BVerwG Urteil v. - 4 CN 8/21

Rechtsschutzbedürfnis eines Umweltverbandes für einen Normenkontrollantrag gegen einen bereits umgesetzten Bebauungsplan

Leitsatz

Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Normenkontrollantrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO eines nach § 2 Abs. 1 UmwRG antragsbefugten Umweltverbandes entfällt nicht deshalb, weil der angegriffene Bebauungsplan bereits vollständig umgesetzt ist.

Gesetze: § 47 Abs 1 Nr 1 VwGO, § 47 Abs 2 S 1 VwGO, § 1 Abs 1 S 1 Nr 1 UmwRG, § 1 Abs 1 S 1 Nr 4 UmwRG, § 2 Abs 1 UmwRG

Instanzenzug: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Az: 2 N 18.632 Beschluss

Tatbestand

1Der Antragsteller, eine nach § 3 UmwRG anerkannte Vereinigung, wendet sich gegen den vorhabenbezogenen Bebauungsplan Nr. 110 "Therme und Freizeitbad, Eissporthalle" der Antragsgegnerin.

2Der am als Satzung beschlossene und am bekannt gemachte Bebauungsplan überplant ein ca. 8,3 ha großes, östlich der Insel L. zwischen der Bahnlinie L.-B. und dem Bo. gelegenes Gebiet. Er ermöglicht den Bau einer Therme mit Saunalandschaft (inklusive weitläufig gestaltetem Außenbereich), Hallen- und Freibad, drei Restaurantbetrieben und Fitnessbereich und schreibt eine Eissporthalle fest. Festgesetzt wird ein Sondergebiet.

3Mit Bescheid vom erteilte die Antragsgegnerin der T. GmbH die Baugenehmigung für das Vorhaben "Neubau eines Hallen- und Freibades mit Rutschenanlage, Außensauna, Freibadgebäude und Parkplatz". Die hiergegen vom Antragsteller eingeleiteten Eil- und Klageverfahren blieben erfolglos.

4Der Verwaltungsgerichtshof hat den Normenkontrollantrag abgelehnt. Er sei nachträglich unzulässig geworden. Dem Antragsteller fehle das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Mit der bestandskräftigen Baugenehmigung sei der angegriffene vorhabenbezogene Bebauungsplan vollständig ausgefüllt. Eine weitere Genehmigung könne nicht erteilt werden. Das Bauvorhaben sei zwar noch nicht vollständig verwirklicht. Die Fertigstellung befinde sich jedoch in der Endphase. Es sei nicht vorgetragen oder ersichtlich, inwiefern sich die Rechtsstellung des Antragstellers verbessern könne, wenn der Bebauungsplan für unwirksam erklärt werde.

5Mit seiner Revision rügt der Antragsteller, dass der angefochtene Beschluss das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis zu Unrecht verneine und das Gebot des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG i. V. m. Unions- und Völkerrecht verletze. Ferner habe der Verwaltungsgerichtshof nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen.

6Die Antragsgegnerin verteidigt die angefochtene Entscheidung. Das Vorhaben sei inzwischen vollständig umgesetzt und in Betrieb.

Gründe

7Die zulässige Revision ist begründet. Der angefochtene Beschluss verstößt gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof hat den Normenkontrollantrag zu Unrecht als unzulässig abgelehnt. Da bisher keine Feststellungen zur Begründetheit getroffen worden sind, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

81. Das Rechtsschutzbedürfnis liegt vor.

9Das Erfordernis eines allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses soll verhindern, dass ein Gericht mit einem nutzlosen Anliegen befasst wird. Das lässt sich aus dem auch im Prozessrecht geltenden Gebot von Treu und Glauben, dem Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte und dem gleichfalls für die Gerichte geltenden Grundsatz der Effizienz staatlichen Handelns ableiten (vgl. u. a. - BVerfGE 104, 220 <232>). Insoweit ist das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis eine für alle der Verwaltungsgerichtsordnung unterliegenden Verfahren einheitliche, ungeschriebene Zulässigkeitsvoraussetzung (statt vieler: Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 42 Rn. 335; Ziekow, ebenda, § 47 Rn. 128). Bei Normenkontrollanträgen gilt es gleichermaßen für natürliche und juristische Personen wie für Behörden (Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 47 VwGO Rn. 55) und auch für einen anerkannten Umweltverband. Das folgt bereits aus § 2 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 UmwRG, wonach eine Umweltvereinigung (nur) "Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung" einlegen kann.

