BVerwG Urteil v. - 1 C 8/21, 1 C 8/21 (1 B 15/21)

Kindernachzug zum subsidiär Schutzberechtigten

Leitsatz

1. Die zum Kindernachzug nach § 32 AufenthG entwickelten Grundsätze zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt bei einer gesetzlichen Altersgrenze ( 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329) gelten auch für den Nachzug zum subsidiär schutzberechtigten Elternteil nach § 36a AufenthG.

2. Der Ausschluss des Familiennachzuges zu subsidiär Schutzberechtigten nach § 104 Abs. 13 AufenthG 2016 ist nicht verfassungswidrig, weil Härtefällen durch die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen nach § 22 Satz 1 AufenthG Rechnung getragen werden kann (vgl. - juris).

3. Die Ungleichbehandlung des Familiennachzuges zum anerkannten Flüchtling nach § 32 und § 36 Abs. 1 AufenthG einerseits und zum subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a AufenthG andererseits verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Sie ist insbesondere mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Gesetze: § 6 Abs 3 AufenthG, § 22 Abs 1 AufenthG, § 32 AufenthG, § 36 Abs 2 AufenthG, § 36a AufenthG, § 104 Abs 13 AufenthG vom , Art 3 GG, Art 6 GG, Art 8 MRK, Art 14 MRK, Art 7 EUGrdRCh, Art 24 EUGrdRCh, Art 3 Abs 2 Buchst c EGRL 86/2003, Art 23 EURL 95/2011, Art 24 EURL 95/2011, Art 25 EURL 95/2011, Art 19 EURL 95/2011, Art 3 UNKRÜbk, Art 9 Abs 1 UNKRÜbk, Art 10 Abs 1 UNKRÜbk

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Az: OVG 6 B 6.19 Urteilvorgehend Az: 38 K 7.18 V Urteil

Tatbestand

1Der Kläger begehrt die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu seinem im Bundesgebiet lebenden und als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Vater.

2Der Kläger und seine Familienangehörigen sind afghanische Staatsangehörige. Dem im November 2015 in das Bundesgebiet eingereisten Vater des Klägers wurde auf seinen Asylantrag vom mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Am wurde ihm erstmals eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG erteilt.

3Anfang August 2016 beantragten der am geborene Kläger und mehrere seiner Familienangehörigen die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug bei der Deutschen Botschaft Islamabad. Den Antrag des Klägers lehnte die Botschaft mit Bescheid vom ab.

4Die hiergegen gerichtete Klage ist erfolglos geblieben. Das Oberverwaltungsgericht hat auch die Berufung des Klägers mit Urteil vom zurückgewiesen. Es bestehe kein Anspruch auf Familiennachzug nach § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, da der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht (mehr) minderjährig gewesen sei. Sofern Nachzugsansprüche an eine Altersgrenze knüpften, sei für die Einhaltung der Altersgrenze zwar ausnahmsweise auf den Zeitpunkt der (Visum-)Antragstellung abzustellen mit der Folge, dass bei Überschreiten der Altersgrenze in einem Verfahren die übrigen Voraussetzungen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze vorgelegen haben müssten. Ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Antragstellung im September 2016 scheide aus, da die Neuregelung zum Familiennachzug erst zum in Kraft getreten sei und nicht rückwirkend auf den vor diesem Zeitpunkt volljährig gewordenen Kläger angewendet werden könne. Eine einschränkende Auslegung dahingehend, dass der Gesetzgeber mit § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. den Familiennachzug nur auf Vollzugsebene habe aussetzen wollen, finde keine Stütze in den Gesetzesmaterialien. Selbst wenn für die Beurteilung der Zeitpunkt des Visumantrags im September 2016 zugrunde gelegt würde, bliebe der Antrag ohne Erfolg, da die Volljährigkeit des Klägers am und damit zu einem Zeitpunkt eingetreten sei, als der Kindernachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nach § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. ausgeschlossen gewesen sei. Diese Aussetzung des Familiennachzuges verstoße nicht gegen die UN-Kinderrechtskonvention und sei mit Unionsrecht vereinbar. Die Aussetzung des Familiennachzuges stehe ferner im Einklang mit der Verfassung. Das Schutz- und Förderungsgebot des Art. 6 GG (i. V. m. Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 GRC) sei durch die Möglichkeit der Aufnahme von Familienmitgliedern gemäß §§ 22, 23 AufenthG ausreichend beachtet worden. Die unterschiedliche Behandlung des Familiennachzuges zu subsidiär Schutzberechtigten und zu Flüchtlingen verstoße nicht gegen Art. 3 GG. Mangels Vorliegens einer außergewöhnlichen Härte bestehe auch kein Anspruch nach § 36 Abs. 2 AufenthG. Ein Anspruch folge des Weiteren nicht aus § 6 Abs. 3 i. V. m. § 22 Satz 1 AufenthG, da diese Norm für die Aufnahme aus dem Ausland dringende humanitäre Gründe und eine Sondersituation erfordere, die sich deutlich von der anderer Ausländer in vergleichbarer Lage unterscheide. Diese liege hier nicht vor.

