Kindergeld | Prüfung des deutschen Kindergeldanspruchs bei möglichem Bezug von Familienleistungen im Vereinigten Königreich (BFH)
Im Anwendungsbereich des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 ist grundsätzlich vorrangig in einem Koordinierungsverfahren zu klären, ob und in welchem Umfang ein Anspruch auf Familienleistungen in einem anderen Mitgliedstaat bestand (Bestätigung der Rechtsprechung). Der rechtlichen Bewertung der zuständigen ausländischen Stelle hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem Anspruch auf die Familienleistung ("Child Benefit") und einer möglicherweise gegenläufigen Regelung ("High Income Child Benefit Charge") ist zu folgen (; veröffentlicht am ).
Sachverhalt: In der Sache ist streitig, ob der Kläger in der Zeit von April 2013 bis September 2014 (Streitzeitraum), während der er, seine Ehefrau und das in 2013 geborene gemeinsame Kind nicht in Deutschland, sondern im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland (Vereinigtes Königreich) wohnten, einen Anspruch auf ungekürztes Kindergeld für das Kind hat.
Der Kläger erzielte im Streitzeitraum Einkünfte aus selbständiger Arbeit sowie Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Er hatte keinen Wohnsitz in Deutschland, wurde jedoch gem. § 1 Abs. 3 EStG in Deutschland zur Einkommensteuer veranlagt.
Im Vereinigten Königreich stellten weder der Kläger noch seine Frau einen Antrag auf Familienleistungen ("Child Benefit"), weil sie davon ausgingen, dass der ihnen zustehende Betrag im Hinblick auf das über 60.000 Great Britain Pounds (GBP) liegende jährliche bereinigte Nettoeinkommen des Klägers durch eine gegenläufige Abgabe ("High Income Child Benefit Charge") aufgezehrt worden wäre.
Auf den in Deutschland gestellten Kindergeldantrag setzte die Familienkasse vorläufig Differenzkindergeld fest, wobei sie die ihrer Auffassung nach im Vereinigten Königreich zu beanspruchenden Familienleistungen ("Child Benefit") zu Lasten des Klägers abzog. Die nach dem Vortrag des Klägers gegenläufige Abgabe ("High Income Child Benefit Charge") wurde dabei nicht berücksichtigt.
Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Auf die Klage des Klägers verpflichtete das FG die Familienkasse, dem Kläger für den Zeitraum von April 2013 bis September 2014 Kindergeld in voller gesetzlicher Höhe zu gewähren ().
Der BFH hat die Revision der Familienkasse als begründet angesehen, das FG-Urteil aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen:
Das FG ist im ersten Rechtsgang davon ausgegangen, dass der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld gem. § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b, § 1 Abs. 3, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i. V. mit § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 und § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG für sein leibliches, im gemeinsamen Haushalt des Klägers und seiner Ehefrau im Vereinigten Königreich - damals einem Mitgliedstaat der Europäischen Union - lebendes minderjähriges Kind erfüllt. Dies ist auf der Grundlage der Feststellungen des FG im Grundsatz nicht zu beanstanden.
Das FG hat allerdings auf Grundlage seiner bisher getroffenen Feststellungen zu Unrecht den teilweisen Ausschluss des Anspruchs gem. Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 verneint.
Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 schließt unter Umständen dann einen Kindergeldanspruch nach deutschem Recht ganz oder teilweise aus, wenn in einem anderen Mitgliedstaat (konkurrierende) Ansprüche auf Familienleistungen bestehen. Art. 68 Abs. 2 Sätze 1 und 3 der VO Nr. 883/2004 sind dagegen nicht anwendbar - können also einen Kindergeldanspruch in Deutschland nicht ausschließen -, wenn in keinem anderen Mitgliedstaat Kindergeldansprüche bestehen; es fehlt dann an zu koordinierenden Ansprüchen.
Im Streitfall hat das FG angenommen, dass Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 nicht anzuwenden ist. Denn es ging davon aus, dass der Kläger und seine Frau nur in Deutschland Anspruch auf Familienleistungen (Kindergeld) haben, weil der - wegen der dortigen Erwerbstätigkeit - grundsätzlich vorrangige Anspruch auf britisches Kindergeld durch eine gegenläufige Abgabe ("High Income Child Benefit Charge") aufgezehrt würde und "faktisch deshalb ausgeschlossen" sei.
Im zweiten Rechtsgang ist erneut über den Kindergeldanspruch des Klägers zu entscheiden. Dabei ist jedenfalls Folgendes zu beachten:
Im Anwendungsbereich des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 ist grundsätzlich vorrangig das auf dem Prinzip der vertrauensvollen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten basierende Koordinierungsverfahren zwischen den jeweils zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten durchzuführen, sofern sich die Rechtslage nicht nach genauer Prüfung als eindeutig und zweifelsfrei erweist.
Führt der zweite Rechtsgang zu dem Ergebnis, dass der Kläger und seine Frau keinen Anspruch auf Familienleistungen in einem anderen Mitgliedstaat der EU haben, stehen Art. 68 Abs. 2 Sätze 1 und 3 der VO Nr. 883/2004 dem vollen Kindergeldanspruch nicht entgegen. Der Kläger ist dann nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b, § 1 Abs. 3, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i. V. mit § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG im Umfang des ungekürzten deutschen Kindergelds kindergeldberechtigt, falls das FG im Übrigen im zweiten Rechtsgang keine entgegenstehenden Feststellungen trifft.
Führt der zweite Rechtsgang zu dem Ergebnis, dass der Kläger oder seine Frau Anspruch auf Familienleistungen auch in einem anderen Mitgliedstaat der EU haben, ist die Anspruchskumulierung nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 aufzulösen.
Quelle: ; NWB Datenbank (RD)
Fundstelle(n):
OAAAJ-24492