BGH Beschluss v. - XII ZB 232/21

Zwangsbehandlung mit Neuroleptika im bayerischen Maßregelvollzug: Beachtlichkeit einer Patientenverfügung über den Ausschluss einer solchen Behandlung; Auslegung des Gefahrenbegriffs bei einer im Maßregelvollzug eines psychiatrischen Krankenhauses untergebrachten Person; besondere Sicherungsmaßnahmen als milderes Mittel

Leitsatz

1. Eine Patientenverfügung eines gemäß §§ 20, 63 StGB im Maßregelvollzug Untergebrachten steht einer zwangsweisen Behandlung gemäß Art. 6 Abs. 3 Nr. 1 und 2 des Bayerischen Maßregelvollzugsgesetzes (BayMRVG) nur dann gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG entgegen, wenn sie Regelungen zur Zwangsbehandlung beinhaltet und erkennen lässt, dass sie in der konkreten Behandlungssituation der geschlossenen Unterbringung Geltung beanspruchen soll (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom - XII ZB 604/15, BGHZ 214, 62 = FamRZ 2017, 748 und vom - XII ZB 107/18, FamRZ 2019, 236). Daher ist zu prüfen, ob die in der Patientenverfügung in Bezug genommene Situation auch die etwaigen Konsequenzen einer ausbleibenden Behandlung, wie den Eintritt schwerster, gar irreversibler Schäden oder einer Chronifizierung des Krankheitsbildes mit den entsprechenden Folgen für die Fortdauer der freiheitsentziehenden Maßnahme, erfasst (im Anschluss an , BVerfGE 158, 131 = FamRZ 2021, 1564).

2. Gemäß Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG ist eine Zwangsbehandlung zulässig, um eine konkrete Gefahr für das Leben oder die Gesundheit einer anderen Person in der Einrichtung abzuwenden. Der Umstand, dass von der Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug gemäß § 63 StGB untergebrachte Personen betroffen sind, führt zu keiner einschränkenden Auslegung des Gefahrenbegriffs.

3. Ob besondere Sicherungsmaßnahmen nach Art. 25 BayMRVG das gegenüber einer Zwangsbehandlung mildere Mittel im Sinne des Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 BayMRVG darstellen, ist aus der Sicht der betroffenen Person zu beantworten.

Gesetze: § 1827 Abs 1 BGB, Art 6 Abs 3 Nr 1 MVollzG BY, Art 6 Abs 3 Nr 2 MVollzG BY, Art 6 Abs 3 Nr 3 MVollzG BY, Art 6 Abs 4 S 1 Nr 4 MVollzG BY, Art 6 Abs 4 S 1 Nr 7 Buchst b MVollzG BY, Art 25 MVollzG BY, § 20 StGB, § 63 StGB, § 70 Abs 1 FamFG, § 121b Abs 1 S 2 StVollzG

Instanzenzug: LG Regensburg Az: 53 T 33/21vorgehend AG Straubing Az: 409 XIV 20/20 L

Gründe

I.

1Der Betroffene, der an einer chronifizierten paranoiden Schizophrenie leidet, befindet sich aufgrund eines rechtskräftigen Strafurteils seit dem Jahr 2017 in einer von dem Beteiligten zu 3 betriebenen forensisch-psychiatrischen Klinik im Maßregelvollzug nach § 63 StGB. Er lehnte von Anfang an im Vollzug der Maßregel jegliche neuroleptische Medikation ab.

2Am hatte der Betroffene seiner Mutter, der Beteiligten zu 2, sowie seinem Bruder, dem Beteiligten zu 1, eine Vorsorgevollmacht erteilt, die er durch ein mit „Anlage A“ überschriebenes und eigenhändig unterschriebenes Schriftstück vom ergänzt hatte. Darin findet sich unter anderem folgende Regelung: „Ich verbiete jedem Arzt, Pfleger (und anderen Personen) mir Neuroleptika in irgendeiner Form gegen meinen Willen zu verabreichen oder mich dazu zu drängen“.

