BGH Beschluss v. - VII ZB 29/21

Berufungsverfahren: Prüfung der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist durch das Berufungsgericht

Leitsatz

Das Berufungsgericht hat gemäß § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO von Amts wegen zu prüfen, ob die Frist zur Begründung der Berufung gewahrt worden ist. Erst nach Ausschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisse gehen etwa noch vorhandene Zweifel zu Lasten des Rechtsmittelführers (Anschluss an , juris).

Gesetze: § 522 Abs 1 S 1 ZPO

Instanzenzug: OLG Bamberg Az: 1 U 14/21vorgehend LG Würzburg Az: 23 O 1768/20

Gründe

I.

1Der Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz im Zusammenhang mit einem bei einem Autohaus als Neuwagen im Januar 2015 erworbenen Pkw VW Tiguan Sport & Style 2.0 TDI in Anspruch.

2Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom abgewiesen. Unter dem Datum vom hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle (im Folgenden: Urkundsbeamtin) die Übersendung einer beglaubigten Abschrift des Urteils an die Prozessbevollmächtigten der Parteien handschriftlich in der Akte vermerkt. Aus den zur Akte gelangten Empfangsbekenntnissen der beiden Prozessbevollmächtigten ist hingegen der als Empfangsdatum für die Zustellung des Urteils zu entnehmen.

3Mit anwaltlichem Schriftsatz vom , eingegangen beim Berufungsgericht am selben Tag, hat der Kläger Berufung gegen das "am verkündete und am zugestellte Urteil" eingelegt. Mit am eingegangenem Schriftsatz hat der klägerische Prozessbevollmächtigte erstmalig beantragt, wegen Arbeitsüberlastung die Frist zur Berufungsbegründung bis zum zu verlängern. Mit Verfügung vom hat der Vorsitzende des Berufungssenats darauf hingewiesen, dass er die Berufung derzeit für unzulässig halte, da die Berufungsbegründung nicht fristgerecht eingegangen sei. Das Urteil sei dem klägerischen Prozessbevollmächtigten ausweislich des bei der Akte befindlichen Empfangsbekenntnisses am zugestellt worden, sodass die Berufungsbegründungsfrist mit Ablauf des geendet habe. Das Fristverlängerungsersuchen sei erst am und damit nach Ablauf der Frist eingegangen.

4Mit einem beim Berufungsgericht am eingegangenen anwaltlichen Schriftsatz hat der Kläger erklärt, das Urteil sei erst am zugestellt worden, was sich bereits dadurch zeige, dass es erst am beglaubigt worden sei. Zum Beweis hat er die auf diesen Tag datierte Empfangsbestätigung, das (erst) am beglaubigte Urteil des Landgerichts sowie das auf diesen Tag datierte Anschreiben der Urkundsbeamtin, das zusammen mit dem Urteil zugestellt worden ist, vorgelegt. Mit einem beim Berufungsgericht am eingegangenen anwaltlichen Schriftsatz hat der Kläger seine Berufung begründet.

5Auf Anordnung des Vorsitzenden des Berufungssenats hat sodann eine Geschäftsstellenmitarbeiterin bei der Urkundsbeamtin des Landgerichts telefonisch eine Stellungnahme zu den Vorgängen der Zustellung des landgerichtlichen Urteils eingeholt. Ausweislich des in der Akte befindlichen Vermerks vom ist durch diese telefonisch mitgeteilt worden, aus der EDV sei ersichtlich, "dass das Urteil vom (vermutlich wegen EDV-Störungen) 2x elektronisch zugestellt wurde", nämlich "am , 14:56 Uhr", und "am , 10:30 Uhr".

6Den Inhalt dieses Vermerks hat das Berufungsgericht den Parteivertretern mit Schreiben vom mitgeteilt und Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt. Des Weiteren hat es darauf hingewiesen, dass eine wirksame erste Zustellung für den Fristbeginn auch dann maßgebend sei, wenn später erneut zugestellt werde.

7Mit einem per Fax am an das Berufungsgericht übermittelten Schreiben vom selben Tage hat die Urkundsbeamtin des Landgerichts zwei EDV-Ausdrucke übersandt, aus denen sich eine zweimalige Versendung des Urteils ergeben solle. Ergänzend hat sie ausgeführt, dass es in letzter Zeit leider häufiger vorkomme, dass die elektronische Übermittlung nicht immer funktioniere und das Dokument "gelb" (= nicht gesendet) hinterlegt sei. Am nächsten Tag werde der Ausgang nochmals geprüft und das Dokument, sollte dieses noch immer nicht versandt sein, erneut versendet.

8Mit Beschluss vom hat das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen, da die Berufungsbegründung nicht innerhalb der Frist eingegangen sei. Das Urteil sei ausweislich des bei der Akte befindlichen Empfangsbekenntnisses am zugestellt worden, sodass die Frist am geendet habe. Die Berufungsbegründung sei jedoch erst am bei Gericht eingegangen. Dem Fristverlängerungsantrag sei keine Folge zu geben, da er ebenfalls erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist eingegangen sei. Der nochmaligen Zustellung des Urteils am komme keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu, da eine wirksame erste Zustellung für den Fristbeginn auch dann maßgebend sei, wenn später erneut zugestellt werde.

