BGH Urteil v. - VII ZR 297/21

Berufungsverfahren: Pflicht des Einzelrichters zur Vorlage des Rechtsstreits an das Kollegium zur Entscheidung über eine Übernahme; Folgen der Nichtbeachtung der Vorlagepflicht

Leitsatz

1. Der Einzelrichter muss den Rechtsstreit nach § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO dem Kollegium zur Entscheidung über eine Übernahme vorlegen, wenn sich eine aus seiner Sicht gegebene grundsätzliche Bedeutung aus einer - nach der Übertragung auf ihn eingetretenen - wesentlichen Änderung der Prozesslage ergibt.

2. Durch Nichtbeachtung der Vorlagepflicht entzieht der Einzelrichter die erneute Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung der Sache dem Kollegium als dem gesetzlich zuständigen Richter.

Gesetze: § 526 Abs 2 S 1 Nr 1 ZPO, § 547 Nr 1 ZPO, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Instanzenzug: OLG Celle Az: 7 U 187/20vorgehend LG Stade Az: 2 O 51/19

Tatbestand

1Die Klägerin nimmt die beklagte Fahrzeugherstellerin wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung auf Schadensersatz in Anspruch.

2Die Klägerin erwarb mit Kaufvertrag vom von einem Autohändler ein Kraftfahrzeug des Typs VW Caddy als Gebrauchtwagen zum Preis von 26.500 €. Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor der Baureihe EA 189 ausgestattet. Dieser verfügte über eine Motorsteuerungssoftware, die das Durchfahren des Neuen Europäischen Fahrzyklus auf dem Prüfstand erkannte und in diesem Fall eine höhere Abgasrückführungsrate als im Normalbetrieb bewirkte. Am veräußerte die Klägerin das Fahrzeug weiter.

3Das Landgericht (Einzelrichter) hat die Beklagte zur Erstattung des Kaufpreises nebst Prozesszinsen Zug um Zug gegen Zahlung von 6.168,25 € Nutzungsersatz und Herausgabe des - zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiterveräußerten - Fahrzeugs sowie zum Ausgleich vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von insgesamt 2.077,74 € verurteilt und festgestellt, dass der Kaufpreiserstattungsanspruch der Klägerin aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung der Beklagten herrührt. Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt. Das Berufungsgericht hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom auf den Einzelrichter übertragen. Mit Schriftsatz vom hat die Klägerin die Veräußerung des Fahrzeugs mitgeteilt.

4Die Klägerin hat in der Berufungsinstanz zuletzt beantragt, das erstinstanzliche Urteil dahingehend abzuändern, dass die Kaufpreiserstattung Zug um Zug gegen Zahlung von (lediglich) 5.509,90 € Nutzungsersatz und - statt der Herausgabe des Fahrzeugs - 8.000 € Wertersatz zu erfolgen habe. Das Berufungsgericht, das durch den Einzelrichter entschieden hat, hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat es deren Verurteilung - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels und Klageabweisung im Übrigen - auf die Zahlung von Prozesszinsen aus einem Betrag von 19.855,91 € für die Zeit bis zur Fahrzeugveräußerung und den Ausgleich vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von insgesamt 1.171,67 € beschränkt.

5Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren aus der Berufungsinstanz mit Ausnahme des Antrags auf Feststellung, dass ihr Kaufpreiserstattungsanspruch aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung der Beklagten herrührt, weiter.

Gründe

6Die Revision ist zulässig und begründet. Das Berufungsurteil unterliegt im Umfang der Anfechtung schon deshalb der Aufhebung, weil es als Einzelrichterentscheidung unter Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ergangen ist.

I.

7Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

8Zwar sei die Beklagte grundsätzlich gemäß § 826 BGB verpflichtet, den Käufern von Fahrzeugen mit dem Motor EA 189 den um eine Nutzungsvergütung geminderten Kaufpreis Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs zu erstatten. Der Schaden der Klägerin sei jedoch durch die Weiterveräußerung des Fahrzeugs, mit der sie sich von den letzten verbliebenen Folgen des "ungewollten" Kaufvertrags befreit habe, entfallen. Einen durch den "Diesel-Abgasskandal" bedingten Mindererlös habe die Klägerin trotz eines gerichtlichen Hinweises nicht dargetan. Unberührt bleibe ein Anspruch auf Prozesszinsen bis zur Weiterveräußerung und auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.

9Die Revision sei zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO zuzulassen, da die Auswirkungen einer Weiterveräußerung des Fahrzeugs auf den Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt würden.

II.

10Die Revision ist aufgrund der Zulassung durch das Berufungsgericht gemäß § 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Die Zulassung durch den Einzelrichter ist nicht deshalb unwirksam, weil dieser es versäumt hat, den Rechtsstreit gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO dem Kollegium zur Entscheidung über eine Übernahme vorzulegen (vgl. zu § 568 Satz 2 Nr. 2 ZPO Rn. 7, juris; Beschluss vom - VIII ZB 44/18 Rn. 8 m.w.N., juris). Der Statthaftigkeit der Revision steht auch keine Zulassungsbeschränkung entgegen. Das Berufungsgericht hat die Zulassung der Revision im Urteilstenor ohne Einschränkungen ausgesprochen und in den Entscheidungsgründen lediglich den Grund für die Zulassung angegeben (vgl. Rn. 16 f., NJW 2022, 321).

III.

