BVerfG Beschluss v. - 1 BvR 2663/21

Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die vorläufige Entziehung der elterlichen Sorge gegenüber der allein sorgeberechtigten Mutter sowie gegen die Anordnung von Vormundschaft - hinreichende fachgerichtliche Feststellungen zur drohenden Kindeswohlgefährdung

Gesetze: Art 6 Abs 2 S 1 GG, § 1666 Abs 1 BGB, § 1666 Abs 3 Nr 6 BGB, § 1773 Abs 1 Nr 1 BGB

Instanzenzug: Az: II-5 UF 176/21 Beschlussvorgehend Az: II-5 UF 176/21 Beschluss

Gründe

1Die Verfassungsbeschwerde betrifft den vorläufigen Entzug des vollständigen Sorgerechts der Beschwerdeführerin für ihre Tochter.

I.

2Die Beschwerdeführerin ist die Mutter einer im November 2014 geborenen Tochter, für die der damalige Partner der Beschwerdeführerin die Vaterschaft anerkannt hatte. Mangels gemeinsamer Sorgeerklärung war die Beschwerdeführerin allein sorgeberechtigt.

31. Nach dem Ende der Beziehung bestanden zunächst noch Umgangskontakte des (bisherigen) Partners zu der Tochter. Ab dem Sommer des Jahres 2015 brach die Beschwerdeführerin den Kontakt zu diesem vollständig ab; Umgänge wurden trotz gerichtlicher Regelung von ihr verweigert. Im Rahmen eines von dem vormaligen Partner betriebenen Verfahrens zur Feststellung seiner Vaterschaft entzog das Familiengericht der Beschwerdeführerin das Recht, über die Einwilligung zu der Entnahme einer Blut- oder Speichelprobe und Sicherung der Durchführung der Probe zu entscheiden, nachdem die Beschwerdeführerin die Abgabe von Speichelproben der Tochter und von sich selbst über einen längeren Zeitraum mehrfach verweigert beziehungsweise umgangen hatte. Das Jugendamt wurde zum Ergänzungspfleger bestellt. Rechtsbehelfe der Beschwerdeführerin dagegen blieben ohne Erfolg (dazu näher BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 886/20 -, Rn. 3 ff.). Der Aufenthalt der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter ist seit längerem unbekannt.

42. In dem vorgenannten Verfahren hatte der 12. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts in seiner Beschwerdeentscheidung vom unter näherer Darlegung darauf hingewiesen, dass der Verdacht einer nicht unerheblichen Einschränkung der Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin im Raum stehe. Dies könne mit einer Gefährdung des geistigen und seelischen Kindeswohls einhergehen. Angesichts nachweislich falscher Angaben der Beschwerdeführerin unter anderem zu den Bemühungen um einen Kindergartenplatz für die Tochter, könne nicht festgestellt werden, dass das Kind überhaupt altersadäquate soziale Kontakte habe. In einem einstweiligen Anordnungsverfahren zur elterlichen Sorge entzog das Familiengericht mit Beschluss vom der Beschwerdeführerin vorläufig die elterliche Sorge für ihre Tochter, ordnete Vormundschaft an und bestellte das Jugendamt zum Vormund. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Beschwerdeführerin verwarf das Oberlandesgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom . Zur Begründung verwies es vollumfänglich auf die Entscheidung des 12. Senats für Familiensachen des aus dem vorangegangenen Verfahren.

53. Dagegen sowie gegen die Verwerfung ihrer Anhörungsrüge durch wendet sich die Beschwerdeführerin, die sich in ihrem Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG) sowie in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt sieht.

II.

6Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde bleibt ohne Erfolg.

7Der vorläufige Entzug des Sorgerechts und die Anordnung von Vormundschaft für die Tochter der Beschwerdeführerin halten den dafür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Anforderungen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 383/18 -, Rn. 15 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 674/22 -, Rn. 21 ff. jeweils m.w.N.) noch stand. Das gilt selbst für die auch im einstweiligen Anordnungsverfahren grundsätzlich gebotenen Feststellungen zu Art und Schwere der konkret drohenden Gefährdung des Kindeswohls (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1284/20 -, Rn. 3 und vom - 1 BvR 528/19 -, Rn. 40 m.w.N.). Durch die Bezugnahme sowohl auf den Beschluss des 12. Senats für Familiensachen des sowie den familiengerichtlichen Beschluss vom wird noch hinreichend deutlich, dass und weshalb das Oberlandesgericht in der Entscheidung vom eine erheblich eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin und eine damit verbundene Gefährdung des geistigen und seelischen Wohls der Tochter annimmt. In der Gesamtschau liegen Anhaltspunkte für eine deutlich eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin sowie für ein Vorenthalten altersadäquater sozialer Kontakte der Tochter vor. Damit besteht eine hier tragfähige Grundlage für eine mindestens drohende erhebliche Beeinträchtigung des Kindeswohls, zumal der Aufenthalt der Beschwerdeführerin unbekannt ist und damit die aktuelle Lebenssituation des Kindes völlig ungesichert erscheint. Weitergehender Aufklärung hat sich die Beschwerdeführerin ausweislich ihres von den beteiligten Fachgerichten beschriebenen Verhaltens nahezu vollständig entzogen.

8Das fortzuführende Hauptsacheverfahren zum Sorgerecht wird Gelegenheit bieten, von Amts wegen nähere Feststellungen zu einer Gefährdung des Kindeswohls zu treffen. Dabei wird auch zu klären sein, wo und unter welchen Umständen die Beschwerdeführerin und ihre Tochter, deren Aufenthalt seit längerem unbekannt ist, leben. Ungeachtet des Verlaufs eines solchen Hauptsacheverfahrens wird das zum Vormund bestellte Jugendamt das ihm nach § 1795 Abs. 1 Satz 1 BGB zustehende Recht zur Bestimmung des Aufenthalts der Tochter der Beschwerdeführerin auch gemäß § 1789 Abs. 1 Satz 1 BGB wahrzunehmen und auszuüben und wird das Familiengericht hierüber nach § 1802 Abs. 2 BGB Aufsicht zu führen haben.

9Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

10Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20230216.1bvr266321

Fundstelle(n):
RAAAJ-39697