Fristberechnung durch Prozessbevollmächtigten; Rechtsbehelfsbelehrung im Widerspruchsbescheid
Leitsatz
Ein Prozessbevollmächtigter darf sich bezüglich des Zeitpunkts der Zustellung eines Widerspruchsbescheids nicht auf die Angaben seines Mandanten verlassen, sondern muss deren Richtigkeit eigenverantwortlich überprüfen (im Anschluss an - NJW 2019, 1151).
Gesetze: § 60 VwGO, § 73 Abs 3 S 2 VwGO, § 74 VwGO, § 130 BGB
Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein Az: 2 LB 15/19 Beschlussvorgehend Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht Az: 4 A 640/17 Urteil
Tatbestand
1Die Klägerin wendet sich gegen die Festsetzung eines Verschmutzungsgrades sowie die Erhebung von Verschmutzungszuschlägen für stark verschmutztes Abwasser in den Jahren 2013 bis 2015. Ihren Widerspruch gegen drei dazu ergangene Bescheide der Beklagten wies diese mit Widerspruchsbescheid vom zurück. Er enthielt folgende Rechtsbehelfsbelehrung:
"Gegen die Bescheide vom , und können Sie innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Widerspruchsbescheides Klage vor dem Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht, Brockdorff-Rantzau-Straße 13, 24837 Schleswig, erheben. Die Klage ist schriftlich beim Verwaltungsgericht einzureichen oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erklären."
2Der Widerspruchsbescheid wurde per Einschreiben mit Rückschein an die Klägerin versandt und am in einem von ihr als Empfangsraum bezeichneten Bereich auf einer Etage des mehrstöckigen Gebäudes übergeben, auf der sich die Geschäftsräume mehrerer Firmen der B. - darunter die Klägerin sowie die Z. GmbH & Co. KG - befinden. Der Empfangsraum liegt neben dem Aufzug und Treppenhaus des Gebäudes in einem Bereich zwischen zwei Gebäudeteilen mit Geschäftsräumen mehrerer Firmen, zu denen man von dem Empfangsraum aus je über einen offenen Flur gelangt. Den Angaben der Klägerin zufolge sind die jeweiligen Mitarbeiterinnen im Empfangsbereich für die Entgegennahme eingehender Post und deren Weiterleitung in die Sekretariatsbereiche der Firmen der Unternehmensgruppe zuständig sowie berechtigt, den Eingang von Einschreiben auf dem Rückschein zu quittieren und Post zu öffnen. Entgegengenommen wurde der Widerspruchsbescheid von Frau Br., einer Mitarbeiterin der Z. GmbH & Co. KG.
3Die Klägerin hat mit Klageschrift vom , eingegangen beim Verwaltungsgericht per Telefax am Montag, den , Klage erhoben. Nach einem gerichtlichen Hinweis vom auf die Verfristung der Klage hat sie am die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Assistentin ihrer Geschäftsleitung, Frau K., habe am Urlaub gehabt. An diesem Tag sei Frau Br. für die Entgegennahme und Weiterleitung eingehender Post zuständig gewesen. Frau K. habe den Widerspruchsbescheid am erhalten. Bei der Post habe sich kein Umschlag befunden, dem sie ein Zustelldatum hätte entnehmen können; andernfalls hätte sie, ihrer üblichen Handhabung entsprechend, den Umschlag angeheftet. Sie habe den Bescheid daher mit dem Eingangsstempel vom versehen. Dieses Datum sei auch dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mitgeteilt worden.
4Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom als unzulässig abgewiesen. Der Widerspruchsbescheid sei am zugestellt worden, die Klagefrist mithin am abgelaufen. Die Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheids sei nicht deshalb unrichtig gewesen, weil sie nicht über den elektronischen Rechtsverkehr belehrt habe. Eine Wiedereinsetzung scheide ungeachtet der Frage eines etwaigen Verschuldens der Klägerin oder ihres Prozessbevollmächtigten aus, da jedenfalls die zweiwöchige Antragsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 VwGO nicht eingehalten worden sei. Dem Prozessbevollmächtigten, dessen Handeln sich die Klägerin zurechnen lassen müsse, seien vom 29. November bis die Akten und Verwaltungsvorgänge der Beklagten zur Einsichtnahme übersandt worden. Darin sei in einer Beiakte der sich durch Farbe und Form deutlich abhebende Rückschein der Zustellung des Widerspruchsbescheids enthalten gewesen. Eine ordnungsgemäße Prüfung eines Prozessvertreters schließe den Zeitpunkt des Zugangs einer angefochtenen Entscheidung ein. Dem Klägerbevollmächtigten habe daher spätestens aufgrund der Akteneinsicht das tatsächliche Zustelldatum bekannt sein müssen, sodass die Antragsfrist in diesem Zeitpunkt zu laufen begonnen habe.
