BGH Beschluss v. - XIII ZB 68/21

Abschiebehaftverfahren: Voraussetzungen einer Verletzung des Beschleunigungsgebots

Leitsatz

Das Beschleunigungsgebot ist nicht schon verletzt, wenn einer der für die Vorbereitung einer Abschiebung erforderlichen zahlreichen Bearbeitungsschritte nicht sofort erfolgt. Es reicht im Hinblick auf den der Behörde zustehenden organisatorischen Spielraum aus, wenn die Vorbereitung der Abschiebung so vorangetrieben wird, dass es nicht zu unnötigen Verzögerungen kommt.

Gesetze: Art 20 Abs 3 GG, Art 104 GG, § 26 FamFG

Instanzenzug: LG Mönchengladbach Az: 5 T 82/20vorgehend AG Mönchengladbach Az: 65 XIV (B) 58/19

Gründe

1Der Betroffene, ein ghanaischer Staatsangehöriger, reiste erstmals 2016 nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Der Asylantrag wurde bestandskräftig abgelehnt und dem Betroffenen vollziehbar die Abschiebung angedroht. Der Betroffene wurde am unter Hinzuziehung eines Dolmetschers in seiner Landessprache auf die Anzeigepflicht beim Verlassen des Aufenthaltsorts hingewiesen. Im weiteren Verlauf tauchte er unter. Am wurde er festgenommen. Bei der Anhörung erklärte der Betroffene, er sei Vater eines in Deutschland lebenden Kindes, dessen Mutter ebenfalls ghanaische Staatsangehörige sei.

2Das Amtsgericht hat Abschiebungshaft bis zum angeordnet. Am hat die Vertrauensperson des Betroffenen einen Antrag auf Aufhebung der Haft gestellt und beantragt, im Falle der Haftentlassung das Verfahren als Feststellungsverfahren fortzusetzen. Am wurde der Betroffene abgeschoben. Das Amtsgericht hat den Haftaufhebungsantrag zurückgewiesen und ausgeführt, der Feststellungsantrag sei unzulässig. Das Beschwerdegericht hat den amtsgerichtlichen Beschluss abgeändert und dahin neu gefasst, dass der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft zurückgewiesen werde. Dagegen wendet sich die Vertrauensperson mit der Rechtsbeschwerde und verfolgt ihren Antrag, die Rechtswidrigkeit der Haft im Zeitraum vom 23. bis festzustellen, weiter.

3I. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

41. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, es habe der Haftgrund der Fluchtgefahr vorgelegen. Nach Ablauf der Ausreisefrist sei der Betroffene trotz Belehrung über die Anzeigepflicht untergetaucht. Die Regelung des § 60a Abs. 2b AufenthG habe der Abschiebung nicht entgegengestanden. Der Betroffene habe bei seiner Anhörung erstmals erklärt, Vater eines in Deutschland lebenden Kindes zu sein, ohne Name, Geschlecht, Alter und Wohnort des Kindes anzugeben. Er habe keine Angabe dazu gemacht, dass er Kontakt zum Kind habe. Schließlich sei auch das Beschleunigungsgebot nicht verletzt worden.

52. Die gemäß § 70 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 3 FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist nicht begründet.

6a) Soweit die Rechtsbeschwerde geltend macht, Beugehaft zur Beschaffung von Ausweispapieren sei nicht zulässig, greift das nicht durch. Die Rechtsbeschwerde zieht nicht in Zweifel, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 3a Nr. 3 AufenthG vorgelegen hat. Ist das der Fall, ist Abschiebungshaft zulässig, auch wenn vor der Abschiebung Passersatzpapiere zu beschaffen sind. Die Mitwirkungshaft des § 62 Abs. 6 AufenthG soll (zusätzlich) die Durchführung von Anordnungen nach § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ermöglichen. Nach dem klaren Wortlaut, der Systematik sowie Sinn und Zweck der Vorschrift hat Mitwirkungshaft aber keinen Vorrang vor der Abschiebehaft gemäß § 62 Abs. 3 AufenthG, wenn der Haftgrund der Fluchtgefahr gegeben ist (vgl. Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom , BT-Drucks. 19/10047, S. 43 unten). Die von der Rechtsbeschwerde zitierte Entscheidung betrifft im Übrigen eine Fallgestaltung, in der anders als hier schon kein zulässiger Haftantrag vorgelegen hat (, juris Rn. 8).

7b) Dem Einwand der Rechtsbeschwerde, das Beschwerdegericht verkenne die Amtsermittlungspflichten gemäß § 26 FamFG, ist kein Erfolg beschieden.

8aa) Die Haftgerichte sind auf Grund von Art. 20 Abs. 3, Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich und auf Grund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Bei der Prognose, ob die Abschiebung trotz eines von dem Betroffenen geltend gemachten Abschiebungshindernisses durchgeführt werden kann, hat der Haftrichter eigene Ermittlungen anzustellen; insbesondere muss er sich über den Stand und die Erfolgsaussichten eines behördlichen oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erkundigen, in dem über das Vorliegen etwaiger Abschiebungshindernisse entschieden wird (, juris Rn. 6 mwN). Er hat aber weder zu prüfen noch zu entscheiden, wie Vortrag zu familiären Bindungen ausländerrechtlich zu bewerten ist, insbesondere, ob sich hieraus etwa unter dem Gesichtspunkt einer Duldung des Aufenthalts Abschiebungshindernisse ergeben. Das ist vielmehr Aufgabe der Verwaltungsgerichte (BGH, Beschlüsse vom - V ZB 167/14, juris Rn. 16 mwN; vom - XIII ZB 6/21, juris Rn. 14; grundlegend zur Aufgabenverteilung zwischen Haftgerichten und Verwaltungsgerichten , NVwZ-RR 2022, 237 Rn. 7 ff.).