5Zur Begründung seiner Revision macht der Kläger geltend, § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG sei auf Tatbestände vor dessen Inkrafttreten und während der Aussetzung der Regelung nach § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. anwendbar. Die Nichtgewährung des Familiennachzuges zu subsidiär Schutzberechtigten verstoße gegen nationale und internationale Diskriminierungsverbote. Subsidiär Schutzberechtigte und Flüchtlinge seien vergleichbar schutzbedürftig. Die Nichtgewährung des Familiennachzuges gemäß § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. widerspreche auch Unionsrecht. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe zwar die Anwendbarkeit der Richtlinie 2003/86/EG verneint, jedoch lasse sich der Richtlinie 2011/95/EU entnehmen, dass subsidiär Schutzberechtigte grundsätzlich die gleichen Rechte wie Flüchtlinge erhalten sollten. Diese Erwägungen dürften bei der Beurteilung, ob eine Ungleichbehandlung vorliege, nicht außer Acht gelassen werden. Das Berufungsgericht habe bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit wesentliche Punkte, insbesondere die Dauer der Trennung und das Kindeswohl, nicht ausreichend berücksichtigt. Jedenfalls sei § 22 Satz 1 AufenthG verfassungskonform auszulegen und den grundrechtlich geschützten familiären Belangen ein solches Gewicht beizumessen, dass sie in Abwägung mit entgegenstehenden öffentlichen Interessen grundsätzlich den Vorrang erhielten.

6Die Beklagte und die Beigeladene verteidigen das Berufungsurteil.

Gründe

7Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) hat das Oberverwaltungsgericht erkannt, dass der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung eines nationalen Visums (§ 6 Abs. 3 AufenthG) zum Familiennachzug zu seinem als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Vater hat. Während des für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkts (1.) der Visumantragstellung und bis zur Volljährigkeit des Klägers geltenden Ausschlusses des Familiennachzuges zum subsidiär Schutzberechtigten nach § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. hatte er keinen Anspruch auf Kindernachzug nach § 32 AufenthG. Unter Geltung von § 36a AufenthG war der Kläger nicht mehr minderjährig (2.). Nach den bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts liegt weder eine durch die familiäre Situation begründete außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG vor (3.), noch hat der Kläger einen Anspruch auf Familiennachzug aus dringenden humanitären Gründen nach § 22 Satz 1 AufenthG (4.).

81. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels - wie der vorliegenden - grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Rechtsänderungen, die danach eintreten, sind vom Revisionsgericht zu berücksichtigen, wenn sie das Tatsachengericht, wenn es jetzt entschiede, zu beachten hätte (stRspr, vgl. 1 C 31.14 - BVerwGE 153, 353 Rn. 9 und vom - 1 C 22.17 - NVwZ 2019, 417 Rn. 11 m. w. N.). Der Entscheidung sind daher zum einen das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom (BGBl. I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters (BGBl. I S. 2467 <2502>), sowie das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch das Gesetz vom , zugrunde zu legen. Unionsrechtlich maßgeblich sind die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 S. 12 - RL 2003/86/EG) und die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9 - RL 2011/95/EU).