3Das Amtsgericht hat auf Antrag des Leiters der Forensisch-Psychiatrischen Klinik des Bezirkskrankenhauses in S. die zwangsweise neuroleptische Behandlung des Betroffenen mit Xeplion-Depot (Wirkstoff Paliperidol) intramuskulär in näher bezeichneter Dosierung für die Dauer von sechs Wochen genehmigt und hierbei weitere Anordnungen zur Entnahme von Blutproben, zur Durchführung von EKGs und zum Abbruch der Behandlung bei Gegenindikationen getroffen. Darüber hinaus hat es die Fixierung des Betroffenen zur Durchführung der Zwangsmedikation sowie der Blutentnahmen und der EKGs genehmigt. Auf die hiergegen eingelegte Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht den Beschluss des Amtsgerichts aufgehoben und den Antrag auf Genehmigung der Zwangsmedikation abgelehnt. Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde des Beteiligten zu 3, mit der er die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Entscheidung erstrebt.

II.

4Die Rechtsbeschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.

5Soweit nach den Maßregelvollzugsgesetzen der Länder eine Maßnahme - wie hier gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 des Bayerischen Maßregelvollzugsgesetzes (BayMRVG) - der vorherigen gerichtlichen Genehmigung bedarf, richtet sich das gerichtliche Verfahren gemäß §§ 138 Abs. 4, 121 b Abs. 1 Satz 1 StVollzG nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die für Unterbringungssachen nach § 312 Nr. 4 FamFG anzuwendenden Bestimmungen gelten entsprechend, sodass die Rechtsbeschwerde gemäß § 121 b Abs. 1 Satz 2 StVollzG iVm § 70 Abs. 1 FamFG infolge der Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft ist.

6Das Recht der Beschwerde steht dem Beteiligten zu 3 als zuständiger Behörde gemäß § 121 b Abs. 1 Satz 2 StVollzG iVm §§ 59 Abs. 3, 335 Abs. 4 FamFG zu. Die sich nach Landesrecht bestimmende Zuständigkeit der Behörde (Haußleiter/Heidebach FamFG 2. Aufl. § 315 Rn. 4) ergibt sich aus Art. 45 Abs. 1 Satz 1 BayMRVG, wonach für den Maßregelvollzug nach diesem Gesetz der Bezirk und damit der Beteiligte zu 3 zuständig sind.

III.

7Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

81. Dieses hat seine Entscheidung wie folgt begründet:

9Der Antrag der Vollzugsbehörde sei abzulehnen, weil die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG bei der gebotenen strengen Auslegung der Vorschrift nicht vorlägen und eine Genehmigung der Zwangsmedikation nach Art. 6 Abs. 3 Nr. 1 und 2 BayMRVG zum Erreichen der Entlassungsfähigkeit oder wegen Selbstgefährdung nicht in Betracht komme. Der Betroffene zeige zwar ein selbstgefährdendes Verhalten, weil er trotz Voranschreitens seiner psychiatrischen Erkrankung jegliche Medikation ablehne und damit eine irreversible Chronifizierung zu erwarten sei. Der Anordnung einer Zwangsmedikation zum Erreichen der Entlassungsfähigkeit oder wegen Selbstgefährdung gemäß Art. 6 Abs. 3 Nr. 1 und 2 BayMRVG stehe jedoch nach Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG der in der Patientenverfügung vom ausdrücklich erklärte Wille entgegen, nicht mit Neuroleptika behandelt zu werden. Es bestünden auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, dass diese Patientenverfügung unwirksam wäre.

