BGH Beschluss v. - 4 StR 64/22

Verständigung im Strafverfahren: Informationspflicht bei erfolglosen Verständigungsbemühungen

Gesetze: § 243 Abs 4 S 1 StPO

Instanzenzug: Az: 4 StR 64/22 Beschlussvorgehend LG Frankenthal Az: 2 KLs 5127 Js 11930/20nachgehend Az: 4 StR 64/22 Beschluss

Gründe

1Das Landgericht hat den im Übrigen freigesprochenen Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zehn Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln, und Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Zudem hat es seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und Einziehungsentscheidungen getroffen. Hiergegen wendet sich die Revision des Angeklagten mit zwei Verfahrensbeanstandungen und der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

I.

2Der Angeklagte beanstandet zu Recht die Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO.

31. Der Rüge liegt - soweit für die Entscheidung von Bedeutung - folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

4Nach dem zweiten Hauptverhandlungstag am kamen die Berufsrichter der Strafkammer, die Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und die Verteidiger der vier Angeklagten zu einem nichtöffentlichen Gespräch zusammen. Die Verfahrensbeteiligten wurden hierbei vom Gericht nach ihren Strafmaßvorstellungen im Falle einer geständigen Einlassung der Angeklagten befragt. Die Vertreter der Staatsanwaltschaft teilten mit, dass nach ihrer Auffassung bei allen Angeklagten auch im Falle eines Geständnisses im Sinne der Anklage Strafen von vier Jahren und mehr erforderlich blieben. Jedenfalls habe der Angeklagte W.   mit der niedrigsten Strafe zu rechnen, weil er nicht wegen bandenmäßigen Handels angeklagt sei. Wegen der rechtlichen Einordnung sei man nicht festgelegt; solange die Strafhöhen stimmten, sei aus ihrer Sicht zu vernachlässigen, „wie das Kind heiße“. Sodann bat der Vorsitzende die Vertreter der Staatsanwaltschaft und die Verteidiger, ihre „Schmerzgrenzen“ mitzuteilen. Dies geschah jeweils, wobei ein Verteidiger des Angeklagten M.   G.   erklärte, dass er für seinen Mandanten eine Bewährungsstrafe anstrebe und davon ausgehe, es liege keine Bandentat vor. Dieser Vorstellung trat die Vertreterin der Staatsanwaltschaft sofort entgegen. Der Vorsitzende stellte schließlich fest, dass eine Verständigung zwischen den Verfahrensbeteiligten wohl nicht zu erreichen sei und forderte dazu auf, sich Gedanken zu machen, ob man nicht doch noch weiter aufeinander zugehen könne. Ansonsten sei eine sehr lange Beweisaufnahme mit einer Vielzahl von Zeugen und Terminen zu erwarten.

5Über diese Unterredung machte der Vorsitzende der Strafkammer in der Hauptverhandlung keine Mitteilung.

62. Die zulässig erhobene Rüge ist begründet.

7a) Der Vorsitzende der Strafkammer hat die sich aus § 243 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO ergebende Pflicht zur Information über außerhalb der Hauptverhandlung geführte verständigungsbezogene Erörterungen verletzt, indem er das - von der Revision unwidersprochen vorgetragene - Gespräch vom und seinen wesentlichen Inhalt in der weiteren Hauptverhandlung nicht mitgeteilt hat. Denn die Unterredung, bei der von allen Beteiligten eine Verbindung zwischen einem möglichen Geständnis der Angeklagten und dem jeweiligen Verfahrensergebnis hergestellt wurde, war ein Gespräch, das die Möglichkeit einer Verständigung zum Gegenstand hatte (vgl. hierzu BVerfGE 133, 168 Rn. 85; Rn. 16; Beschluss vom - 1 StR 44/21 Rn. 9).

8Die Informationspflicht nach § 243 Abs. 4 StPO ist auch bei erfolglosen Verständigungsbemühungen zu beachten (st. Rspr.; vgl. etwa Rn. 5; Urteil vom - 2 StR 317/19 Rn. 45). Sie gehört zu den vom Gesetzgeber zur Absicherung des Verständigungsverfahrens normierten Transparenz- und Dokumentationsregeln, durch die gewährleistet werden soll, dass Erörterungen mit dem Ziel einer Verständigung stets in öffentlicher Hauptverhandlung zur Sprache kommen, so dass für informelles und unkontrollierbares Verhalten unter Umgehung der strafprozessualen Grundsätze kein Raum verbleibt (vgl. Rn. 5; Beschluss vom ‒ 1 StR 315/14, BGHSt 60, 150 Rn. 14).

9b) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem Verfahrensverstoß beruht (§ 337 StPO).

10Das Beruhen des Urteils auf einer Verletzung der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO kann im Einzelfall nur ausgeschlossen werden, wenn die Gesetzesverletzung sich einerseits nicht in entscheidungserheblicher Weise auf das Prozessverhalten des Angeklagten ausgewirkt haben kann und mit Blick auf die Kontrollfunktion der Mitteilungspflicht andererseits der Inhalt der geführten Gespräche zweifelsfrei feststeht und diese nicht auf die Herbeiführung einer gesetzeswidrigen Absprache gerichtet waren (vgl. BVerfG NJW 2020, 2461 Rn. 39; Rn. 7 mwN).

11Der Senat vermag schon nicht sicher auszuschließen, dass sich der geständige Angeklagte, auf dessen Angaben die Strafkammer ihre Überzeugung weitgehend gestützt hat, bei einer gesetzeskonformen Unterrichtung durch das Gericht effektiver als geschehen hätte verteidigen können. Zudem liegt ein gravierender die Kontrollfunktion berührender Transparenzmangel vor. Der Gesprächsinhalt lässt es zumindest nicht als ausgeschlossen erscheinen, dass die nicht offenbarte Unterredung auf eine gesetzeswidrige informelle Absprache - auch zum Schuldspruch - abzielte.

II.

12Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen die Kostenentscheidung ist angesichts der Aufhebung des Urteils und der ausgesprochenen Zurückverweisung der Sache gegenstandslos (vgl. Rn. 21; Beschluss vom - 1 StR 271/19 Rn. 18).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:190722B4STR64.22.0

Fundstelle(n):
FAAAJ-26828