Der mit Hakenkreuzen und einem Konterfei Adolf Hitlers tätowierte Angeklagte ist nach den bislang gewonnenen Erkenntnissen außerdem in rechtsextremistischen Kreisen vernetzt, in denen er vor der Inhaftierung eine herausgehobene Position bekleidete, und kann voraussichtlich im Fall des Untertauchens auf deren Unterstützung zählen.

15dd) Fluchthemmende Umstände sind nach wie vor nicht ersichtlich und im Übrigen nicht vorgetragen. Vor der Festnahme war der Angeklagte arbeitslos und hoch verschuldet. Die Bindung zu Ehefrau und Sohn hielt ihn mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von dem Wunsch ab, sich „offensiv“ an Terroranschlägen zu beteiligen und hierfür die nötigen Waffen zu besorgen, wobei er in Kauf nahm, gegebenenfalls den eigenen Tod zu finden. Über belastbare soziale Bindungen außerhalb der neonationalsozialistischen Szene ist nichts bekannt.

16b) Die Fortdauer der Untersuchungshaft kann bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) unverändert ebenso - mit dem Oberlandesgericht - auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gestützt werden. Denn die zu würdigenden Umstände begründen erst recht die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Angeklagten vereitelt werden könnte.

17c) Insgesamt kann der Zweck der Untersuchungshaft, wie bereits in den vorangegangenen Senatsbeschlüssen dargelegt, nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO). Eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) ist nicht erfolgversprechend.

183. Der Vollzug der Untersuchungshaft steht nach wie vor nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO; zu den insoweit nach st. Rspr. geltenden Maßstäben s. etwa , NStZ-RR 2022, 209, 210 mwN).

19a) Das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung und -vollstreckung ist bei Berücksichtigung und Abwägung der Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens noch immer dahin aufzulösen, dass die Untersuchungshaft fortzudauern hat. Die dem Angeklagten vorgeworfenen Verbrechen wiegen schwer. Die Gründung und die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im konkreten Zusammenhang mit der Planung von tödlichen Anschlägen aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven haben eine hohe Bedeutung. Vor diesem Hintergrund hat das in die Abwägung einzustellende rechtsstaatliche Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, das zur Aufklärung und Ahndung von Straftaten verpflichtet (vgl. , NJW 2022, 2389 Rn. 57 mwN), besonderes Gewicht.

20b) Der Blick auf die konkrete Straferwartung von etwa acht weiteren Monaten Haftzeit und die formal mögliche Aussetzung des Strafrests führen zu keinem anderen Ergebnis. Das Erreichen des Termins des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB hat für sich genommen nicht zur Folge, dass der weitere Vollzug der Untersuchungshaft unverhältnismäßig wäre (vgl. , StV 2022, 634 Rn. 25 mwN). Eine Strafrestaussetzung steht hier, wie ausgeführt, auch nicht zu erwarten.

21c) Dass es bisher nicht möglich gewesen ist, zu einem Urteil zu gelangen, ist dem Umfang und der Komplexität der Sache sowie der Vielzahl der beteiligten Personen geschuldet. Das Verfahren ist mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden. Insoweit wird auf die Ausführungen in der angefochtenen Haftfortdauerentscheidung, dem Nichtabhilfebeschluss sowie der gegen einen Mitangeklagten ergangenen Haftentscheidung des Senats verwiesen (, juris Rn. 21).

Berg                    Paul                    Erbguth

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:030523BSTB26.23.0

Fundstelle(n):
DAAAJ-40100