10Für die Anordnung einer Zwangsmedikation nach Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG fehle es an einer konkreten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit einer anderen Person in der Einrichtung, für deren Abwendung die Zwangsmedikation erforderlich wäre. Dieser Gefahrenbegriff sei dahingehend eng auszulegen, dass eine Sachlage gegeben sein müsse, bei der objektiv betrachtet angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalls ohne die Zwangsmedikation mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine gravierende Gesundheitsschädigung anderer untergebrachter Personen oder von Mitgliedern des Einrichtungspersonals zu erwarten sei. Eine enge Auslegung der Vorschrift sei unerlässlich, weil es sich bei der Zwangsbehandlung um einen besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriff handele. Zudem sei die Norm bei uneingeschränkter wortlautgetreuer Auslegung nahezu uferlos, da auch zu erwartende Bagatellverletzungen Dritter erfasst wären und zudem im Maßregelvollzug nach § 63 StGB immer nur für die Allgemeinheit gefährliche Personen untergebracht seien. Vorliegend fehle es jedoch an konkreten Umständen, die eine gravierende Gesundheitsschädigung anderer Personen in der Einrichtung erwarten ließen. Die Zwangsmedikation sei auch nicht erforderlich, da mit den besonderen Sicherungsmaßnahmen nach Art. 25 BayMRVG mildere Mittel zur Verfügung stünden, mit denen eine erhebliche Gefährdung Dritter ausgeschlossen werden könne. Dass dies zu einer möglicherweise jahrzehntelangen Unterbringung unter hohen Sicherheitsvorkehrungen und in weitgehender Isolation führen könne, sei hinzunehmen.

112. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

12a) Soweit das Beschwerdegericht die Genehmigung einer Zwangsmedikation zum Erreichen der Entlassungsfähigkeit oder wegen Selbstgefährdung gemäß Art. 6 Abs. 3 Nr. 1 und 2 BayMRVG abgelehnt hat, hat es keine hinreichenden Feststellungen dazu getroffen, dass der nach § 1827 BGB zu beachtende Wille der untergebrachten Person den Maßnahmen entgegensteht (Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG).

13aa) Gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG dürfen Behandlungsmaßnahmen, die dem natürlichen Willen der untergebrachten Person widersprechen, zur Erreichung der Entlassungsfähigkeit oder Verhinderung einer Eigengefährdung nur angeordnet werden, wenn der nach § 1827 BGB zu beachtende Wille der untergebrachten Person den Maßnahmen nicht entgegensteht. Durch diese Formulierung sollte gegenüber der vorherigen Fassung der Vorschrift, nach der eine Patientenverfügung lediglich „zu beachten“ war, die Bedeutung einer wirksamen Patientenverfügung der untergebrachten Person gestärkt werden (LT-Drucks. 17/22590 S. 7 und LT-Drucks. 17/4944 S. 23). Ob eine Patientenverfügung im Rahmen der Prüfung des Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG Bindungswirkung entfaltet, sollte sich nach dem Willen des Gesetzgebers bereits für die frühere Fassung der Norm nach den Grundsätzen bestimmen, die in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung hierfür aufgestellt wurden (vgl. LT-Drucks. 17/4944 S. 33). Für die nunmehr geltende Fassung der Vorschrift gilt nichts anderes, was sich insbesondere aus dem in Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG enthaltenen Verweis auf § 1827 BGB und der damit verbundenen Anknüpfung an die zivilrechtlichen Regelungen zur Patientenverfügung in § 1827 Abs. 1 BGB ergibt.

14Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats entfaltet eine Patientenverfügung (bis zum : § 1901 a Abs. 1 Satz 1 BGB; jetzt: § 1827 Abs. 1 Satz 1 BGB) nur dann unmittelbare Bindungswirkung, wenn ihr konkrete Entscheidungen des Betroffenen über die Einwilligung oder Nichteinwilligung in bestimmte, noch nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen entnommen werden können. Neben Erklärungen des Erstellers der Patientenverfügung zu den ärztlichen Maßnahmen, in die er einwilligt oder die er untersagt, verlangt der Bestimmtheitsgrundsatz aber auch, dass die Patientenverfügung erkennen lässt, ob sie in der konkreten Behandlungssituation Geltung beanspruchen soll. Eine Patientenverfügung ist nur dann ausreichend bestimmt, wenn sich feststellen lässt, in welcher Behandlungssituation welche ärztlichen Maßnahmen durchgeführt werden bzw. unterbleiben sollen. Danach genügt eine Patientenverfügung, die einerseits konkret die Behandlungssituation beschreibt, in der die Verfügung gelten soll, und andererseits die ärztlichen Maßnahmen genau bezeichnet, in die der Ersteller einwilligt oder die er untersagt, dem Bestimmtheitsgrundsatz. Die Anforderungen an die Bestimmtheit einer Patientenverfügung dürfen dabei jedoch nicht überspannt werden. Vorausgesetzt werden kann nur, dass der Betroffene umschreibend festlegt, was er in einer bestimmten Lebens- und Behandlungssituation will und was nicht (vgl. Senatsbeschlüsse BGHZ 214, 62 = FamRZ 2017, 748 Rn. 17 f. mwN und vom - XII ZB 107/18 - FamRZ 2019, 236 Rn. 19 f. mwN).

15Nach diesen Grundsätzen steht eine Patientenverfügung nur dann gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 lit. b BayMRVG der Genehmigung einer Zwangsmaßnahme entgegen, wenn sie eine Regelung zu Zwangsbehandlungen enthält (LT-Drucks. 17/4944 S. 33 f.; vgl. auch OLG Nürnberg FamRZ 2018, 1542, 1543 zur alten Rechtslage) und auch in der konkreten Behandlungssituation Geltung beanspruchen soll. Dies erfordert auch die Prüfung, ob die vom Betroffenen in der Patientenverfügung in Bezug genommene Behandlungssituation die aktuellen Umstände und die damit verbundenen Konsequenzen einer ausbleibenden Behandlung, wie den Eintritt schwerster, gar irreversibler Schäden oder einer Chronifizierung des Krankheitsbildes mit den entsprechenden Folgen für die Fortdauer einer freiheitsentziehenden Maßnahme, erfasst (vgl. BVerfGE 158, 131 = FamRZ 2021, 1564 Rn. 75).

16Ob insoweit eine hinreichend konkrete Patientenverfügung vorliegt, ist durch Auslegung der in der Verfügung enthaltenen Erklärungen zu ermitteln. Die Auslegung von Patientenverfügungen ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Dessen Auslegung ist für das Rechtsbeschwerdegericht bindend, wenn sie rechtsfehlerfrei vorgenommen worden ist und zu einem vertretbaren Auslegungsergebnis führt, auch wenn ein anderes Auslegungsergebnis möglich erscheint (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 107/18 - FamRZ 2019, 236 Rn. 21 und 27 mwN).

17bb) Zutreffend rügt die Rechtsbeschwerde, dass die angegriffene Entscheidung diesen Anforderungen nicht gerecht wird.

18Zwar hat das Beschwerdegericht die Patientenverfügung in rechtlich nicht zu beanstandender Weise als wirksam behandelt, da die Rechtsbeschwerde die Annahme, es lasse sich nicht feststellen, dass der Betroffene bereits im Januar 2015 an einer die Einwilligungsfähigkeit ausschließenden akuten Psychose gelitten habe, nicht angreift. Daher ist von der Wirksamkeit der Patientenverfügung auszugehen (vgl. BVerfGE 158, 131 = FamRZ 2021, 1564 Rn. 74).

