BVerwG Beschluss v. - 2 WDB 10/22

Auslegung einer Prozesserklärung als Berufung

Gesetze: Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 91 Abs 1 S 1 WDO 2002, § 112 WDO 2002, § 116 Abs 1 S 1 WDO 2002, § 116 Abs 2 WDO 2002, § 117 WDO 2002, § 300 StPO

Instanzenzug: Truppendienstgericht Nord Az: N 6 VL 12/18 Beschluss

Tatbestand

1Der frühere Soldat ist Stabsunteroffizier der Reserve. Er wendet sich gegen die durch den Vorsitzenden einer Truppendienstkammer erfolgte Verwerfung seiner Berufung als unzulässig.

21. Mit ihm am zugestelltem Urteil vom hat die 6. Kammer des Truppendienstgerichts Nord die Übergangsbeihilfe des früheren Soldaten wegen eines Trennungsgeldbetrugs gekürzt.

32. Mit einem mit dem Betreff: "Zusendung Verfahrensprotokoll, Nachweise für Coronaerkrankung der Zeugen, Ermittlungs du Verfahrensfehler und Unwahrheiten von Sachverständigenaussagen (Aktenzeichen: N 6 VL 12/18)" nicht handschriftlich unterzeichneten, per Einschreiben übermittelten und am beim Truppendienstgericht Nord eingegangenen Schreiben vom bat der - seinerzeit - nicht anwaltlich vertretene frühere Soldat zur "Wahrung meiner Rechte" um unverzügliche Übersendung des Verhandlungsprotokolls vom . Er erklärte des Weiteren, die Einspruchsfrist werde für die Zeit der Zusendung "rechtskonform pausiert". Nach Durchsicht des Urteils habe er Fehler bzw. Unstimmigkeiten mit dem tatsächlichen Verfahren feststellen müssen. Zudem seien wichtige Bestandteile des Verfahrens und der Verteidigung, die maßgeblich zur Tat beigetragen hätten, im Urteil nicht aufgeführt. Unter anderem sei der Tatbestand des Vorsatzes zu keinem Zeitpunkt nachgewiesen worden; zum Tatzeitpunkt sei er in seiner "Zurechnungsfähigkeit" eingeschränkt gewesen. Nicht nachgewiesen sei auch, dass er sich im Dienst befunden habe. Dem Schreiben beigefügt waren zahlreiche Anlagen, die auch aus an den früheren Soldaten gerichteten Anschreiben (des Karrierecenters der Bundeswehr), aus von ihm unterzeichneten Anträgen (Fahrtkosten betreffend) und einem Korrespondenzschreiben mit seinem früheren Rechtsanwalt bestanden.

43. Nachdem der Vorsitzende der 6. Kammer des Truppendienstgerichts Nord (Kammervorsitzende) den früheren Soldaten mit am übermitteltem Schreiben desselben Tages darauf hingewiesen hatte, dass sein Antrag auf Übersendung der Sitzungsniederschrift die Frist zur Einlegung der Berufung nicht unterbreche, erklärte der frühere Soldat mit am eingegangenem, nicht handschriftlich unterzeichnetem Schreiben vom , er lege Einspruch gegen das Urteil ein und stelle den Antrag auf Einstellung des Verfahrens mangels Beweises. Sollte das Urteil trotz der Vielzahl an Fehlern und Widersprüchlichkeiten, die anhand des Protokolls nachgewiesen werden könnten, rechtskräftig werden, werde er eventuell Rechtsmittel einreichen.

54. Der Kammervorsitzende hat mit am zugestelltem Beschluss vom die Berufung des früheren Soldaten als unzulässig verworfen (Verwerfungsbeschluss). Sie sei nicht innerhalb der gesetzlichen Frist eingelegt worden, denn er habe sie erst am und somit nach Ablauf der einmonatigen Berufungsfrist eingelegt, welche mit der Zustellung des Urteils am zu laufen begonnen habe. Ausweislich des Schreibens vom sei der frühere Soldat rechtsirrtümlich davon ausgegangen, dass sein Antrag auf Übersendung der Sitzungsniederschrift den Ablauf der Berufungsfrist unterbreche. Auf diesen Rechtsirrtum sei er auch unter dem hingewiesen worden.

