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Online-Nachricht - Donnerstag, 01.12.2022

Verfahrensrecht | Aussetzung der Vollziehung eines Abrechnungsbescheids über Säumniszuschläge (BFH)

Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO gebotenen summarischen Prüfung bestehen ernstliche verfassungsrechtliche Zweifel an der Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO, soweit diese nach dem entstanden sind (Anschluss an BFH-Beschlüsse v. - V B 4/22 (AdV), zur amtlichen Veröffentlichung vorgesehen, und v. - VII B 69/21 (AdV), n.v.: ; veröffentlicht am ).

Sachverhalt: Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der in den Abrechnungsbescheiden v. ausgewiesenen und nicht erlassenen Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 2019, zum Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer 2019 sowie zur Einkommensteuervorauszahlung für das erste Kalendervierteljahr 2021. Das FG der ersten Instanz hatte dem Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung der Vollziehung der in den Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge stattgegeben ().

Der VIII. Senat des BFH wies die hiergegen gerichtete Beschwerde des FA zurück:

  • Das FG hat die begehrte AdV der streitgegenständlichen Säumniszuschläge zu Recht gewährt.

  • Das FG ist insoweit zu Recht von dem , BVerfGE 158, 282 ausgegangen. Danach verstößt § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes und ist daher verfassungswidrig, soweit er auf Verzinsungszeiträume ab dem zur Anwendung gelangt. Aufgrund einer Fortgeltungsanordnung für die Verzinsungszeiträume bis zum ist der Zinssatz von 6 % p.a. allerdings erst für Verzinsungszeiträume ab dem nicht mehr anwendbar.

  • Das BVerfG hat zwar in seinem Beschluss in BVerfGE 158, 282 festgestellt, dass andere Verzinsungstatbestände der AO einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Wertung bedürften (BVerfG-Beschluss in BVerfGE 158, 282, Rz 241 f.).

  • Sowohl der VIII. Senat des BFH als auch der V. Senat des BFH haben jedoch auch im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge geäußert, soweit Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukommt, sondern sie die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern haben (zinsähnliche Funktion) (vgl. BFH-Beschlüsse v. - VII B 69/21 (AdV), nicht veröffentlicht n.v. , unter Hinweis u.a. auf , BFH/NV 2021, 177; , BFH/NV 2022, 1030).

  • Der VIII. Senat schließt sich diesen Ausführungen an. Denn es ist in der Rechtsprechung und überwiegend auch im Schrifttum anerkannt, dass Säumniszuschlägen auch die Funktion einer Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zukommt.

  • Der Umstand, dass Säumniszuschläge nicht ausschließlich zinsähnlichen Charakter haben, sondern ihnen auch die Funktion eines Druckmittels zukommt, das den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Zahlung fälliger Steuern anhalten, also verhaltenslenkend wirken, und zugleich entstandenen Verwaltungsaufwand ausgleichen soll, steht der Annahme ernstlicher Zweifel in Bezug auf die Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO nicht entgegen.

  • Vielmehr führt das Bestehen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe in § 240 Abs. 1 Satz 1 AO dazu, dass die streitgegenständlichen Säumniszuschläge in voller Höhe von der Vollziehung auszusetzen sind, da es keine Teilverfassungswidrigkeit in Bezug auf einen bestimmten Zweck einer Norm gibt (vgl. bereits BFH, Beschluss in BFH/NV 2019, 1060, Rz 16 zu ernstlichen Zweifeln bei Aussetzungszinsen; gleicher Ansicht BFH-Beschluss in BFH/NV 2022, 1030, Rz 47 zu Säumniszuschlägen).

Anmerkung von Dr. Christian Levedag, Richter im VIII. Senat des BFH:

Mit dem Beschluss v. - VIII B 64/22 (AdV) hat der VIII. Senat eine Beschwerde des Finanzamts gegen einen stattgebenden ADV- zu der Frage, ob ernstliche verfassungsrechtliche Zweifel an der Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO bestehen, soweit diese nach dem entstanden sind, als unbegründet zurückgewiesen. Im Kern begründet der VIII. Senat seine ernstlichen verfassungsrechtlichen Zweifel an der unveränderten Bemessung der Säumniszuschläge nach dem damit, dass

  1. in der Entscheidung des (BVerfGE 158, 282) zur Höhe der Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen nach § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO die Höhe der Nachzahlungszinsen für Verzinsungszeiträume nach dem verfassungsrechtlich beanstandet wurde und

  2. dies auch auf die Säumniszuschläge durchschlägt, weil Säumniszuschlägen nach der langjährigen BFH-Rechtsprechung nicht nur die Funktion eines Druckmittels und Verwaltungskostenausgleichs zukomme, sondern sie maßgeblich auch die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern haben (zinsähnliche Funktion).

