BGH Beschluss v. - 5 StR 412/22

Anforderungen an die Revisionsbegründung bei der Rüge einer wesentlichen Beschränkung der Verteidigung; Einsicht der Verteidigung in den Datenbestand der EncroChat-Kommunikation beim Landeskriminalamt

Gesetze: § 147 Abs 1 StPO, § 265 Abs 4 StPO, § 338 Nr 8 StPO, § 344 Abs 2 S 2 StPO

Instanzenzug: LG Dresden Az: 4 KLs 424 Js 50987/20

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge jeweils in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Seine auf die Sachrüge und Verfahrensrügen gestützte Revision bleibt ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO). Näherer Erörterung bedarf lediglich das Folgende:

21. Soweit die vom Angeklagten erhobene Rüge der Beschränkung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt (§ 338 Nr. 8 StPO) mit der Stoßrichtung erhoben worden ist, dass sein Antrag auf Aussetzung des Verfahrens, hilfsweise dessen Unterbrechung bis zur Gewährung von Akteneinsicht in die von seinem Verteidiger beantragte Beiziehung der „Rohdaten“ von Chats und zugehörigen Bild-Dateien des Landeskriminalamts Sachsen abgelehnt oder das Verfahren nicht von Amts wegen ausgesetzt worden ist, erweist sie sich als unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

3a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

4aa) In der Hauptverhandlung vom erklärte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, es sei eine Möglichkeit der Einsichtnahme in die beim Landeskriminalamt vorhandenen Daten der EncroChat-Kommunikation im Zusammenhang mit dem angeklagten Tatkomplex in den Räumlichkeiten des Landeskriminalamts Sachsen geschaffen worden. Hierüber habe er den Verteidiger per E-Mail unterrichtet. Der daraufhin geäußerten Annahme des Strafkammervorsitzenden, damit sei dem Begehren der Verteidigung entsprochen worden, diese möge nunmehr zeitnah mit dem Landeskriminalamt Kontakt aufnehmen, trat der Verteidiger des Angeklagten entgegen und verlangte, dass ihm die Daten (auf DVD) gespeichert überlassen werden sollten. Der Vorsitzende lehnte dies unter anderem mit dem Hinweis ab, dass die von der Verteidigung angezweifelte Datenintegrität doch am besten am „Ursprung der Quelle“ zu prüfen sei.

5Der Verteidiger des Angeklagten stellte daraufhin den Antrag, eine Sicherung der beim Landeskriminalamt Sachsen vorliegenden „Rohdaten“ zu den vorhandenen Protokollen der Chats und den darin vorhandenen Bilddateien bestimmter EncroChat-Nutzer auf CD oder DVD zur Gerichtsakte beizuziehen, der Verteidigung Akteneinsicht in diese „Rohdaten“ zu gewähren sowie das Verfahren bis zur Gewährung der Akteneinsicht auszusetzen, hilfsweise zu unterbrechen, um ausreichend Zeit zur Prüfung der „Original-(Roh-)daten“ zu haben.

6In der Hauptverhandlung vom erklärte der Verteidiger, dass er inzwischen beim Landeskriminalamt Akteneinsicht genommen habe, sich aber nur einen groben Überblick habe verschaffen können, da der Umfang von circa 18.000 Nachrichten zu groß gewesen sei, um diese in einer angemessenen Zeit „abschreiben“ zu können. Im Anschluss an die Erklärung beantragte er, den Zeugen J.    vom Landeskriminalamt (erneut) als Zeuge zum Beweis der Tatsache des von ihm mitgeteilten Umfangs der gespeicherten Nachrichten und darüber hinaus zu bestimmten, im Einzelnen zitierten Chatnachrichten zu vernehmen. Zudem sollte dem Angeklagten ein gegen Missbrauch gesichertes Notebook zum Zwecke der Durchsicht der beim Landeskriminalamt Sachsen vorliegenden „Rohdaten“ bestimmter EncroChat-Nutzer zur Verfügung gestellt und die Nutzung im Haftraum gestattet werden, hilfsweise seine Ausführung über einen Zeitraum von zunächst vier Tagen für jeweils sechs Stunden, da nur so seine ausreichende Information über die Chatinhalte realisierbar sei.

7Den Antrag auf Beiziehung der „Rohdaten“ inklusive vorhandener Bild-Dateien sowie die Anträge auf Gewährung von Akteneinsicht und Aussetzung oder Unterbrechung des Verfahrens lehnte die Strafkammer mit Beschluss vom ab. Die Aufklärungspflicht gebiete nicht die Beiziehung der Daten und Gewährung von Akteneinsicht. Der in § 147 Abs. 1 StPO geregelte Aktenbegriff erfasse die dem Gericht vorliegenden oder mit der Anklageschrift vorzulegenden Akten, die in Fortführung der Ermittlungsakten nach Anklageerhebung entstandenen Aktenteile und die vom Gericht herangezogenen oder von der Staatsanwaltschaft nachgereichten Beiakten. Ein Anspruch auf Bildung eines größeren Aktenbestandes begründe diese Vorschrift dagegen nicht. Es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die seitens der Staatsanwaltschaft vorgelegte Akte unvollständig sei. Ein Zugang zu den bei den Ermittlungsbehörden anlässlich des Verfahrens entstandenen Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen, deren Beiziehung durch das Gericht unter Aufklärungsgesichtspunkten nicht für erforderlich erachtet werde (vgl. ), sei dem Verteidiger durch die Möglichkeit der Einsichtnahme beim Landeskriminalamt eingeräumt worden.

8Die in der Hauptverhandlung vom gestellten Anträge lehnte die Strafkammer mit Beschluss vom ab.