65. Mit seiner am eingegangenen Beschwerde wendet sich der frühere Soldat gegen den Verwerfungsbeschluss. Entgegen der Auffassung des Kammervorsitzenden handele es sich bei seinem Schreiben vom bereits um die Berufungseinlegung und -begründung. Er sei juristischer Laie und seine Äußerungen seien vom Truppendienstgericht unzutreffend ausgelegt worden.

76. Der Kammervorsitzende hat eine Abhilfe nicht für angebracht gehalten und die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

87. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hält die Beschwerde für begründet.

Gründe

9Die zulässige Beschwerde ist begründet.

101. Der frühere Soldat hat die Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist nicht versäumt.

11a) Gemäß § 115 Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 1 und 2 WDO ist die Berufung gegen das Urteil des Truppendienstgerichts bis zum Ablauf eines Monats nach seiner Zustellung beim Truppendienstgericht oder beim Bundesverwaltungsgericht einzulegen. Dabei entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass die Berufungsfrist bereits mit der Zustellung an den (früheren) Soldaten - und nicht erst mit der formlosen Bekanntgabe an seinen Verteidiger - zu laufen beginnt (vgl. 2 WDB 2.22 - NZWehrr 2022, 259 <260> m. w. N.). Da dem früheren Soldaten das Urteil des Truppendienstgerichts Nord vom ausweislich der Postzustellungsurkunde am zugestellt worden ist, hat die Berufungsfrist mit Ablauf des geendet (vgl. § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 43 Abs. 1 StPO), so dass dessen am beim Truppendienstgericht eingegangenes Schreiben vom fristwahrend wirkte.

12b) Anders als vom Truppendienstgericht angenommen, handelt es sich bei dem Schreiben um eine Berufungsschrift, die den daran nach § 116 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 WDO zu stellenden Anforderungen entspricht.

13aa) Eröffnet das Prozessrecht eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Rechtsmittelgericht darf ein von der Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer nicht gleichsam leerlaufen lassen (BVerfG, Beschlüsse vom - 2 BvR 817/90 u. a. - BVerfGE 96, 27 <39> und vom - 1 BvR 2565/03 - juris Rn. 11). Der gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO anwendbare § 300 StPO, demzufolge ein Irrtum in der Bezeichnung des zulässigen Rechtsmittels unschädlich ist, ist Ausdruck dieser verfassungsrechtlichen Leitentscheidung, so dass insbesondere die fehlende Bezeichnung eines allein statthaften Rechtsmittels unschädlich (Schmitt, in: Meyer-Großner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 300 Rn. 1) ist und im Übrigen auch die gerichtliche Handhabung des Rechtsmittelrechts nicht zu überspannten Anforderungen führen darf ( - NVwZ-RR 2020, 905 Rn. 16 - 18).

14bb) Der Vorsitzende Richter hat nach Maßgabe dessen die sich aus § 116 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 WDO an das Schreiben des früheren Soldaten vom zu stellenden Anforderungen überspannt, indem er ihm ausschließlich die Bedeutung eines Antrags auf Übersendung der Sitzungsniederschrift beigemessen hat.

15(1) Zwar hat der frühere Soldat in dem Schreiben ausgeführt, aus seiner Sicht werde für den Zeitraum der Zusendung der Sitzungsniederschrift die "Einspruchsfrist" "rechtskonform pausiert", wodurch prima facie der Anschein erweckt wird, er wolle sich erst nach der Lektüre der Sitzungsniederschrift hinsichtlich der Einlegung eines Rechtsmittels entscheiden; diesen Eindruck erweckt zudem dessen Schreiben vom , in dem er ausführt, er lege Einspruch gegen das Urteil ein und werde eventuell Rechtsmittel gegen das Urteil einreichen, wenn es trotz seiner Vielzahl an Fehlern und Widersprüchlichkeiten rechtskräftig werden sollte. Dies ändert jedoch nichts daran, dass er in dem Schreiben vom bereits im Betreff ausdrücklich auch "Ermittlungs du Verfahrensfehler und Unwahrheiten von Sachverständigenaussagen" gerügt, zu ihnen - einem rechtsunkundigen Rechtsschutzsuchenden angemessen - umfangreich konkret und verfahrensbezogen vorgetragen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 1 WD 5.69 - S. 4, vom - 2 WDB 13.74 - S. 4 f., vom - 2 WD 12.99 - BVerwGE 113, 329 <331 m. w. N.> und Urteil vom - 2 WD 25.04 - juris Rn. 4) sowie augenscheinlich angenommen hat, schon dadurch eine Korrektur des Urteils durch das Truppendienstgericht bewirken zu können, ohne dafür die Berufungsinstanz bemühen zu müssen. Der Wille des Soldaten, das Urteil sowohl wegen Verfahrens- als auch materiell-rechtlicher, mithin die Schuldfeststellungen betreffender, Fehler nicht in Rechtskraft erwachsen lassen zu wollen, wurde dadurch hinreichend deutlich, so dass die Auslegung des Schreibens vom - ausschließlich als Antrag auf Übersendung der Sitzungsniederschrift - zu einer Verkürzung des Anspruchs des früheren Soldaten auf Zugang zur Rechtsmittelinstanz führte. Dabei war auch nicht erforderlich, dass seine Erklärung das Rechtsmittel der Berufung ausdrücklich als solches bezeichnet ( 2 WD 78.69 - S. 12).