19Es hat sich jedoch nicht die Frage vorgelegt, ob die Patientenverfügung auch für die nunmehr zu beurteilende Lebens- und Behandlungssituation des Betroffenen Geltung beansprucht, was unter den konkreten Umständen des vorliegenden Falls angezeigt gewesen wäre. Zum einen enthält die Patientenverfügung keine Umschreibung der Situation, für die sie gelten soll. Der Krankheitszustand des Betroffenen hat sich jedoch erheblich verschlechtert, da er nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts bei der Abfassung der Patientenverfügung lediglich an gelegentlichen Verhaltensauffälligkeiten litt. Zum anderen hat sich seine Lebens- und Behandlungssituation dadurch gravierend verändert, dass er nunmehr aufgrund der neun Monate nach der Abfassung der Patientenverfügung begangenen Anlasstat gemäß § 63 StGB geschlossen untergebracht ist. Es ist derzeit weder dargetan noch ersichtlich, dass der Betroffene in absehbarer Zeit ohne eine medikamentöse Behandlung aus der Unterbringung entlassen oder auch nur innerhalb der Unterbringung ohne weitgehende Isolation oder engmaschige Bewachung geführt werden kann. Anhaltspunkte, dass der Betroffene bei der Abfassung seiner Patientenverfügung deren Geltung auch in dieser Situation wollte, stellt das Beschwerdegericht nicht fest und sind auch nicht anderweitig ersichtlich. Im Gegenteil wurden nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts bei der Errichtung der Patientenverfügung keine aggressiven Verhaltensweisen beobachtet, sodass es näherer Darlegungen bedurft hätte, warum der Betroffene auch die Situation einer Unterbringung gemäß §§ 20, 63 StGB bedacht haben soll. Die sich hieraus ergebenden Zweifel, ob der Betroffene diese Festlegung trotz der gravierenden Folgen einer gegebenenfalls lebenslangen freiheitsentziehenden Maßnahme in der konkreten Situation tatsächlich gewollt hätte (vgl. BeckOGK/Diener [Stand: ] BGB § 1827 Rn. 61), sind vom Beschwerdegericht nicht ausgeräumt worden.

20b) Auch die Ausführungen des Beschwerdegerichts zu der vom Betroffenen ausgehenden konkreten Gefahr für das Leben und die Gesundheit einer anderen Person im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

21aa) Gemäß Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG ist eine Zwangsbehandlung zulässig, um eine konkrete Gefahr für das Leben oder die Gesundheit einer anderen Person in der Einrichtung abzuwenden. Eine konkrete Gefahr in diesem Sinne liegt dann vor, wenn im Einzelfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden an Leben oder Gesundheit der genannten Personen eintreten wird (vgl. allgemein zum Gefahrenbegriff BVerwGE 45, 51 = NJW 1974, 807, 809 und BVerfGE 120, 274 = NJW 2008, 822, 831; vgl. auch Senatsbeschluss BGHZ 220, 333 = FamRZ 2019, 641 Rn. 13 f.). Andere Personen, die sich in der Einrichtung befinden, sind hierbei etwa Ärzte, Pflegekräfte, sonstige in der Einrichtung beschäftigte Personen, andere untergebrachte Personen, Besucher oder Besucherinnen (LT-Drucks. 17/21573 S. 45).

22bb) Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist der Begriff der konkreten Gefahr in Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG nicht einschränkend auszulegen.

23Der Wortlaut der Vorschrift setzt für eine Zwangsbehandlung unter anderem eine „Gefahr für das Leben und die Gesundheit einer anderen Person in der Einrichtung“ voraus. Aus dem systematischen Verhältnis zu Art. 6 Abs. 3 Nr. 2 BayMRVG ergibt sich, dass in Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG bewusst keine gesteigerten Anforderungen an die Gefahr gestellt werden. Denn nach Art. 6 Abs. 3 Nr. 2 BayMRVG setzt nur die Zwangsbehandlung zur Verhinderung einer Eigengefährdung das Vorliegen einer konkreten schwerwiegenden Gefahr voraus. Damit trifft das Gesetz eine bewusste Unterscheidung zwischen den einzelnen Gefahrenstufen.

