BSG Beschluss v. - B 2 U 11/22 B

Sozialgerichtliches Verfahren - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - Darlegung der Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage - höchstrichterliche Entscheidung - Widerspruch in nicht geringfügigem Umfang - neue Entwicklungen in der Rechtsprechung - gesetzliche Unfallversicherung - MdE-Bemessung - keine Berücksichtigung einer nachträglichen unfallunabhängigen Verschlechterung des unverletzten (zweiten) Auges - keine Gleichsetzung von Vor- und Nachschaden - Abschluss der Ursachenkette durch arbeitsunfallbedingten Verlust des ersten Auges

Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 8 Abs 1 SGB 7, § 56 Abs 2 SGB 7

Instanzenzug: SG Trier Az: S 4 U 87/17 Urteilvorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Az: L 3 U 183/19 Urteil

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten in dem der Beschwerde zu Grunde liegenden Rechtsstreit über einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer höheren Verletztenrente wegen eines Arbeitsunfalls aus dem Jahr 1954 mit Erblindung des linken Auges.

2Die Beklagte lehnte die Erhöhung der Verletztenrente ab, weil sich die dem Bewilligungsbescheid zu Grunde liegenden Verhältnisse nicht wesentlich verschlechtert hätten. Insbesondere seien beklagte Beschwerden am rechten Auge nicht auf das Unfallereignis aus dem Jahr 1954 zurückzuführen.

3Das SG hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom ). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom ).

4Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG rügt der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.

5II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht formgerecht dargelegt worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

61. Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit, also Entscheidungserheblichkeit, sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, sog Breitenwirkung, darlegen (stRspr; zB - juris RdNr 4; - juris RdNr 7 mwN; - SozR 4-1920 § 52 Nr 18 RdNr 5 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht. Sie versäumt es bereits, den vom LSG festgestellten Sachverhalt (§ 163 SGG) und die maßgebliche Verfahrensgeschichte hinreichend darzustellen, obwohl eine verständliche Sachverhaltsschilderung zu den Mindestanforderungen einer Grundsatzrüge gehört (stRspr; zB - juris RdNr 5; - juris RdNr 6 mwN; - SozR 1500 § 160a Nr 14 S 21 = juris RdNr 3). Hierfür genügt der Vortrag des Klägers schon deshalb nicht, weil die Wiedergabe von Auszügen des Urteils des LSG die verfahrensrechtliche Einbettung des Streitgegenstandes offenlässt. Deshalb kann der Senat zB nicht prüfen, ob die zur Beantwortung gestellte Frage im beabsichtigten Revisionsverfahren überhaupt entscheidungserheblich (klärungsfähig) wäre.

8Es kann dahinstehen, ob der Kläger damit hinreichend eine bestimmte abstrakt-generelle Rechtsfrage zur Auslegung, Anwendbarkeit oder zur Vereinbarkeit einer konkreten revisiblen Norm des Bundesrechts (§ 162 SGG) mit höherrangigem Recht (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) formuliert hat.

9Selbst wenn es sich bei der aufgeworfenen Frage um eine derartige Rechtsfrage handeln sollte, legt der Kläger jedenfalls deren Klärungsbedürftigkeit nicht hinreichend dar. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn sie höchstrichterlich weder tragend entschieden noch präjudiziert ist und die Antwort nicht von vornherein praktisch außer Zweifel steht, so gut wie unbestritten ist oder sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Als bereits höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht sie zwar in der konkreten Fallgestaltung noch nicht ausdrücklich entschieden hat, aber bereits eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (vgl zB - juris RdNr 6; - SozR 4-1920 § 52 Nr 18 RdNr 8; - SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17 = juris RdNr 7). Im Hinblick hierauf muss in der Beschwerdebegründung unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG bzw des BVerfG sowie ggf der einschlägigen Rechtsprechung aller obersten Bundesgerichte zu dem Problemkreis substantiiert vorgetragen werden, dass zu dem angesprochenen Fragenbereich noch keine Entscheidung vorliege oder durch die schon vorliegenden Urteile die hier maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet sei (stRpr; zB - juris RdNr 6; - juris RdNr 13; - juris RdNr 7 mwN; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit eines entsprechenden Maßstabs - SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10 f = juris RdNr 4).