5Das Oberverwaltungsgericht hat das erstinstanzliche Urteil mit Beschluss gemäß § 130a Satz 1 VwGO vom geändert und der Klage stattgegeben. Die Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheids genüge nicht den Anforderungen des § 58 Abs. 1 VwGO, weil sie keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Klageerhebung in elektronischer Form enthalte. Gelte folglich die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO, so sei die Klage rechtzeitig erhoben worden und komme es auf die Frage einer Wiedereinsetzung nicht an. Da die Beitrags- und Gebührensatzung der Beklagten nicht dem Bestimmtheitsgebot genüge, sei die Klage auch begründet.
6Auf die Beschwerde der Beklagten vom hat das Oberverwaltungsgericht die Revision mit Beschluss vom zugelassen, da der Beschluss von dem 9 C 8.19 - abweiche. Zur Begründung ihrer Revision macht die Beklagte geltend, der fehlende Hinweis auf den elektronischen Rechtsverkehr begründe keine Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung.
7Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung des Beschlusses des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom zurückzuweisen.
8Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
9Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung und verweist u. a. auf ein Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern, dem zufolge sich in der Praxis insbesondere dann Schwierigkeiten ergäben, wenn in der Rechtsbehelfsbelehrung über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinaus Hinweise gegeben würden, die hinsichtlich der elektronischen Einlegung des Rechtsbehelfs unvollständig seien. Die elektronische Einlegung sei keine Unterform der Schriftform i. S. d. § 81 Abs. 1 VwGO; dies werde sowohl durch Art. 3 Nr. 35 der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom als auch durch § 126 Abs. 3 BGB bestätigt, dem zufolge die Schriftform durch die Verwendung der elektronischen Form ersetzt werden könne. Selbst bei Geltung der Monatsfrist sei die Klage nicht verfristet. Eine Frist beginne bei einer Übergabe an einen Empfangsboten nur dann zu laufen, wenn diese in den Geschäftsräumen des Zustelladressaten erfolge; eine Übergabe - wie vorliegend - auf dem Weg dorthin genüge nicht. Maßgeblich sei zudem, wann der Adressat nach gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit der Kenntnisnahme habe. Der Ablauf sei vorliegend indes nicht gewöhnlich gewesen, da Frau Br. dem Schreiben nicht den Zustellumschlag beigefügt habe und Frau K. am abwesend gewesen sei, weshalb auch eine Weiterleitung der Post an diesem Tag zu keiner korrekten Abstempelung geführt hätte. Zudem habe der Widerspruchsbescheid entgegen üblicher Verwaltungspraxis keinen Hinweis auf eine Zustellung per Einschreiben gegen Rückschein enthalten.
Gründe
10Die Revision der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig (A.) und begründet (B.).
11A. Die Revision ist zulässig. Insbesondere entspricht die Revisionsbegründung den Anforderungen des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO.
12Dem steht nicht entgegen, dass die Beklagte innerhalb der Begründungsfrist keinen ausdrücklichen Antrag gestellt hat. Dies ist unschädlich, solange das Ziel und der Umfang des Rechtsmittels nach dem Vorbringen des Revisionsklägers eindeutig erkennbar sind. Bereits aus der Begründungsschrift vom folgt, dass die Beklagte - entsprechend ihrem nachgereichten Antrag vom - eine Abänderung des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts vom mit der Folge begehrt, dass das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts Bestand hat.