9Aus Gründen des materiellen Rechts gilt für den Fall, dass ein Anspruch an eine gesetzliche Altersgrenze knüpft, eine Ausnahme von den allgemeinen Grundsätzen. Setzt der Anspruch die Minderjährigkeit des Antragstellers voraus, so muss diese zum Zeitpunkt der Antragstellung vorliegen. Die übrigen Voraussetzungen für den Kindernachzug müssen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze und zudem der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz gegeben sein, sodass alle Voraussetzungen wenigstens einmal zeitgleich erfüllt sein müssen. Nach diesem Zeitpunkt eingetretene Sachverhaltsänderungen zugunsten des Betroffenen können nicht berücksichtigt werden. Bei Anspruchsgrundlagen, die eine Altersgrenze enthalten, die der Betroffene im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung oder Entscheidung überschritten hat, ist mithin eine auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogene Doppelprüfung erforderlich ( 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329 Rn. 10 und Beschluss vom - 1 C 16.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 113 Rn. 9). Maßgeblich ist danach auch § 104 Abs. 13 AufenthG in der Fassung des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom (BGBl. I S. 390 <a. F.>). Diese zum Kindernachzug nach § 32 AufenthG entwickelten Grundsätze gelten auch für den Kindernachzug zum subsidiär schutzberechtigten Elternteil nach § 36a AufenthG.

102. Der Kläger hat weder während der zum Zeitpunkt der Visumantragstellung und des Erreichens der Volljährigkeit geltenden Nichtgewährung des Familiennachzuges zum subsidiär Schutzberechtigten nach § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. einen Anspruch nach § 32 Abs. 1 AufenthG (a), noch einen Anspruch nach dem zum in Kraft getretenen § 36a AufenthG (b).

11a) Durch § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. c AufenthG i. V. m. mit § 25 Abs. 2 AufenthG in der Fassung von Art. 2 Nr. 2 Buchst. b des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom (BGBl. I S. 3474) wurde erstmals ein Anspruch auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten eingeführt. Mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom (BGBl. I S. 1386) wurde der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten mit dem Nachzug zu Flüchtlingen gleichgestellt, weil auch bei subsidiär Schutzberechtigten und ihren Angehörigen eine Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsstaat nicht möglich ist (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 46). Gemäß dem am in Kraft getretenen § 104 Abs. 13 Satz 1 AufenthG a. F. wurde dann ein Familiennachzug zu Personen, denen nach dem eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG (als subsidiär Schutzberechtigten) erteilt worden ist, bis zum nicht gewährt. Der Ausschluss wurde durch Art. 1 des Gesetzes zur Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzuges zu subsidiär Schutzberechtigten vom (BGBl. I S. 342) bis zum verlängert. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Außervollzugsetzung des Familiennachzuges, sondern um eine Aussetzung der seit dem geltenden Rechtslage, die nach dem ursprünglichen Konzept des Gesetzgebers nach ihrem zeitlichen Ablauf automatisch wieder in Kraft treten sollte (vgl. BT-Drs. 18/7538 S. 12 und 20).

12§ 104 Abs. 13 AufenthG a. F. verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Die Norm ist nicht verfassungswidrig, weil Härtefällen durch die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen nach dem (gemäß § 104 Abs. 13 Satz 3 AufenthG a. F. unberührt bleibenden) § 22 AufenthG Rechnung getragen werden kann (vgl. - NVwZ 2017, 1699 Rn. 12). Dies gilt insbesondere dann, wenn die besondere Härte durch Umstände in der Person des subsidiär Schutzberechtigten begründet wird ( 1 C 30.19 - BVerwGE 171, 103 Rn. 23). Ein temporärer Ausschluss des Familiennachzuges zu subsidiär Schutzberechtigten nach nationalem Recht verstößt auch weder unmittelbar, noch in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK gegen den nach Art. 8 EMRK gebotenen Schutz der Familie. Den Mitgliedstaaten kommt bei vorübergehenden Einschränkungen der Familienzusammenführung zu subsidiär Schutzberechtigten ein großer Gestaltungsspielraum zu. Dieser wird nicht überschritten, wenn ein Land zur Bewältigung der großen Herausforderungen, die mit dem starken Anstieg der Zahl von Asylbewerbern im Jahr 2015 verbunden waren, den Nachzug für die Dauer von drei Jahren nicht gewährt. Hierin liegt auch keine gegen Art. 14 EMRK verstoßende Diskriminierung. Die Frage, ob sich subsidiär Schutzberechtigte und Personen, denen der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde, in einer vergleichbaren Situation befinden, kann nicht abstrakt oder generell beantwortet werden. Sie ist vielmehr anhand der spezifischen Umstände und insbesondere in Bezug auf das geltend gemachte Recht (auf Familienzusammenführung) zu beurteilen (EGMR, Urteil vom - Nr. 22105/18, M. T. and others v. Sweden - Rn. 95 ff.; zum Erfordernis der Möglichkeit einer Einzelfallprüfung vgl. EGMR <GK>, Urteil vom - Nr. 6697/18, M. A. v. Denmark - Rn. 192).