11Der Erlass des Berufungsurteils durch den Einzelrichter verletzt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

121. Das vollbesetzte Berufungsgericht hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom gemäß § 526 Abs. 1 ZPO einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Der so ermächtigte Einzelrichter ist zur Entscheidung über die Berufung auch dann befugt, wenn er abweichend von der Mehrheit des Kollegiums (vgl. § 526 Abs. 1 Nr. 3 ZPO) von vornherein die grundsätzliche Bedeutung der Sache angenommen hat (vgl. Rn. 11, WM 2021, 257; Urteil vom - VII ZR 288/17 Rn. 14 m.w.N., BGHZ 220, 68). Er kann auch ohne Verfahrensverstoß die Revision zulassen ( Rn. 11, NJW 2013, 1149).

13Der Einzelrichter muss den Rechtsstreit jedoch nach § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO dem Kollegium zur Entscheidung über eine Übernahme vorlegen, wenn sich die aus seiner Sicht gegebene grundsätzliche Bedeutung aus einer - nach der Übertragung auf ihn eingetretenen - wesentlichen Änderung der Prozesslage ergibt (vgl. Rn. 12, NJW 2020, 1947; Urteil vom - VII ZR 288/17 Rn. 14, BGHZ 220, 68; Urteil vom - IX ZR 197/14 Rn. 19, WM 2015, 1622; Urteil vom - VIII ZR 286/02, NJW 2003, 2900, juris Rn. 5). Eine solche Vorlagepflicht hat der Einzelrichter im Streitfall nicht beachtet. Mit der Zulassung der Revision hat er die - im Sinne aller in § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO genannten Zulassungsgründe zu verstehende (vgl. Rn. 5, NJW-RR 2022, 570; Beschluss vom - VIII ZB 44/18 Rn. 9, juris; Beschluss vom - II ZB 20/10 Rn. 18, NJW 2011, 2974; jeweils m.w.N.) - grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO bejaht. Konkret hat er die Frage als zulassungsrelevant angesehen, welche Rechtsfolgen sich aus der Weiterveräußerung des Fahrzeugs durch die Klägerin ergeben. Die Weiterveräußerung ist dem Berufungsgericht aber erst mit Schriftsatz der Klägerin vom , also nach der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter mitgeteilt worden. Damit ergab sich die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aus der maßgeblichen Sicht des Einzelrichters aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage im Sinne von § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO.

142. Durch die Nichtbeachtung der Vorlagepflicht gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO hat der Einzelrichter die erneute Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung der Sache dem Kollegium als dem gesetzlich zuständigen Richter entzogen (vgl. Rn. 10, juris; Urteil vom - VI ZR 389/12 Rn. 8 m.w.N., NJW 2014, 300; Beschluss vom - III ZB 66/05, NJW-RR 2006, 286, juris Rn. 3). Gleiches gilt für die Entscheidung in der Sache, da aus der Sicht des Einzelrichters eine Übernahme des Rechtsstreits durch das Kollegium gemäß § 526 Abs. 2 Satz 2 ZPO geboten gewesen wäre. Das Vorgehen des Einzelrichters stellt sich angesichts der widersprüchlichen gleichzeitigen Bejahung und (impliziten) Verneinung der Grundsatzbedeutung als objektiv willkürlich dar und verletzt daher das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. Rn. 5, NJW-RR 2022, 570; Beschluss vom - VIII ZB 44/18 Rn. 9, juris; Beschluss vom - II ZB 20/10 Rn. 18, NJW 2011, 2974; Beschluss vom - IX ZB 134/02, BGHZ 154, 200, juris Rn. 7 f.).

15Das Revisionsgericht hat den Verfassungsverstoß von Amts wegen zu beachten (vgl. Rn. 5, NJW-RR 2022, 570; Beschluss vom - VIII ZB 44/18 Rn. 9, juris; Beschluss vom - III ZB 66/05, NJW-RR 2006, 286, juris Rn. 3; jeweils m.w.N.). § 526 Abs. 3 ZPO steht - in verfassungskonformer Auslegung - der Beachtlichkeit der Rechtsverletzung nicht entgegen (vgl. Rn. 9, WM 2021, 257; Urteil vom - VII ZR 288/17 Rn. 13, BGHZ 220, 68; Urteil vom - V ZR 221/15 Rn. 7, NJW-RR 2017, 260; Urteil vom - IX ZR 197/14 Rn. 19, WM 2015, 1622; Urteil vom - VI ZR 4/06 Rn. 5, BGHZ 170, 180).

IV.

16Entscheidet der Einzelrichter - wie hier - unbefugt allein, ist der absolute Revisionsgrund der fehlerhaften Gerichtsbesetzung gemäß § 547 Nr. 1 ZPO gegeben (vgl. Rn. 10, NJW-RR 2016, 388; Urteil vom - VI ZR 389/12 Rn. 7, NJW 2014, 300). Das Berufungsurteil ist ohne Sachprüfung im Umfang seiner Anfechtung aufzuheben und die Sache insoweit an das Berufungsgericht (Einzelrichter) zurückzuverweisen.

17Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass der Einzelrichter nicht gehindert ist, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO nach erneuter Prüfung zu verneinen, nachdem der Bundesgerichtshof die Rechtsfolgen einer Weiterveräußerung des Fahrzeugs durch den Geschädigten zwischenzeitlich im Grundsatz geklärt hat (vgl. Rn. 20, ZIP 2022, 220; Urteil vom - VI ZR 533/20 Rn. 24 ff., NJW 2021, 3594).

V.

18Hinsichtlich der durch die Revision entstandenen Gerichtskosten macht der Senat von der Möglichkeit des § 21 GKG Gebrauch.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:171122UVIIZR297.21.0

Fundstelle(n):
NJW 2022 S. 9 Nr. 52
NJW 2023 S. 925 Nr. 13
NJW 2023 S. 926 Nr. 13
WM 2023 S. 543 Nr. 11
ZIP 2022 S. 5 Nr. 51
VAAAJ-29095