BGH Beschluss v. - 4 StR 511/22

Anwendbarkeit von Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht bei Dauerdelikten und bei gleichzeitiger Aburteilung mehrerer Taten in verschiedenen Altersstufen

Gesetze: § 1 Abs 2 JGG, § 32 JGG, § 105 Abs 1 JGG

Instanzenzug: LG Essen Az: 65 KLs 28/22

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Übergriff und Herstellung kinderpornographischer Inhalte sowie wegen Herstellung kinderpornographischer Inhalte in zwei Fällen und Besitzes kinderpornographischer Inhalte in Tateinheit mit Besitz jugendpornographischer Inhalte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

21. Während der Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist, hält der Strafausspruch sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Denn die Strafkammer hat nicht erörtert, ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist, obwohl hierzu Anlass bestand.

3a) Nach den Feststellungen im Fall II. 4. der Urteilsgründe war der Angeklagte am im Besitz kinder- und jugendpornographischer Inhalte, die er auf mehreren Datenträgern gespeichert hatte; darunter befand sich auch ein kinderpornographisches Video, das am und somit ein knappes Jahr, bevor der Angeklagte das 21. Lebensjahr vollendete, heruntergeladen worden war. Zutreffend hat der Generalbundesanwalt darauf hingewiesen, dass der Angeklagte, der (auch) „die Bilder“ selbst herunterlud, die Tat sowohl als Erwachsener als auch als Heranwachsender gemäß § 1 Abs. 2 JGG begangen hat. Daher hätte das Landgericht bei dem sich über mehrere Altersstufen erstreckenden Dauerdelikt des Besitzes kinder- und jugendpornographischer Inhalte die Frage in den Blick nehmen müssen, ob auf diese Tat des Angeklagten gemäß §§ 32, 105 Abs. 1 JGG das Jugendstrafrecht oder das allgemeine Strafrecht anzuwenden ist. Insoweit kommt es darauf an, ob das Schwergewicht bei den Tatteilen liegt, die nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären (vgl. Rn. 4; Beschluss vom – 2 StR 107/07 Rn. 5 f.; Beschluss vom – 1 StR 113/96 Rn. 6 f.).

4Diese Beurteilung ist im Wesentlichen Tatfrage, die das Tatgericht nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden hat, und daher der Nachprüfung durch das Revisionsgericht grundsätzlich entzogen (vgl. Rn. 13; Beschluss vom – 4 StR 59/15 Rn. 5; jeweils mwN). Stellt das Tatgericht – wie hier – entsprechende Überlegungen deshalb nicht an, weil es übersehen hat, dass die Anwendbarkeit des Jugendgerichtsgesetzes überhaupt im Raum steht, können eigene Erwägungen des Revisionsgerichts die gebotene tatrichterliche Prüfung nicht ersetzen (vgl. Rn. 19; Beschluss vom – 3 StR 310/17 Rn. 4; Beschluss vom – 4 StR 59/15 Rn. 5; Beschluss vom – 2 StR 107/07 Rn. 6; Beschluss vom – 1 StR 113/96 Rn. 7). Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts kommt daher ein Beruhensausschluss nicht in Betracht.

5b) Der Erörterungsmangel zieht auch die Aufhebung der Einzelstrafen in den Fällen II. 1. bis 3. der Urteilsgründe nach sich. Zwar ergeben die Feststellungen, dass der Angeklagte bereits das 21. Lebensjahr vollendet hatte, als er diese Taten beging. Sollte das neu entscheidende Tatgericht aber im Fall II. 4. der Urteilsgründe zur Anwendung des Jugendstrafrechts gelangen, so würde eine Verurteilung teils zu Jugend- und teils zu Erwachsenenstrafe gegen §§ 32, 105 Abs. 1 JGG verstoßen. Danach ist es nicht statthaft, bei gleichzeitiger Aburteilung von Taten sowohl auf Jugendstrafe als auch auf Erwachsenenstrafe zu erkennen (vgl. Rn. 4; Urteil vom – 1 StR 298/79, BGHSt 29, 67); vielmehr ist je nach Schwergewicht der Taten (vgl. Rn. 18; Urteil vom – 2 StR 460/16 Rn. 13) entweder nur nach Jugendstrafrecht oder nur nach Erwachsenenstrafrecht zu entscheiden.

62. Das angefochtene Urteil ist daher im gesamten Strafausspruch aufzuheben, wobei die Feststellungen hier bestehen bleiben können (§ 353 Abs. 2 StPO). Im Umfang der Aufhebung ist die Sache an die Jugendkammer zurückzuverweisen (vgl. Rn. 6; Beschluss vom – 1 StR 113/96 Rn. 15; , BGHSt 5, 366, 370).

7Die neu zur Entscheidung berufene Jugendkammer wird zunächst im Fall II. 4. der Urteilsgründe ergänzende Feststellungen dazu zu treffen haben, ab wann der Angeklagte die kinder- und jugendpornographischen Inhalte besaß, um sodann entscheiden zu können, wo bei dieser Tat – und ggf. anschließend, wo tatübergreifend – das Schwergewicht im Sinne von § 32 Satz 1 JGG liegt, sofern nicht nach § 105 Abs. 1 JGG allgemeines Strafrecht anzuwenden ist. Auch im Übrigen sind ergänzende Feststellungen möglich, die den bisherigen nicht widersprechen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:140223B4STR511.22.0

Fundstelle(n):
KAAAJ-36675