24Das tatbestandliche Erfordernis einer schwerwiegenden Gesundheitsgefahr bzw. einer Gefahr einer gravierenden Gesundheitsschädigung ergibt sich auch nicht aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (so aber zum allgemeinen Strafvollzugsrecht Laubenthal Strafvollzug 8. Aufl. S. 630 in Fn. 129). Der bei Zwangsbehandlungen ohnehin strikt zu beachtende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. Senatsbeschlüsse BGHZ 224, 224 = FamRZ 2020, 534 Rn. 17 und vom - XII ZB 191/21 - FamRZ 2021, 1739 Rn. 8 jeweils zu § 1906 a BGB aF) erlangt im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 bis 6 BayMRVG hinreichend Geltung und führt nicht zu einer Einengung des Gefahrenbegriffs auf Tatbestandsebene.

25Auch aus dem Umstand, dass im Maßregelvollzug gemäß § 63 StGB untergebrachte Personen für die Allgemeinheit gefährlich sind, folgen entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts keine gesteigerten Anforderungen an die Gefahr im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG (in diese Richtung aber OLG Frankfurt Beschluss vom - 3 Ws 51/16 - juris Rn. 17 zu § 7 a Abs. 2 HMRVG). Die beiden Vorschriften unterscheiden sich nämlich hinsichtlich ihres jeweiligen Schutzguts. Die Unterbringung gemäß § 63 StGB dient dem Schutz der Allgemeinheit vor der untergebrachten Person. Demgegenüber dienen die landesrechtlichen Regelungen dem Schutz Dritter im Vollzug im Wege des „internen Drittschutzes“ (vgl. Kammeier in Kammeier/Pollähne Maßregelvollzugsrecht 4. Aufl. A 83 zu Besonderen Sicherungsmaßnahmen). Dem entspricht die Regelung in Art. 6 Abs. 3 Nr. 3 BayMRVG, die spezifisch auf die Gefahr für „eine andere Person innerhalb der Einrichtung“ abstellt. Daher ergibt sich zwar eine die Zwangsbehandlung rechtfertigende Fremdgefährdung noch nicht aus der zur Unterbringung gemäß § 63 StGB führenden Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 128, 282 = FamRZ 2011, 1128 Rn. 46 und BVerfGE 158, 131 = FamRZ 2021, 1564 Rn. 61). Umgekehrt führt aber der Umstand, dass der Betroffene zum Schutz der Allgemeinheit geschlossen untergebracht ist, nicht zu einer gesteigerten Duldungspflicht derjenigen Personen, die vom Betroffenen innerhalb der Unterbringungseinrichtung gefährdet werden (vgl. auch BVerfGE 116, 69 = FamRZ 2006, 1089, 1094 zum grundrechtlich gebotenen Schutz der Mitgefangenen vor körperlichen Angriffen).

26Schließlich ergibt sich auch aus den Gesetzgebungsmaterialien kein Anhaltspunkt für eine einschränkende Auslegung. Im Gegenteil wird dort für eine Zwangsbehandlung zur Verhinderung einer Fremdgefährdung ausdrücklich lediglich eine konkrete Gefahr verlangt und dies den höheren Anforderungen an eine Zwangsbehandlung zur Verhinderung einer Selbstgefährdung gegenübergestellt (LT-Drucks. 17/22590 S. 8 iVm LT-Drucks. 17/21573 S. 45). Dass in der Gesetzesbegründung in anderem Zusammenhang und auch nur exemplarisch einmal der Begriff der „erheblichen Gesundheitsgefahren“ genannt wird (LT-Drucks. 17/21573 S. 46), vermag - entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts - kein anderes Ergebnis zu begründen.

27cc) Danach hält auch die Annahme des Beschwerdegerichts, vom Betroffenen gehe keine eine Zwangsbehandlung rechtfertigende Gefahr für Personen innerhalb der Einrichtung aus, einer Überprüfung nicht stand. Zwar ist die Gefahrprognose grundsätzlich vom Tatrichter in eigener Verantwortung zu treffen. Das Rechtsbeschwerdegericht kann die Prognoseentscheidung nur daraufhin überprüfen, ob der Tatrichter seiner Entscheidung unzutreffende rechtliche Maßstäbe zugrunde gelegt, Verfahrensregeln verletzt, insbesondere entscheidungserhebliche Umstände unberücksichtigt gelassen, oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen hat (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 220, 333 = FamRZ 2019, 641 Rn. 22).

