BGH Beschluss v. - 6 StR 476/22

Strafurteil wegen sexuellen Kindesmissbrauchs: Anforderungen an die Tatsachenfeststellungen und die Beweiswürdigung bei Vorliegen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation

Gesetze: § 261 StPO, § 267 Abs 1 S 2 StPO, § 176 StGB

Instanzenzug: LG Frankfurt (Oder) Az: 24 KLs 5/19

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten – unter Freispruch im Übrigen – wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt, ein Berufsverbot angeordnet sowie einen Adhäsionsausspruch getroffen. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat bereits mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), so dass es auf die erhobenen Verfahrensbeanstandungen nicht ankommt.

I.

21. Nach den Urteilsfeststellungen organisierte der Angeklagte in einem Kinderferienlager während der Schulferienzeiten „ehrenamtlich“ Kinderbetreuung und Freizeitgestaltung. Die damals zehn- bzw. elfjährige Nebenklägerin war dort in den Schulferien der Jahre 2014 und 2015 auf Einladung des Angeklagten zu Gast und schlief – in Absprache mit ihren Eltern – mit diesem im selben Zimmer. Zu nicht näher bestimmbaren Tatzeitpunkten streichelte der Angeklagte den „unbekleideten Brustbereich sowie die unbekleidete Vulva“ der Nebenklägerin, forderte diese zu Manipulationen an seinem Penis auf (Fall II.2a) und streichelte – in einem zweiten Fall (II.2b) – abermals ihren unbekleideten Brust- und Vaginalbereich.

32. Das sachverständig beratene Landgericht hat sich von der Täterschaft des Angeklagten, der die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe bestritten hat, aufgrund der Aussage der Nebenklägerin überzeugt. Diese habe „typisierte“ Handlungen beschrieben, die „fast jeden Abend“ im Ferienlager vom Angeklagten an ihr vorgenommen worden seien. Eine differenzierte Beschreibung einzelner Tathandlungen und deren zeitlich konkrete Einordnung sei ihr zwar nicht möglich gewesen. Die Strafkammer hat sich – gestützt durch ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten und mit Blick auf die Einlassung des Angeklagten – aber davon überzeugt, dass das festgestellte Streicheln „zumindest zweimal“ und die Manipulation am Penis „jedenfalls einmal“ erfolgt seien. Von fünf weiteren Tatvorwürfen zum Nachteil der Nebenklägerin hat sie den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.

II.

4Das Urteil war aufzuheben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Die den Feststellungen zugrundeliegende Beweiswürdigung hält – auch eingedenk des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs (st. Rspr.; vgl. etwa , BGHSt 29, 18, 20 f. mwN) – sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

51. In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (vgl. , NStZ-RR 2021, 24; vom − 2 StR 194/17, NStZ 2019, 42; Beschluss vom – 6 StR 448/22). Deshalb ist es in solchen Fällen in der Regel erforderlich, die Entstehung und Entwicklung der betreffenden Aussage im Urteil zu erörtern (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 156/00, NStZ 2000, 496, 497; vom – 4 StR 299/21, Rn. 8; Urteil vom – 2 StR 447/17, NStZ-RR 2018, 220, 221; Miebach in FS Joecks, 2018, S. 133, 139 mwN).

62. Dem werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Der – im Übrigen sorgfältigen – Beweiswürdigung ist zwar zu entnehmen, dass die Nebenklägerin vier Jahre vor der Hauptverhandlung polizeilich vernommen sowie später durch einen aussagepsychologischen Sachverständigen exploriert worden ist und sich zuvor auch gegenüber Dritten zum Tatgeschehen geäußert hatte. Die Inhalte ihrer Aussagen werden aber nicht einmal zum Tatkerngeschehen wiedergegeben. Auf dieser Grundlage ist für den Senat nicht hinreichend nachprüfbar, ob die tatgerichtliche Annahme von Aussagekonstanz, der in diesen Konstellationen erhebliche Bedeutung für die Beweiswürdigung zukommt (vgl. , Rn. 7; Hohoff in Deckers/Köhnken, Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess, 5. Bd., 2022, S. 11, 16), auf einer rechtsfehlerfreien Würdigung beruht.

III.

7Lediglich ergänzend bemerkt der Senat:

81. Sollte das neue Tatgericht für den Fall eines Schuldspruchs wiederum die Anordnung eines Berufsverbots erwägen, wird es – näher als bislang geschehen – in den Blick zu nehmen haben, dass § 70 StGB tatbestandlich die Gefahr künftiger ähnlicher erheblicher Rechtsverletzungen durch den Täter im maßgeblichen Zeitpunkt der Urteilsverkündung voraussetzt. In die gebotene Gesamtwürdigung wäre in besonderer Weise einzustellen, dass der Angeklagte bislang unbestraft ist und ihn möglicherweise schon diese erste Verurteilung und eine (drohende) Vollstreckung von weiteren Taten abhalten könnte (vgl. , StV 2013, 699; Beschluss vom – 5 StR 487/94, NStZ 1995, 124). Dies gilt gleichermaßen mit Blick auf die länger zurückliegenden Tatzeiten, das fehlende Bekanntwerden weiterer Straftaten gerade auch im Zusammenhang mit seiner – bis zur Hauptverhandlung ausgeübten – Erziehertätigkeit sowie mit Rücksicht auf eine jedenfalls bislang nicht festgestellte tatursächliche sexuelle Devianz (vgl. , aaO).

92. Im neuen Rechtsgang wird hinsichtlich der geltend gemachten Adhäsionsansprüche zu beachten sein, dass der Zinsanspruch erst ab dem auf die Rechtshängigkeit des Zahlungsanspruchs folgenden Tag besteht (vgl. , NStZ-RR 2019, 96) und eine begehrte Ersatzpflicht für künftige Schäden des Adhäsionsklägers ein in Antragsschrift und Urteilsgründen zu belegendes Feststellungsinteresse voraussetzt (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 409/21, Rn. 3; vom – 6 StR 448/22).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:240123B6STR476.22.0

Fundstelle(n):
RAAAJ-34146