10Aus Unions- oder Völkervertragsrecht ergibt sich nichts Gegenteiliges. Soweit Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012 L 26 S. 1) - UVP-Richtlinie - und Art. 9 Abs. 2 und 3 des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten vom (Aarhus-Konvention - AK, BGBl. 2006 II S. 1251) Rechtsschutzmöglichkeiten für Umweltverbände einfordern, ist dieser Verpflichtung durch § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 4 UmwRG in Bezug auf Bebauungspläne, die nach der UVP-Richtlinie einer Umweltverträglichkeitsprüfung oder nach der Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme (ABl. L 197 S. 30) - SUP-Richtlinie - einer Strategischen Umweltprüfung bedürfen, Genüge getan. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bleibt es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten diesen überlassen, im Rahmen der Ausgestaltung ihres Prozessrechts die Verfahrensmodalitäten für derartige Rechtsbehelfe zu normieren. Begrenzt wird die mitgliedstaatliche Befugnis bei der Regelung von Zulässigkeitsvoraussetzungen allerdings durch den Äquivalenzgrundsatz und den Effektivitätsgrundsatz ( [ECLI:EU:C:2011:125], Zoskupenie - Rn. 48, vom - C-115/09 [ECLI:EU:C:2011:289], BUND - Rn. 43 und vom - C-411/17 [ECLI:EU:C:2019:622], Inter-Environnement Wallonie - Rn. 171).

11Diese Grenzen sind hier nicht überschritten. Ein Konflikt mit dem Grundsatz der Äquivalenz als dem Gebot, unionsrechtliche Sachverhalte nicht ungünstiger als gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art zu regeln, ist bei verfahrensartübergreifenden allgemeinen Zulässigkeitserfordernissen ausgeschlossen. Der Grundsatz der Effektivität verlangt, dass die Anwendung mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften die Ausübung der durch die Unionsrechtsverordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert. Das steht hier nicht zu befürchten, wenn die Nutzlosigkeit der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes an der Funktion der Umweltverbandsklage gemessen wird.

12An das Rechtsschutzbedürfnis für Normenkontrollanträge von Umweltverbänden sind keine hohen Anforderungen zu stellen. Es ist bei einer nach § 2 Abs. 1 UmwRG bestehenden Antragsbefugnis grundsätzlich gegeben. Anders als bei einem Antrag eines Antragstellers nach § 47 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 VwGO, der eine Rechtsverletzung geltend machen muss, entfällt es nicht ausnahmsweise dann, wenn der angegriffene Bebauungsplan bereits vollständig vollzogen ist und die Rechtsstellung des Antragstellers durch einen erfolgreichen Angriff auf den Bebauungsplan nicht mehr aktuell verbessert werden kann. Diese in der Rechtsprechung zu Plannachbarn entwickelte Fallgruppe (vgl. 4 CN 5.18 - BVerwGE 169, 29 Rn. 19 m. w. N.) ist auf den Normenkontrollantrag eines Umweltverbandes nicht übertragbar. Das folgt aus der besonderen Rolle, die Umweltverbänden im deutschen Prozessrecht - in Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben - eingeräumt wird. Sie können, auch ohne eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen zu müssen, Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung gegen Entscheidungen nach § 1 Abs. 1 Satz 1 UmwRG einlegen, wenn die in § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 UmwRG genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Damit bedarf es für die Einleitung eines Normenkontrollverfahrens nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO gegen einen Bebauungsplan - anders als bei natürlichen oder juristischen Personen - keiner Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Daran anknüpfend ist es nicht gerechtfertigt, für das Rechtsschutzbedürfnis eines Umweltverbandes maßgeblich darauf abzustellen, ob sich durch den Erfolg im Normenkontrollverfahren "seine Rechtsstellung verbessert". Denn der Umweltverband wird nicht im eigenen Interesse, sondern altruistisch zur Förderung der Ziele des Umweltschutzes tätig. Es geht mithin nicht um seine "Rechtsstellung", die er durch einen Normenkontrollantrag verbessern möchte, sondern darum, ob der Umweltverband noch Verbesserungen zum Schutz der Umwelt erreichen kann.

13Das ist auch dann grundsätzlich zu bejahen, wenn der angefochtene Bebauungsplan bereits vollständig umgesetzt wurde. Denn sollte der Normenkontrollantrag erfolgreich sein, besteht die Möglichkeit einer erneuten Bauleitplanung. Auf eine solche Neuplanung kann ein Umweltverband bei UVP- oder SUP-pflichtigen Bebauungsplänen hinwirken. Eine Neuplanung kann zu einer Verbesserung des Umweltschutzes beitragen, weil nicht ausgeschlossen ist, dass sich der Plangeber bei Unwirksamkeit des Bebauungsplans für eine für die Umwelt günstigere Planung entscheidet (vgl. auch 4 CN 3.01 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 156 S. 88 und vom - 4 CN 3.18 - BVerwGE 164, 74 Rn. 15) und etwa zusätzliche Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen aufgrund der Eingriffsregelung nach dem Bundesnaturschutzgesetz (§ 1a Abs. 3 Satz 2, § 9 Abs. 1a, § 200a BauGB) festsetzt. In die Neuplanung können zudem die Erkenntnisse aus dem Normenkontrollverfahren einfließen.

142. Das angefochtene Urteil erweist sich nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Da der Verwaltungsgerichtshof bisher nicht zur Begründetheit des Normenkontrollantrages verhandelt und folglich hierzu auch keine Feststellungen getroffen hat, zwingt dies zur Zurückverweisung (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2023:240123U4CN8.21.0

Fundstelle(n):
TAAAJ-37054