28Zutreffend rügt die Rechtsbeschwerde jedoch insoweit, dass das Beschwerdegericht für eine konkrete vom Betroffenen ausgehende Gefahr sprechende Umstände außer Acht gelassen oder in ihrer Bedeutung verkannt hat. Nach den Stellungnahmen des Bezirkskrankenhauses sei es wiederholt zu Körperverletzungen zum Nachteil von Mitarbeitern gekommen. Im Einzelnen werden eine Oberschenkelprellung infolge eines Tritts, ein Hämatom sowie eine Schürfwunde nach Schlägen sowie Angriffe mit Fäusten geschildert. Im Jahr 2019 habe der Betroffene versucht, eine Mitarbeiterin durch die Kontaktklappe der Tür in sein Zimmer zu ziehen. Mehrfach habe er das Sichtfenster seiner Tür zerstört und Gegenstände nach Mitarbeitern geworfen. Im Jahr 2019 habe er auf einen Mitarbeiter eingeschlagen und diesem gezielt mit beiden Daumen in die Augen gedrückt, worauf diese sich stark gerötet und getränt hätten. Darüber hinaus habe er zahlreiche Todesdrohungen ausgesprochen. Wäre er im Stationsalltag unbeaufsichtigt, würden vom Betroffenen mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Gewaltstraftaten begangen werden und es sei jederzeit mit einer unkalkulierbaren Fremdgefährdung zu rechnen.

29Diese Umstände sind grundsätzlich geeignet, eine die Zwangsbehandlung rechtfertigende Gefahr für die Gesundheit einer anderen Person in der Einrichtung zu begründen.

30dd) Auch die weitere Annahme des Beschwerdegerichts, dem Werfen von Gegenständen und dem Ziehen einer Mitarbeiterin am Arm bei der Essensübergabe könne durch besondere Sicherungsmaßnahmen nach Art. 25 BayMRVG begegnet werden, hält jedenfalls mit der gegebenen Begründung einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

31Die gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 BayMRVG zu prüfende Frage, ob mildere Mittel keinen Erfolg versprechen und alternative Maßnahmen die betroffene Person weniger belasten, ist aus der Sicht der betroffenen Person zu beantworten (LT-Drucks. 17/21573 S. 45; BVerfGE 89, 315 = FamRZ 1994, 496, 497; aA zur hessischen Rechtslage OLG Frankfurt Beschluss vom - 3 Ws 51/16 - juris Rn. 18 f.). Das Beschwerdegericht hat jedoch nicht geprüft, ob Isolation und Handfesselung für den konkreten Betroffenen und unter der Annahme, dass diese Maßnahmen möglicherweise lebenslang anzuwenden wären (vgl. - juris Rn. 4; LG Osnabrück NJW 2020, 1687, 1688), mildere Maßnahmen darstellen, sondern lediglich eine abstrakte Betrachtung vorgenommen.

32Bei der Abwägung wäre auch das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des gemäß §§ 20, 63 StGB untergebrachten Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) zu berücksichtigen, sofern er zur Wahrnehmung dieses Interesses infolge krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit nicht in der Lage ist (vgl. BVerfGE 128, 282 = FamRZ 2011, 1128 Rn. 47).

333. Die angefochtene Entscheidung ist daher gemäß § 121 b Abs. 1 StVollzG iVm § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 121 b Abs. 1 StVollzG iVm § 74 Abs. 6 Satz 1 und 2 FamFG an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen, weil sie noch nicht zur Endentscheidung reif ist.

34Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:150323BXIIZB232.21.0

Fundstelle(n):
NJW 2023 S. 10 Nr. 36
NJW 2023 S. 2424 Nr. 33
RAAAJ-40088