13Unionsrecht steht der Anwendung von § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. nicht entgegen. Die Richtlinie 2003/86/EG regelt den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nicht. Sie findet nach ihrem Art. 3 Abs. 2 Buchst. c unter anderem dann keine Anwendung, wenn dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen genehmigt wurde. Dies erfasst auch Personen, denen der vom Unionsrecht vorgesehene subsidiäre Schutzstatus zukommt (vgl. [ECLI:EU:C:2018:877] - Rn. 27 ff.).

14Art. 23 RL 2011/95/EU trifft ebenfalls keine Regelung des Familiennachzuges aus dem Ausland zu subsidiär Schutzberechtigten, die sich in Deutschland befinden. Der persönliche Anwendungsbereich der Vorschrift ist in diesen Fällen nicht eröffnet. Sie ist nur auf Familienangehörige anzuwenden, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat (Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU). Entgegen der Auffassung der Revision lässt sich der Richtlinie 2011/95/EU auch kein Gebot der Gleichbehandlung der Angehörigen von anerkannten Flüchtlingen einerseits und von subsidiär Schutzberechtigten andererseits im Hinblick auf den Nachzug aus dem Ausland entnehmen.

15Ein Anspruch des Klägers auf Erteilung eines Visums nach § 32 Abs. 1 AufenthG bestand daher weder bei der Antragstellung im August 2016 noch beim Erreichen der Altersgrenze am , weil der begehrte Familiennachzug nach § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. zu beiden genannten Zeitpunkten nicht gewährt wurde.

16b) Im Einklang mit Bundesrecht hat das Oberverwaltungsgericht auch einen Anspruch des Klägers auf Familiennachzug nach § 36a AufenthG verneint, weil er zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Vorschrift am bereits volljährig war.

17aa) Nach § 6 Abs. 3 i. V. m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG kann dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der als subsidiär Schutzberechtigter eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen ein nationales Visum für die Einreise und den Aufenthalt zum Familiennachzug erteilt werden. Die beispielhafte Aufzählung ("insbesondere") der zwingenden humanitären Gründe für die Zusammenführung in § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nennt unter Nr. 1 die Unmöglichkeit der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit und in Nr. 2 die Betroffenheit eines minderjährigen Kindes.

18bb) Die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung des Familiennachzuges zum anerkannten Flüchtling nach § 32 und § 36 Abs. 1 AufenthG einerseits und zum subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a AufenthG andererseits verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.

19Sie ist insbesondere mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Soweit dieser dem Normgeber gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, und dies sowohl für ungleiche Belastungen als auch ungleiche Begünstigungen gilt ( u. a. - BVerfGE 79, 1 <17>), kann offenbleiben, ob anerkannte Flüchtlinge einerseits und subsidiär Schutzberechtigte andererseits im Hinblick auf die nach dem sekundären Unionsrecht bestehenden Unterschiede im Schutzstatus überhaupt vergleichbar sind. Denn eine Ungleichbehandlung wäre jedenfalls sachlich gerechtfertigt. Sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 GG (BVerfG, Beschlüsse vom - 1 BvL 10/55 - BVerfGE 10, 234 <246> und vom - 1 BvL 78/86 u. a. - BVerfGE 81, 1 <8>; vgl. auch Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 14 ff.) als auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 14 EMRK (EGMR <GK>, Urteil vom - Nr. 38590/10, Biao v. Denmark - Rn. 90) kommt es nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit maßgeblich auf die Gewichtung der durch die Ungleichbehandlung beeinträchtigten Freiheitsrechte an. Im Hinblick auf den Familiennachzug von und zu Minderjährigen sind dabei der Familienschutz nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie das Kindeswohl und Kinderrechte zu berücksichtigen.

20Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK vermitteln einen unmittelbaren Anspruch auf Familienzusammenführung ( - BVerfGE 51, 386 <395>; EGMR <GK>, Urteil vom - Nr. 12738/10, Jeunesse v. the Netherlands - Rn. 107). Bei Entscheidungen über Aufenthaltsrechte sind die familiären Bindungen angemessen zu berücksichtigen. Erforderlich ist eine Einzelfallbetrachtung, bei der die familiären Bindungen, aber auch sonstige Umstände wie die Trennungsdauer oder die Möglichkeit der Herstellung der Familieneinheit nur im Bundesgebiet, abzuwägen sind (vgl. EGMR <GK>, Urteil vom - Nr. 12738/10 - Rn. 106; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom - 2 BvR 588/08 - InfAuslR 2008, 347 <348>, vom - 2 BvR 586/13 - NVwZ 2013, 1207 <1208> und vom - 2 BvR 1333/21 - NVwZ 2022, 406 Rn. 45). Berühren aufenthaltsrechtliche Entscheidungen den Umgang mit einem Kind, ist im Rahmen der Abwägung maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Sind Minderjährige betroffen, sind im Rahmen des dann einschlägigen Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) das Alter der betroffenen Kinder, die Situation in ihrem Herkunftsland und die Abhängigkeit von ihren Eltern bei der Entscheidung in die Abwägung einzustellen. Auch aus einer Zusammenschau des Art. 3 KRK mit Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 KRK folgt allerdings kein Anspruch auf einen voraussetzungslosen Kinder- oder Elternnachzug und auch das Kindeswohl hat keinen unbedingten Vorrang (vgl. 10 C 16.12 - NVwZ 2013, 1493 Rn. 24).

21Die in § 36a AufenthG vorgesehene Beschränkung des Familiennachzuges auf einen Ermessensanspruch im Rahmen einer Kontingentierung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) genügt den dargestellten verfassungs-, konventions- und völkerrechtlichen Anforderungen. Den aufgeführten, in die Einzelfallbetrachtung einzustellenden familiären Belangen kann im Rahmen der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 22 Satz 1 AufenthG, der gemäß § 36a Abs. 1 Satz 4 AufenthG unberührt bleibt, ausreichend Rechnung getragen werden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 22 Satz 1 AufenthG ist grundsätzlich auch in Fällen möglich, in denen die Voraussetzungen für einen Familiennachzug nicht vorliegen. Denn bei der Frage der Vereinbarkeit einschränkender Familiennachzugsregelungen mit Art. 6 GG ist zu berücksichtigen, inwieweit Härtefällen durch die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen gemäß § 22 Satz 1 AufenthG Rechnung getragen werden kann, insbesondere auch dann, wenn die besondere Härte durch Umstände in der Person des subsidiär Schutzberechtigten begründet wird. Damit lassen sich mit dem besonderen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie Art. 7 und 24 GRC nicht zu vereinbarende Familientrennungen in besonderen Einzelfällen über die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus dringenden humanitären Gründen gemäß § 22 AufenthG vermeiden ( 1 B 26.19 - Buchholz 402.242 § 36 AufenthG Nr. 6 Rn. 13 unter Hinweis u. a. auf - Asylmagazin 2018, 179 und BT-Drs. 19/2438 S. 22).

223. Ohne Bundesrechtsverstoß hat das Oberverwaltungsgericht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug an den Kläger nach § 36 Abs. 2 AufenthG verneint.

23Die danach erforderliche außergewöhnliche Härte liegt nicht vor. Der Nachzug nach § 36 Abs. 2 AufenthG ist auf seltene Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre. Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann. Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden ( 1 C 15.12 - BVerwGE 147, 278 Rn. 11 f.). Das Vorliegen der genannten Voraussetzungen hat das Berufungsgericht revisionsrechtlich fehlerfrei verneint.

244. Der Kläger hat auch keinen Aufnahmeanspruch nach § 22 Satz 1 AufenthG.

25a) Gemäß dieser Norm soll nach der Intention des Gesetzgebers insbesondere aus dringenden humanitären Gründen über § 36a AufenthG hinaus im Einzelfall auch Angehörigen der Kernfamilie subsidiär Schutzberechtigter eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden können. Solche Gründe sind anzunehmen, wenn die Aufnahme des Familienangehörigen sich aufgrund des Gebots der Menschlichkeit aufdrängt und eine Situation vorliegt, die ein Eingreifen zwingend erforderlich macht. Dies gilt zum Beispiel beim Bestehen einer erheblichen und unausweichlichen Gefahr für Leib und Leben des Familienangehörigen im Ausland. Die dringenden humanitären Gründe im Sinne des § 22 AufenthG können sowohl beim bereits im Bundesgebiet befindlichen Schutzberechtigten als auch beim im Ausland befindlichen Familienangehörigen vorliegen (BT-Drs. 19/2438 S. 22).