13Soweit die Revisionsbegründung des Weiteren die verletzte Rechtsnorm benennen sowie erkennen lassen muss, dass der Revisionskläger den Streitstoff gesichtet und rechtlich durchdrungen hat, genügt der Vortrag der Beklagten auch diesen Anforderungen. Verlangt wird eine sachliche Auseinandersetzung mit den die angefochtene Entscheidung tragenden Gründen, aus der hervorgeht, warum der Revisionskläger diese Begründung als nicht zutreffend erachtet (stRspr, vgl. 9 C 1.19 - BVerwGE 171, 178 Rn. 17). Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom dargelegt, warum der fehlende Hinweis auf die Möglichkeit der Klageeinreichung in elektronischer Form in der Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheids vom weder einen Irrtum hervorrufen noch einen Adressaten von der Klageerhebung abhalten kann. Zwar verhält sich die Revisionsbegründung nicht zu den umfangreichen norminterpretierenden Ausführungen der angefochtenen Entscheidung. Indes war dies vorliegend ungeachtet dessen, dass sich eine Revisionsbegründung nicht mit jedem Argument des Berufungsgerichts auseinandersetzen muss (vgl. 7 C 17.09 - NVwZ-RR 2010, 781 Rn. 16), schon deshalb nicht erforderlich, weil sich der Senat in seinem Urteil vom - 9 C 8.19 - (BVerwGE 171, 194) bereits ausführlich mit der Frage befasst und entschieden hat, dass eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht deshalb im Sinne von § 58 Abs. 2 VwGO unrichtig erteilt ist, weil sie nicht auf die Möglichkeit einer Übermittlung der Klage als elektronisches Dokument hinweist. Da das Oberverwaltungsgericht bei seiner gegenteiligen Entscheidung keine Kenntnis hiervon hatte, ist es auf das vorgenannte Urteil nicht eingegangen und hat dem Streit keine neuen Argumente im Rahmen einer Auseinandersetzung hiermit hinzugefügt, auf die die Revisionsbegründung ggf. hätte eingehen müssen.
14B. Die Revision der Beklagten ist begründet. Der angefochtene Beschluss beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) (1.). Da sich die Entscheidung nicht gemäß § 144 Abs. 4 VwGO aus anderen Gründen als richtig darstellt (2.) und das Bundesverwaltungsgericht nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO in der Sache selbst entscheiden kann (3.), ist der angefochtene Beschluss zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
151. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht. Die Annahme, der fehlende Hinweis auf die Möglichkeit der Einlegung des Rechtsbehelfs in elektronischer Form führe zu einem Belehrungsmangel mit der Folge, dass statt der Monats- die Jahresfrist gelte und die Klage daher zulässig sei, verstößt gegen § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO (vgl. 9 C 8.19 - BVerwGE 171, 194 Rn. 29 ff.). Mit den vom Berufungsgericht für seine gegenteilige Ansicht herangezogenen Argumenten hat sich der Senat in seinem vorgenannten Urteil bereits umfangreich auseinandergesetzt, sodass es vorliegend keines erneuten Eingehens hierauf bedarf. Auch das Vorbringen der Klägerin rechtfertigt keine abweichende Entscheidung. So stellt die Definition eines elektronischen Dokuments in Art. 3 Nr. 35 der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 nur auf die Form des Dokuments an sich, nicht jedoch auf den Übermittlungsweg ab, sodass hieraus schon deshalb keine Rückschlüsse auf eine mögliche Form der elektronischen Klageerhebung gezogen werden können. Weitere Ausführungen zum Hervorrufen eines Irrtums knüpfen an eine vermeintliche Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung an, die vorliegend nicht gegeben ist.
162. Die angefochtene Entscheidung stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO).
17Der Widerspruchsbescheid wurde der Klägerin am zugestellt (a). Damit endete die Klagefrist am und war die am beim Verwaltungsgericht eingegangene Klage verfristet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (b), weshalb ihre Klage unzulässig war. Zwar hat das Berufungsgericht, da es nach seinem Ansatz hierauf nicht ankam, keine eigenen diesbezüglichen Feststellungen hierzu getroffen. Jedoch ist der maßgebliche Sachverhalt, soweit er nicht aktenkundig ist, zwischen den Beteiligten unstreitig und sind die von Amts wegen zu berücksichtigenden Sachentscheidungsvoraussetzungen - einschließlich der Frage einer Wiedereinsetzung im Falle einer Fristversäumnis - auch im Revisionsverfahren zu prüfen (vgl. 1 C 38.93 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 200 S. 18 und vom - 8 C 18.11 - BVerwGE 143, 50 Rn. 19; - BFHE 146, 196; Eichberger/Bier, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand August 2022, § 144 VwGO Rn. 77, 82; Eichberger/Buchheister, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand August 2022, § 137 VwGO Rn. 213 ff., 247).
18a) Der Widerspruchsbescheid wurde der Klägerin am zugestellt.
19Gemäß § 73 Abs. 3 Satz 2 VwGO i. V. m. § 4 Abs. 1 Alt. 2 VwZG kann der Widerspruchsbescheid dem Adressaten mittels Einschreiben mit Rückschein zugestellt werden. Zum Nachweis der Zustellung genügt gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 VwZG der Rückschein, d. h. die Zustellung gilt an dem darauf angegebenen Tag - mithin vorliegend am - als bewirkt (vgl. - BFH/NV 2016, 1250 Rn. 20).