16Der Rechtsirrtum des früheren Soldaten, noch in der ersten Instanz im Rahmen des Verfahrens nach § 117 WDO eine Korrektur des truppendienstgerichtlichen Urteils zu seinen Gunsten herbeiführen zu können, ändert daran nichts. Er ist rechtsunkundig und die Wehrdisziplinarordnung kennt auch im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich keinen anwaltlichen Vertretungszwang, der durch übersteigerte Begründungsanforderungen praktisch erzwungen würde ( 2 WD 22.73 - S. 12; Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 116 Rn. 9). Der richterliche Hinweis vom , mit dem die Wertung des Schreibens vom lediglich als Antrag auf Akteneinsicht zum Ausdruck gebracht wurde, ändert daran nichts, weil diese Wertung aus den dargelegten Gründen in der Sache unzutreffend und zudem insoweit missverständlich war, als sie den Eindruck erweckte, der frühere Soldat könne - entgegen § 116 Abs. 1 Satz 1 WDO - die Berufung formal nur beim Bundesverwaltungsgericht einlegen.

17(2) An dem Vorliegen einer fristgerecht eingelegten Berufungs- und Berufungsbegründungsschrift ändert auch der Umstand nichts, dass das Schreiben des früheren Soldaten vom nicht (handschriftlich) unterzeichnet war. Dem Erfordernis der Schriftlichkeit kann im Prozessrecht auch ohne eigenhändige Namenszeichnung genügt sein, wenn sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Rechtsverkehrswillen ergibt (vgl. 9 C 40.87 - BVerwGE 81, 32 <36>, Beschluss vom - 8 B 8.06 - Buchholz 310 § 81 VwGO Nr. 18 Rn. 5). Die Urheberschaft des früheren Soldaten für das Schreiben folgt zwar nicht zweifelsfrei aus dessen Schreiben vom , das ebenfalls nicht handschriftlich unterzeichnet ist (vgl. 2 WD 41.73 - S. 10); dem per Einschreiben übermittelten Schreiben, bei dem es sich ersichtlich nicht nur um einen Entwurf, sondern um eine willentlich in den Rechtsverkehr gebrachte Erklärung handelt, ist jedoch der Absender einwandfrei zu entnehmen. Vor allem aber folgt aus den ihm als Anlage beigefügten, sich allein auf den früheren Soldaten beziehenden Dokumenten sowie aus den konkreten Darlegungen zum Verhandlungsverlauf die Urheberschaft des früheren Soldaten, weil eine solche Detailkenntnis von Prozessumständen und Prozessthemen nur ihm möglich war. Der Eigenhändigkeit der Unterschrift nicht ausnahmslos rechtskonstitutive Bedeutung beizumessen, entspricht zudem § 112 Satz 2 WDO, der es gemäß § 116 Abs. 1 Satz 3 WDO auch im Berufungsverfahren einem Soldaten ermöglicht, eine Berufung lediglich mündlich bei einem Vorgesetzten einzulegen und dies, ohne dass die darüber angefertigte Niederschrift von ihm zwingend unterschrieben sein muss (vgl. Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 112 Rn. 12).

182. Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Kosten eines Zwischenverfahrens innerhalb des Berufungsverfahrens anzusehen sind (vgl. 2 WDB 3.03 - S. 1).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2023:250123B2WDB10.22.0

Fundstelle(n):
RAAAJ-36745