26Dringende humanitäre Gründe im Sinne des § 22 Satz 1 Alt. 2 AufenthG liegen zum einen dann vor, wenn sich der Ausländer aufgrund besonderer Umstände in einer auf seine Person bezogenen Sondersituation befindet, sich diese Sondersituation deutlich von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheidet, der Ausländer spezifisch auf die Hilfe der Bundesrepublik Deutschland angewiesen ist oder eine besondere Beziehung des Ausländers zur Bundesrepublik Deutschland besteht und die Umstände so gestaltet sind, dass eine baldige Ausreise und Aufnahme unerlässlich sind. Sie sind aber zum anderen auch dann gegeben, wenn besondere Umstände des Einzelfalles eine Fortdauer der räumlichen Trennung der Angehörigen der Kernfamilie des subsidiär Schutzberechtigten mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG nicht länger vereinbar erscheinen lassen. Der Zeitpunkt, ab dem den Ehegatten und ihren minderjährigen ledigen Kindern eine weitere Trennung nicht länger zuzumuten ist, ist wiederum maßgeblich davon abhängig, ob diesen eine (Wieder-)Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat der Nachzugswilligen möglich und zumutbar ist. Die Schwelle, bei deren Erreichen die Versagung einer Familienzusammenführung im Bundesgebiet mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG schlechthin unvereinbar ist, aus humanitären Gründen mithin ein - vom Kontingent des § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG unabhängiger - Aufenthaltstitel nach § 22 Satz 1 AufenthG zu gewähren ist, liegt indes höher als jene, die durch Annahme eines Ausnahmefalles in den Fällen des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG den Zugang zu einer (kontingentgebundenen) Auswahlentscheidung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) eröffnet ( 1 C 30.19 - BVerwGE 171, 103 Rn. 49). Soweit die Berücksichtigung einer familiären Notsituation im Rahmen des § 22 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf eine verfassungskonforme Anwendung von § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. und § 36a AufenthG geboten ist, erfordert dies entgegen der Auffassung der Revision keine von den genannten Maßstäben abweichende, insbesondere erweiternde Auslegung. Vielmehr können besondere, aus der Berücksichtigung des Kindeswohls und der familiären Situation im Einzelfall resultierende Umstände als dringende humanitäre Gründe für einen Familiennachzug berücksichtigt werden.

27b) Hiervon ausgehend hat das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise das Vorliegen eines dringenden humanitären Grundes im Falle des Klägers verneint, weil eine von den Verhältnissen anderer afghanischer Staatsangehöriger, deren Eltern und Geschwister das Herkunftsland verlassen haben, abweichende Notlage durch eine ernsthafte Gefahr der politischen Verfolgung nicht ersichtlich sei. Dabei hat es auch die Situation des Vaters des Klägers berücksichtigt, der sich durch die Trennung von seinen volljährigen Söhnen nicht in einer Sondersituation befinde, die sich von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheide. Der Einwand des Klägers, das Berufungsgericht habe die lange Trennungsdauer von über fünf Jahren nicht berücksichtigt, verkennt, dass zwischen der insoweit maßgeblichen Asylantragstellung durch den im Bundesgebiet lebenden subsidiär schutzberechtigten Vater (vgl. BT-Drs. 19/2438 S. 22) im Februar 2016 und der Volljährigkeit des Klägers am , mit der die elterliche Personensorge entfällt, nur etwa eineinhalb Jahre liegen. Den Feststellungen des Berufungsgerichts ist nicht zu entnehmen, dass sich hieraus dringende humanitäre Gründe im Sinne des § 22 Satz 1 AufenthG ergäben.

285. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Da sich die Beigeladene nicht mit einem Antrag am Kostenrisiko beteiligt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2022:081222U1C8.21.0

Fundstelle(n):
DAAAJ-38066