20Der Umstand, dass der Widerspruchsbescheid der Mitarbeiterin einer anderen Firma statt dem Geschäftsführer der Klägerin (vgl. § 6 Abs. 2 Satz 1 VwZG i. V. m. § 35 Abs. 1 Satz 1 GmbHG) übergeben wurde, steht der Wirksamkeit der Zustellung an diesem Tag nicht entgegen. In diesem Fall bestimmt sich der Zugang entsprechend § 130 BGB (vgl. 3 C 12.11 - Buchholz 451.55 Subventionsrecht Nr. 113 Rn. 18 f.; - NJW 2005, 1303 <1304>), mithin danach, wann der Bescheid derart in den Machtbereich des Adressaten gelangt ist, dass bei Annahme gewöhnlicher Verhältnisse mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist. Dies war vorliegend mit der Übergabe an Frau Br. als Empfangsbotin der Klägerin der Fall. Empfangsbote ist, wer entweder vom Empfänger zur Entgegennahme von Erklärungen ermächtigt worden ist oder wer nach der Verkehrsauffassung als ermächtigt anzusehen ist, Willenserklärungen oder diesen gleichstehende Mitteilungen mit Wirkung für den Erklärungsempfänger entgegenzunehmen ( - NJW 2002, 1565 <1566 f.>). Nach den unstreitigen Darlegungen der Klägerin sind die im Empfangsraum tätigen Mitarbeiterinnen dafür zuständig, die Post der auf der Etage ansässigen und zur selben Unternehmensgruppe gehörenden Firmen entgegenzunehmen, zu öffnen und an die jeweiligen Sekretariate weiterzuleiten; hierzu zählt auch die Entgegennahme und Quittierung von Einschreiben. Damit fungieren sie sowohl nach der Verkehrsanschauung als auch nach dem Willen der Klägerin als personifizierte Empfangseinrichtung und folglich als Empfangsboten (vgl. - NJW-RR 1989, 757 <758>).
21Der Zeitpunkt des Zugangs bestimmt sich in diesem Fall nach der Zeit, die der Empfangsbote für die Übermittlungstätigkeit normalerweise benötigt. Diese Zeit kann sich allerdings dann auf Null reduzieren, sodass der Zugang der Erklärung schon mit deren Entgegennahme durch den Empfangsboten bewirkt ist, wenn dieser - wie vorliegend - die Erklärung im räumlichen Machtbereich des Adressaten, d. h. unter anderem während der Geschäftszeit in dessen Geschäftsräumen, entgegennimmt. Dem steht hier nicht entgegen, dass der Empfangsbereich durch einen Flur von den Räumlichkeiten der Klägerin getrennt ist. Die Rechtsprechung stellt die Übergabe an einen Empfangsboten dem Einwurf in den Briefkasten des Adressaten gleich (vgl. - NJW-RR 1989, 757 <758 f.>). Dieser befindet sich regelmäßig ebenfalls außerhalb, aber in unmittelbarem räumlichen Zusammenhang mit den Geschäftsräumen eines Adressaten. Schließlich steht der Umstand, dass Frau Br. möglicherweise dem Widerspruchsbescheid nicht den Umschlag beigefügt hat oder dass Frau K. am urlaubsbedingt abwesend war, nicht der Annahme entgegen, dass die Klägerin bzw. deren Geschäftsführer die (theoretische) Möglichkeit der Kenntnisnahme hatte, auf die es allein ankommt (vgl. - NJW 2002, 1565 <1567>).
22b) Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO liegen nicht vor.
23Die Klägerin war nicht ohne Verschulden an der Einhaltung der Klagefrist gehindert. Ein Verschulden im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO liegt vor, wenn der Betroffene diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falls zuzumuten war ( 8 C 12.21 - LKV 2022, 509 Rn. 20). Nach diesen Grundsätzen war die Versäumung der Klagefrist hier verschuldet, weil der Bevollmächtigte der Klägerin, dessen Verschulden sie sich nach § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss (vgl. 2 C 12.21 - NVwZ 2023, 88 Rn. 24 m. w. N.), es unterlassen hat, sich Gewissheit über den Zeitpunkt der Zustellung des Widerspruchsbescheids zu verschaffen.
