BGH Beschluss v. - XIII ZB 48/21

Instanzenzug: LG Ingolstadt Az: 21 T 667/20vorgehend AG Ingolstadt Az: 3 XIV 138/20

Gründe

1Der Betroffene, ein vietnamesischer Staatsangehöriger, wurde am Samstag, dem , gegen 14:00 Uhr von der Bundespolizei zwischen M. und S. in einem Regionalexpress angetroffen. Er führte keinen Reisepass mit sich und verfügte auch nicht über einen Aufenthaltstitel. Die Eurodac-Recherche verlief negativ. Der Betroffene gab an, er sei durch eine Schleuserorganisation, an die er etwa 10.000 € gezahlt habe, vor etwa vier Wochen über Rumänien und Ungarn in einem Lkw nach Deutschland verbracht worden, wo er einer Tätigkeit habe nachgehen wollen. Mit sofort vollziehbaren Verfügungen vom Sonntag, dem wurde die Ausreisepflicht des Betroffenen festgestellt, von der Gewährung einer Ausreisefrist abgesehen, die Abschiebung angedroht sowie die Abschiebung verfügt.

2Das Amtsgericht H. hat am gleichen Tag auf den vorab mit der Verfügung über die Abschiebung und der Beschuldigtenvernehmung per Telefax übermittelten Haftantrag der beteiligten Behörde, der Ausführungen zum Sachverhalt, zur Zuständigkeit der Bundespolizei und des Amtsgerichts H., zur Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht, zu den Voraussetzungen und der Durchführbarkeit der Rückführung, zur Erforderlichkeit und der erforderlichen Dauer der Freiheitsentziehung, zum Haftgrund, zur Verhältnismäßigkeit der Haft und zu den Beteiligungserfordernissen der Staatsanwaltschaft enthält, nach Anhörung des Betroffenen Abschiebungshaft bis zum angeordnet. Dagegen hat der Betroffene Beschwerde eingelegt und die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft beantragt. Am wurde der Betroffene aus der Haft entlassen, weil eine Abschiebung wegen der Coronavirus-Pandemie nicht mehr möglich war. Das Landgericht hat festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat. Dagegen hat die beteiligte Behörde die zugelassene Rechtsbeschwerde eingelegt. Sie verfolgt ihren Zurückweisungsantrag weiter.

3I. Die gemäß § 70 Abs. 1 FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

41. Das Landgericht meint, der Beschluss des Amtsgerichts habe den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, weil das Amtsgericht die Ausländerakte des Betroffenen nicht beigezogen habe. Es habe das Unterlassen auch nicht begründet. Mit dem Haftantrag seien nicht alle Unterlagen übersandt worden, die sich zu diesem Zeitpunkt in der Ausländerakte der Bundespolizei befunden hätten. Beispielsweise seien die sogenannten "Länderlisten" erst im Beschwerdeverfahren vorgelegt worden. Der Beschluss des Amtsgerichts könne daher auch nicht mit der Begründung als rechtmäßig angesehen werden, trotz Nichtbeiziehung der Ausländerakte hätten dem Amtsgericht alle bei der beteiligten Behörde geführten Unterlagen vorgelegen. Es dürfe nämlich nicht geprüft werden, ob das Amtsgericht im Falle der Beiziehung der vollständigen Ausländerakte anders entschieden hätte. Die nachträgliche Beiziehung der Ausländerakte könne keine Heilung herbeiführen.

52. Das hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

6a) Zwar hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, die unbegründete Nichtbeiziehung der Ausländerakte könne die gleichwohl angeordnete Abschiebungshaft mit dem Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung belasten, der durch die Nachholung der Aktenvorlage rückwirkend nicht mehr zu tilgen sei und hinsichtlich dessen es sich verbiete zu untersuchen, ob die Haftanordnung auf der Nichtbeiziehung der Ausländerakte beruhe (, NVwZ-RR 2020, 801 Rn. 54 f.). Bei der Frage, ob ein solcher Makel vorliegt, kommt es im Hinblick auf den Zweck der Aktenvorlage, nämlich eine für die Anordnung der Sicherungshaft tragfähige Grundlage zu ermitteln, auf die Umstände des Einzelfalls an.

7b) Im vorliegenden Fall rügt die Rechtsbeschwerde allerdings schon zu Recht, dass das Beschwerdegericht keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen hat, ob eine Aktenvorlage unterblieben ist.

8aa) Die beteiligte Behörde macht geltend, sie habe die zum Zeitpunkt der Anhörung nur wenige Unterlagen umfassende Akte des Betroffenen bei dessen persönlicher Anhörung dem Gericht vollständig vorgelegt. Eine bei der Ausländerbehörde geführte Akte habe es nicht gegeben, weil der Betroffene vor seinem Aufgreifen am nicht in Erscheinung getreten sei. Die im Beschwerdeverfahren vorgelegten sogenannten "Länderlisten" seien aufgrund der Coronavirus-Pandemie erst seit dem geführt worden. Schon aus diesem Grund hätten sie nicht am Bestandteil der Akte sein können.

9bb) Erweist sich der Vortrag der beteiligten Behörde als zutreffend, was im Rechtsbeschwerdeverfahren zu ihren Gunsten zu unterstellen ist, wäre sie bereits ihrer "Soll-Verpflichtung" zur Vorlage der (Ausländer-)Akte des Betroffenen nach § 417 Abs. 2 Satz 3 FamFG nachgekommen. Durch die vorhergehende Übersendung der relevanten Aktenstücke und die Vorlage der vollständigen - nur wenige Unterlagen umfassenden - Akte des Betroffenen anlässlich seiner Vorführung zur persönlichen Anhörung wäre in diesem Fall sichergestellt, dass die genannte "Soll-Verpflichtung" zur Vorlage der (Ausländer-)Akte den ihr zugedachten Zweck erreichte, nämlich, eine für die Anordnung der Sicherungshaft tragfähige tatsächliche Grundlage zu ermitteln (, juris Rn. 11 mwN).

10II. Danach ist der Beschluss des Beschwerdegerichts aufzuheben und die Sache an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen, das den Sachverhalt gemäß § 26 FamFG aufzuklären haben wird. Dies kann etwa durch Einholung dienstlicher Stellungnahmen des Amtsrichters und des vorführenden Beamten über die Vorlage der Akte erfolgen. Dazu wird darauf hingewiesen, dass das Vorliegen der Akte bei der Anhörung auch noch nach Abschluss der Instanz dokumentiert werden kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XIII ZB 37/19, InfAuslR 2020, 279 Rn. 13 ff.; vom - XIII ZB 93/19, juris Rn. 22; vom - XIII ZB 66/20, juris Rn. 7). Sollte sich das Beschwerdegericht - was im Bereich seiner tatrichterlichen Würdigung liegt - allerdings nicht von der Vorlage der nur wenige Unterlagen umfassenden Akte und insbesondere derjenigen ihrer Bestandteile, aus denen sich die Ausreisepflicht des Betroffenen und die Voraussetzungen der Abschiebung gemäß §§ 58 ff. AufenthG ergeben, überzeugen können, wird es die Rechtswidrigkeit der Haft festzustellen haben.

11III. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:170123BXIIIZB48.21.0

Fundstelle(n):
GAAAJ-34676