Die weiteren Zwecke des Säumniszuschlags neben der zinsähnlichen Funktion stünden der Annahme ernstlicher Zweifel in Bezug auf die Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO nicht entgegen. Vielmehr führe - so der VIII. Senat - das Bestehen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe in § 240 Abs. 1 Satz 1 AO dazu, dass die streitgegenständlichen Säumniszuschläge in voller Höhe von der Vollziehung auszusetzen seien, da es keine Teilverfassungswidrigkeit in Bezug auf einen bestimmten Zweck einer Norm gebe. Der VIII. Senat hat dem individuellen Aussetzungsinteresse der Antragsteller den Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an einer geordneten Haushaltsführung eingeräumt.

Meines Erachtens ist dem Beschluss vollumfänglich zuzustimmen. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts sind grundsätzlich schon dann anzunehmen, wenn mehrere BFH-Senate eine Rechtsfrage unterschiedlich beurteilt haben (vgl. Gräber/Stapperfend, 9. Aufl., § 69 FGO Rz. 161 m.w.N.). Dies ist der Fall, weil in den BFH-Beschlüssen v. - VII B 69/21 (AdV), n.v. (unter Hinweis u.a. auf , BFH/NV 2021, 177); vom - V B 4/22 (AdV), BFH/NV 2022, 1030 einerseits und in den BFH-Beschlüssen v. - II B 3/22 (AdV) und v. 28.10. 2022 - VI B 15/22 (AdV) andererseits das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Verfassungswidrigkeit der Säumniszuschläge unterschiedlich beurteilt worden ist. Die ernstlichen Zweifel an der Verfassungswidrigkeit werden m.E. dadurch verstärkt, dass der Gesetzgeber in § 238 Abs. 1a AO für die Fälle des § 233a die Zinsen ab dem auf 0,15 Prozent für jeden Monat, das heißt auf 1,8 Prozent für jedes Jahr, festgesetzt hat. Vor dieser Gesetzesänderung wurden im Rahmen der Säumniszuschläge (1 % pro Monat/12 % pro Jahr) das zinsähnliche Element (0,5 % im Monat/6 % pro Jahr), das Element des Druckmittels und die Abgeltung des höheren Verwaltungsaufwands berücksichtigt. Durch die rückwirkende Herabsetzung der Nachzahlungszinsen wird der Zinsvorteil des säumigen Zahlers im Rahmen der Säumniszuschläge und der Nachzahlungszinsen durch den Gesetzgeber nunmehr unterschiedlich bemessen. Das Argument, ernstliche Zweifel zu verneinen, weil im , 1 BvR 2422/17 (BVerfGE 158, 282) nicht zu den Säumniszuschlägen entschieden worden sei und weil das BVerfG eine Ausstrahlungswirkung der Entscheidung auf andere Zinstatbestände abgelehnt habe, überzeugt mich daher nicht. Die Entscheidung des BVerfG ist insoweit durch die neue Rechtslage überholt.

Allerdings stellt der VI. Senat des (s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 24.11.2022) tragend darauf ab, ein Zinsanteil von 0,5 % aus den 1 % für den Säumniszuschlag lasse sich aus dem Gesetz nicht ableiten, da der verbleibende hälftige Anteil nicht nur dem Vorteilsausgleich für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern diene und ungeklärt sei, in welchem Verhältnis die Zwecke Druckmittel, Zinsanteil und Verwaltungsentgelt zueinander stünden; zudem hält der VI. Senat die Höhe des Säumniszuschlags selbst bei Annahme eines gedachten Zinsanteils allein aufgrund des Erzwingungscharakters und der Abgeltung des Verwaltungsaufwands in vollem Umfang für gerechtfertigt. Dies verwundert, weil dem zinsähnlichen Element innerhalb des Säumniszuschlags in der feststehenden Rechtsprechung des BFH stets eine signifikante Bedeutung beigemessen wurde und Säumniszuschläge insbesondere bei Zahlungsunfähigkeit des Schuldners nur zur Hälfte zu erlassen werden, weil ihr Zweck, Gegenleistung für die verspätete Steuerzahlung zu sein, bestehen bleibt (z.B. , BFHE 212, 23, BStBl II 2006, 612). Von diesen Grundgedanken im Rahmen einer AdV-Entscheidung unter Berufung auf Rechtsprechung des OVG NRW (Beschluss vom - 14 B 403/22) abzuweichen, statt zu fragen, ob nicht die Entscheidung des OVG NRW der gefestigten Rechtsprechung des BFH widerspricht, ist meines Erachtens zweifelhaft.

Quelle: ; NWB Datenbank (il)

Fundstelle(n):
QAAAJ-27789