24Die Klagefrist wird gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO mit der Zustellung des Widerspruchsbescheids in Gang gesetzt, die von Amts wegen nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes erfolgt (§ 73 Abs. 3 Satz 2 VwGO). Die Zustellung zeichnet sich durch ihre besondere Förmlichkeit aus, welche eine möglichst genaue Bestimmung des Zeitpunkts der Bekanntgabe behördlicher Entscheidungen gewährleistet. Dabei gelten für die unterschiedlichen Formen der Zustellung jeweils eigene gesetzliche Vorschriften. Wird damit der Begriff des Zugangs rechtlich bestimmt, so handelt es sich um eine Rechtstatsache, bezüglich derer sich ein Rechtsanwalt - zumal angesichts der besonderen Bedeutung des Zeitpunkts der Zustellung - nicht auf die Angaben seines Mandanten verlassen darf, sondern deren Richtigkeit er eigenverantwortlich überprüfen muss (vgl. - NJW 2019, 1151 Rn. 9 ff.; Beschlüsse vom - VII ZB 27/95 - NJW 1996, 853 und vom - VI ZR 362/95 - NJW 1996, 1968). Dass vorliegend weder ein Umschlag, auf dem das Datum bei einer Zustellung mittels Postzustellungsurkunde (§ 3 VwZG) oder durch die Behörde gegen Empfangsbekenntnis (§ 5 VwZG) vermerkt gewesen wäre, vorlag noch - wozu keine rechtliche Verpflichtung besteht - auf dem Widerspruchsbescheid die Art der Zustellung angegeben war, schließt ein Verschulden nicht aus, sondern gab vielmehr angesichts der unterschiedlichen Zustellungsarten und der hiervon abhängigen unterschiedlichen Regelungen des Zugangs besonderen Anlass, sich Gewissheit über die Zustellung und ihren Zeitpunkt zu verschaffen (vgl. OVG Frankfurt/Oder, Beschluss vom - 2 B 180/03 - NVwZ 2004, 507 <507 f.>).
25Dies gilt umso mehr, als dem Prozessbevollmächtigten die Akten und Verwaltungsvorgänge der Beklagten am zur Einsichtnahme übersandt wurden, die den - sich durch Farbe und Form abhebenden - Rückschein der Zustellung des Widerspruchsbescheids enthielten. Übernimmt ein Prozessbevollmächtigter ein neues Mandat, bei dem er im Rahmen einer Akteneinsicht zum ersten Mal mit dem gesamten Prozessstoff sowie dem bisherigen Verlauf des Verfahrens in Berührung kommt, so zählt es zu seinen originären Pflichten, die Akten unverzüglich selbst auf ggf. einzuhaltende Fristen zu überprüfen (vgl. - NJW 2000, 1633 <1634>). Zwar war im Zeitpunkt der Akteneinsicht die Klagefrist bereits abgelaufen. Jedoch ist der Wiedereinsetzungsantrag gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO binnen zwei Wochen nach Wegfall des die Fristversäumnis verursachenden Hindernisses zu stellen. Dieses ist behoben, sobald das Fortbestehen der Verhinderung nicht mehr unverschuldet ist, d. h. in dem Zeitpunkt, in dem die Fristversäumnis dem Betroffenen oder seinem Prozessbevollmächtigten bekannt ist oder bei Anwendung der von ihm zu erwartenden Sorgfalt - hier: durch Ermittlung des Zustellungszeitpunkts anhand der Verwaltungsakten - bekannt sein musste (stRspr, vgl. 8 C 38.95 - Buchholz 454.71 § 27 2. WoGG Nr. 2 S. 13; BGH, Beschlüsse vom - VIII ZB 30/92 - NJW 1993, 1332 und vom - VIII ZB 12/94 - NJW 1994, 2831 <2832>). Der Antrag auf Wiedereinsetzung erfolgte am und damit nach Ablauf der vorgenannten Ausschlussfrist. Eine Wiedereinsetzung könnte daher auch dann nicht erfolgen, wenn - entgegen den vorstehenden Ausführungen - eine Schuldhaftigkeit der Fristversäumnis zu verneinen wäre. Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren geltend gemacht hat, die Wiedereinsetzung sei gemäß § 60 Abs. 2 Satz 4 VwGO von Amts wegen zu gewähren gewesen, setzt dies voraus, dass - anders als hier - ein fehlendes Verschulden offenkundig ist (vgl. Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 60 VwGO Rn. 36).
263. War demnach die Klage als unzulässig abzuweisen, so ist der angefochtene Beschluss entsprechend abzuändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zurückzuweisen. Das Bundesverwaltungsgericht kann in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), da weitere Feststellungen nicht erforderlich sind und die Sache entscheidungsreif ist.
27C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2023:010323U9C25.21.0
Fundstelle(n):
PAAAJ-37051