10Diesen Anforderungen entspricht die Beschwerdebegründung nicht. Sinngemäß begehrt sie eine höchstrichterliche Beantwortung der Frage, ob auch eine unfallunabhängige Verschlechterung auf dem unverletzten Auge bei der Bemessung der MdE zu berücksichtigen ist. Das BSG hat indes insbesondere für den Fall von Augenverletzungen bereits entschieden, dass nachträgliche unfallunabhängige Beeinträchtigungen am unverletzten Auge als sog Nachschäden von der Entschädigungspflicht ausgeschlossen sind, selbst wenn sie sich auf die Unfallfolgen des ersten Unfalls dergestalt auswirken, dass sie die unfallbedingte MdE verstärken. Diesbezüglich sind ein Vorschaden und ein Nachschaden bei der Bewertung der MdE nicht gleichzusetzen. Mit dem Verlust des ersten Auges durch einen Arbeitsunfall ist die versicherungsrechtlich erhebliche Ursachenkette bereits abgeschlossen; ein später eingetretener Nachschaden durch eine unfallunabhängige Verletzung des zweiten Auges kann - selbst im Falle des vollständigen Verlustes - die Verhältnisse, die für die Feststellung der Unfallentschädigung maßgebend gewesen sind, nicht mehr beeinflussen ( - BSGE 70, 177, 178 = SozR 3-2200 § 581 Nr 2 S 7 = juris RdNr 16 mwN; - BSGE 27, 142, 145 = SozR Nr 4 zu § 622 RVO = juris RdNr 20 mwN).

11Der Kläger zeigt nicht hinreichend auf, dass trotz dieser - auch vom LSG zu Grunde gelegten - Rechtsprechung des BSG hinsichtlich der von ihm sinngemäß bezeichneten Frage in Bezug auf die Auslegung des Begriffs des Nachschadens noch rechtlicher Klärungsbedarf verblieben ist. Ebenso wenig setzt er sich damit auseinander, inwiefern ggf erneuter Klärungsbedarf entstanden sein könnte. Eine Rechtsfrage, über die bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, kann dennoch klärungsbedürftig sein, wenn der Rechtsprechung in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden. Erneute Klärungsbedürftigkeit kann sich ferner aus neuen Entwicklungen in der Rechtsprechung oder einer Veränderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, die der vorhandenen Rechtsprechung zu Grunde lagen, ergeben. Entsprechende Umstände sind von der Beschwerdebegründung substantiiert darzulegen (vgl zB - SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 5; Karmanski in Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, 2. Aufl 2021, § 160 RdNr 31, § 160a RdNr 60 f). Daran fehlt es hier. Der Kläger widerspricht bereits seinem eigenen Vortrag, wonach die Frage - gerade auch für Augenverletzungen - höchstrichterlich noch nicht entschieden sei und ein Streit in der Literatur bestehe. So weist er durch die wörtlich wiedergegebene Kommentarfundstelle selbst darauf hin, dass die oben genannte Rechtsprechung des BSG vom Großteil der Literatur befürwortet wird. Der angeführte Hinweis auf eine vereinzelt gebliebene Gegenmeinung ist nicht geeignet, einen Widerspruch von mehr als geringfügigem Umfang aufzuzeigen. Auch das Bayerische LSG hat sich entgegen der Auffassung des Klägers der vorgenannten Rechtsprechung des BSG angeschlossen und im konkreten Einzelfall keinen Nachschaden, sondern einen Vorschaden angenommen (vgl Bayerisches - juris RdNr 29, 55 ff).

12Dass der Kläger die Entscheidung der Vorinstanz für falsch hält, geht über eine im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unbeachtliche Rüge eines bloßen Rechtsanwendungsfehlers nicht hinaus (vgl - juris RdNr 8; - juris RdNr 6; - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4; - SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10 = juris RdNr 2).

13Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

14Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, 169 Satz 2 und 3 SGG).

152. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.Roos                Karmanski                Karl

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2022:120722BB2U1122B0

Fundstelle(n):
LAAAJ-26223