9bb) Nach diesen Grundsätzen bestand im vorliegenden Fall kein Anlass für weitere Ermittlungen. Der Betroffene hat bei der Anhörung schon nicht vorgetragen, dass er einen Antrag auf Erteilung einer Duldung gestellt habe oder ein behördliches oder verwaltungsgerichtliches Verfahren auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2b AufenthG anhängig sei. Auch die vom Betroffenen nach der Anhörung bevollmächtigte Vertrauensperson macht das nicht geltend. Schließlich ist - ohne dass es hier darauf ankommen würde - ein entsprechender Antrag mit konkreten Angaben zum Kind auch nach der Anhörung bis zum nicht gestellt worden.

10c) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde hat das Beschwerdegericht zu Recht keinen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz darin gesehen, dass die Vorbereitung und Durchführung der Abschiebung den Zeitraum vom bis zum in Anspruch genommen hat.

11aa) Das Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen schließt zwar einen organisatorischen Spielraum der Behörde bei der Umsetzung der Abschiebung nicht aus, verlangt aber, dass die Behörde die Abschiebung oder Überstellung ohne unnötige Verzögerung betreibt und die Dauer der Sicherungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird. Ein Verstoß gegen dieses Gebot führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht weiter aufrechterhalten werden darf (st. Rspr., vgl. nur , juris Rn. 11 mwN).

12bb) Diesen rechtlichen Maßstab hat das Beschwerdegericht seiner Prüfung zutreffend zugrunde gelegt. Seine Würdigung, dass die beteiligte Behörde bei der Planung und Durchführung der Überstellung den sich aus dem Beschleunigungsgebot ergebenden Anforderungen gerecht geworden ist, lässt keinen Rechtsfehler erkennen.

13(1) Der am festgenommene Betroffene wurde am mit dem Ziel der Beschaffung eines Passersatzpapiers aus der in Nordrhein-Westfalen befindlichen Unterbringungseinrichtung nach Berlin verbracht, dort im Rahmen einer Sammelanhörung bei der Botschaft der Republik Ghana vorgeführt und sodann in die Unterbringungseinrichtung zurückgeführt. Nachdem der Bericht der Bundespolizei über die Vorführung am erstellt wurde und der beteiligten Behörde vorlag, wurde am ein Flug angefragt, für den vorgemerkt und am gebucht. Das von der Botschaft ausgestellte und über die Bundespolizei der Zentralen Ausländerbehörde B. übermittelte Passersatzpapier lag am vor; die Abschiebung erfolgte mit dem bereits für den gebuchten Flug.

14(2) Vor diesem Hintergrund ist die Wertung des Beschwerdegerichts, die Abschiebung sei unter den Umständen des vorliegenden Einzelfalls (vgl. , InfAuslR 2017, 450 Rn. 22) ohne unnötige Verzögerung betrieben worden, nicht zu beanstanden. Angesichts der hier notwendigen zahlreichen Bearbeitungsschritte, die jeweils verschiedener Vorbereitungen bedurften, die Zusammenarbeit mehrerer Behörden erforderten und bei denen zudem die (zeitlichen) Vorgaben der ghanaischen Botschaft zu beachten waren, sind unnötige Verzögerungen nicht erkennbar. Soweit die Rechtsbeschwerde die Dauer einzelner Bearbeitungsschritte beanstandet und meint, diese hätten schneller - etwa binnen drei Tagen anstelle einer Woche - erfolgen müssen, verkennt sie, dass das Beschleunigungsgebot nicht schon verletzt ist, wenn einer der erforderlichen zahlreichen Bearbeitungsschritte nicht sofort erfolgt. Angesichts der Vielzahl der von der beteiligten Behörde und den in Zusammenarbeit mit ihr tätigen Behörden zu betreibenden Vorgänge ist es nachvollziehbar, dass das auch bei der gebotenen größtmöglichen Beschleunigung nicht stets der Fall sein kann. Im Gegenteil ist zu erwarten, dass einzelne Bearbeitungsschritte je nach den Umständen teils mehr und teils weniger Zeit in Anspruch nehmen als hierfür im Durchschnitt erforderlich ist. Es reicht im Hinblick auf den der Behörde zustehenden organisatorischen Spielraum daher aus, wenn die Beschaffung der Passersatzpapiere und die Durchführung der Abschiebung - wie hier - so vorangetrieben wird, dass es nicht zu unnötigen Verzögerungen kommt (wie etwa das Abwarten eines erst drei Monate später stattfindenden Sammeltermins, , juris Rn. 15; Verzögerungen von knapp drei Wochen bei der Erstellung eines Antrags auf Ausstellung von Passersatzpapieren , juris Rn. 11; Verzögerung von bereits sechs Wochen, bis die Ausländerbehörde bei der Botschaft in Erfahrung brachte, dass dem Antrag auf Ausstellung von Passersatzpapieren Lichtbilder und der Bescheid über die Ausweisung beizufügen waren, , juris Rn. 8 f.) Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, wenn die Behörde, die bei der Flugbuchung den von der Botschaft vorgegebenen zeitlichen Vorlauf einzuhalten hat, keinen Versuch einer Umbuchung vornimmt, wenn die Passersatzpapiere einige Tage früher vorliegen als zu erwarten war. Im Hinblick auf die genannten Gesamtumstände lässt sich ferner nicht feststellen, dass Verzögerungen durch die Buchung eines Sammelcharterfluges eingetreten sind.

153. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:280223BXIIIZB68.21.0

Fundstelle(n):
FAAAJ-38009