9bb) Der Beschwerdeführer rügt, die Strafkammer habe rechtswidrig die beantragte Aussetzung des Verfahrens unterlassen (§ 265 Abs. 4 StPO). Sie habe nicht geprüft, wieviel Zeit die Verteidigung angesichts der Größe des zu sichtenden Datenbestands für die Realisierung ihres Informationsgewinnungsanspruchs benötigen würde. Die umfangreichen Daten seien nicht übergeben worden. Auch habe der Verteidiger keine Gelegenheit erhalten, diese gemeinsam mit dem Angeklagten zu sichten. Für ein Abschreiben der etwa 18.000 Kommunikationsvorgänge habe die Zeit nicht gereicht. Es sei zudem mit Blick auf die Corona-Pandemie und die daraus resultierenden Fürsorgepflichten des Gerichts „nicht einzusehen“, dass die Verteidigung sich angesichts der bestehenden Infektionsgefahr Tage und Stunden zu auswärtigen Behördenterminen hätte begeben sollen.

10b) Die Rüge ist nicht zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz StPO): Es fehlt an der notwendigen Darstellung des Verfahrensgangs unter Mitteilung der konkreten zeitlichen und sonstigen Umstände, aus denen sich ergibt, warum die der Verteidigung zur Verfügung stehende Zeit zur Datensichtung nicht ausgereicht haben sollte (Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 265 Rn. 114; MüKo-StPO/Norouzi, 1. Aufl., § 265 Rn. 77; Beck-OK StPO/Eschelbach, 46. Ed., StPO § 265 Rn. 87). Denn mit der Rüge nach § 338 Nr. 8 StPO sind neben der geltend gemachten Beeinträchtigung der Rechte des Angeklagten die konkreten Umstände im Einzelnen anzugeben, aus denen sich eine wesentliche Beschränkung der Verteidigung ergibt (vgl. , NStZ 1998, 311 f.; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 338 Rn. 104). Die bloße Mitteilung der Beschlusslage durch den Beschwerdeführer genügt insoweit nicht.

11Insoweit verhält sich die Revisionsbegründung schon nicht dazu, ob die Verteidigung durchgehend im Rahmen des Zumutbaren von der ihr jedenfalls seit dem eröffneten Möglichkeit zur Einsichtnahme in die Datenbestände beim Landeskriminalamt Sachsen – bis zur Urteilsverkündung vergingen zweieinhalb Monate – Gebrauch gemacht hat (vgl. ). Ausweislich des vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweisantrags vom hatte dieser (nur) am Einsicht in den Datenbestand genommen und einzelne Chatinhalte hieraus zitiert.

12Schließlich bleibt völlig offen, ob und wenn ja welche Bemühungen die Verteidigung während der Urteilsabsetzung und dem Lauf der Revisionsbegründungsfrist unternommen hat, um Einsicht in die aus ihrer Sicht vorenthaltenen Datenbestände zu erlangen (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 299/03, BGHSt 49, 317, 328; vom – 4 StR 599/09, NStZ 2010, 530, 531; vom – 5 StR 276/15 Rn. 10; Urteil vom – 5 StR 443/19, NZWiSt 2022, 326, 329). Eine Pflicht zu entsprechendem Vortrag besteht sowohl, wenn eine unterbliebene Gewährung von Akteneinsicht geltend gemacht wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 299/03, BGHSt 49, 317, 328; vom – 5 StR 276/15 Rn. 10), als auch, wenn in der unterbliebenen Beiziehung verfahrensfremder Unterlagen ein Verstoß gegen die Amtsaufklärungspflicht erblickt wird (vgl. ; NStZ 2023, 116). Nichts anderes kann gelten, wenn – wie hier – die unterlassene Beiziehung zwar nicht beanstandet, aber ein Verstoß gegen einen unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Informationsgewinnungsanspruch behauptet wird.

132. Die Sachrüge zeigt keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf. Dies gilt auch hinsichtlich des Umstandes, dass das Landgericht in den Fällen II.6 bis II.9 nicht erörtert hat, ob die als rechtlich selbständige Taten bewerteten Handlungen zu einer Bewertungseinheit zusammenzufassen gewesen wären.

14Dabei ist es nicht geboten, festgestellte Einzelverkäufe zu einer Bewertungseinheit zusammenzufassen, nur weil die nicht näher konkretisierte Möglichkeit besteht, dass sie ganz oder teilweise aus einem Verkaufsvorrat stammen ( Rn. 12 mwN). Auch der Zweifelssatz gebietet eine willkürliche Zusammenfassung ohne ausreichende Tatsachengrundlage nicht (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 417/18; vom – 3 StR 467/15).

15Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die vom Angeklagten unterstützten Betäubungsmittelgeschäfte in den Fällen II.7 bis II.9 aus der im Fall II.6 angekauften Gesamtmenge stammten, bestanden angesichts der hier vorliegenden Größenordnung des Betäubungsmittelhandels nicht. Die zeitlichen Abstände zwischen der Erwerbshandlung und den festgestellten Verkaufshandlungen von einer Woche (Fall II.7), annähernd drei Wochen (Fall II.8) und sieben Monaten (Fall II. 9) begründeten keinen derart engen Zusammenhang, der für sich genommen die Annahme einer Bewertungseinheit nahelegen könnte. Auch ein enger räumlicher Zusammenhang ist nicht ersichtlich. Dieser ergibt sich jedenfalls nicht allein aus dem Umstand, dass der Angeklagte als Depothalter für den gesondert Verfolgten R.    fungierte und die von diesem erworbenen Betäubungsmittel im Fall II.6 durch einen Kurier an die Wohnanschrift des Angeklagten geliefert wurden.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:040123B5STR412.22.0

Fundstelle(n):
NAAAJ-36045