9Nach Rückkehr der Akte zum Landgericht hat die dortige Urkundsbeamtin am nach erneuter Prüfung des Sachverhalts anhand des Akteninhalts eine weitere Stellungnahme gefertigt. Hiernach sei am "versehentlich zusammen mit dem Protokoll ein in der Akte befindlicher Urteilsentwurf versendet [worden], der z.B. auch noch nicht den aktuellen Kilometerstand enthielt." Mit Mitteilung vom habe sie die Kanzleien des Kläger- und des Beklagtenvertreters "per beA von dem Missgeschick" unterrichtet und ihnen mitgeteilt, "dass der Urteilsentwurf vernichtet werden soll und dass das tatsächlich erlassene Urteil zusammen mit dem Protokoll umgehend erneut zugesendet wird." Dies habe sie dann am erledigt. Das Empfangsbekenntnis für dieses Urteil sei per beA eingegangen, "wurde jedoch nicht zur Akte genommen." Nachdem die Geschäftsstelle des Berufungsgerichts sie am telefonisch nach der genauen Zustellung gefragt habe, habe sie anhand der beA-Ausgänge gesehen, dass zweimal eine Zustellung erfolgt sei. Sie habe allerdings "irrtümlicherweise" gedacht, "dass dies durch einen technischen Fehler passiert sei," was sie der Mitarbeiterin der Geschäftsstelle des Berufungsgerichts auch so mitgeteilt habe. Der tatsächliche Vorgang sei ihr in diesem Moment "entfallen". Die an die Kanzleien übersandte Mitteilung vom habe sie dabei leider übersehen.

10Mit seiner Rechtsbeschwerde wendet sich der Kläger gegen den Verwerfungsbeschluss des Berufungsgerichts.

II.

11Die frist- und formgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

12Die kraft Gesetzes statthafte Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO) hat Erfolg, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO). Die angefochtene Entscheidung verletzt das Verfahrensgrundrecht des Klägers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Dieses verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. , NJW 2005, 814, juris Rn. 12; Rn. 6, BB 2022, 1234; jeweils m.w.N.).

131. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft angenommen, die Berufung sei unzulässig, weil der Fristverlängerungsantrag des Klägers erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist (§ 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO) eingegangen sei. Das Berufungsgericht hat die Rechtzeitigkeit des Eingangs dieses Antrags nicht ausreichend aufgeklärt.

14a) Das Berufungsgericht hat gemäß § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO von Amts wegen zu prüfen, ob die Frist zur Begründung der Berufung gewahrt worden ist. Gleiches gilt im Hinblick auf die in diesem Zusammenhang nicht abtrennbare Frage, ob der Berufungsführer rechtzeitig einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist gestellt hat. Bei der Prüfung ist das Berufungsgericht nicht an die förmlichen Beweismittel des Zivilprozesses gebunden, vielmehr gilt der Grundsatz des Freibeweises (vgl. unter 3. a) z.V.b.; Rn. 9, BauR 2012, 677; zum Prüfungsmaßstab vgl. auch Rn. 13, juris). Allerdings bleibt es auch im Rahmen des Freibeweises dabei, dass der dem Rechtsmittelführer obliegende Beweis für die rechtzeitige Einlegung und Begründung des Rechtsmittels zur vollen, den Anforderungen des § 286 ZPO genügenden Überzeugung des Gerichts geführt sein muss (vgl. Rn. 9, BauR 2012, 677). Erst nach Ausschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisse gehen etwa noch vorhandene Zweifel zu Lasten des Rechtsmittelführers (vgl. Rn. 13, juris).

15b) Nach diesen Maßstäben durfte das Berufungsgericht nicht bereits auf der Grundlage der telefonischen und sich hieran anschließenden schriftlichen Auskunft der Urkundsbeamtin die Berufung als unzulässig verwerfen und den Antrag des Klägers auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist als verspätet ansehen. Das Berufungsgericht hatte zuvor nicht alle erschließbaren Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft.

16aa) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist es rechtlich zwar nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht allein die beim Landgericht für die Zustellung des Urteils zuständige Urkundsbeamtin und nicht auch noch die erkennende Richterin um Aufklärung ersucht hat. Gemäß § 168 Abs. 1 Satz 1 ZPO führt der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle (§ 153 GVG) die Zustellung in eigener Zuständigkeit und Verantwortung aus und überwacht diese (vgl. Rn. 15, BeckRS 2013, 5055; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 23. Aufl., § 168 Rn. 1, 3; MünchKommZPO/Häublein/Müller, 6. Aufl., § 168 Rn. 1). Der Urkundsbeamte ist daher die Person, die Auskunft über die Umstände der Zustellung geben kann. Es ist grundsätzlich nicht davon auszugehen, dass der in der Sache erkennende Richter weitergehende Erkenntnisse über die Zustellungsvorgänge hat.

17bb) Die vom Berufungsgericht unternommenen Aufklärungsbemühungen waren indes nicht ausreichend. Das Berufungsgericht hätte es nicht bei der telefonischen Rückfrage belassen dürfen, sondern hätte die Akte zum Zwecke der genauen Prüfung und Rekonstruktion der Vorgänge durch die Urkundsbeamtin an diese übersenden müssen.

18(1) Die auf telefonische Nachfrage ergangene mündliche wie die sich anschließende schriftliche Auskunft der Urkundsbeamtin vom waren nicht geeignet, die aus der Akte ersichtlichen Unstimmigkeiten in Bezug auf die Zustellung des Urteils aufzuklären. Aus ihnen erschloss sich insbesondere nicht, weshalb der Prozessbevollmächtigte des Klägers ein erst am beglaubigtes Urteil vorgelegt hat. Denn wäre das Urteil, wie die Urkundsbeamtin in ihrer Stellungnahme am angegeben hat, bereits am zugestellt worden, hätte es ein auf diesen Tag datierendes Beglaubigungsdatum tragen müssen (vgl. § 317 Abs. 1 Satz 1, § 169 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Hieran hätte auch eine erneute Zustellung des Urteils am Folgetag mangels Einfluss auf das bereits vorhandene Beglaubigungsdatum nichts ändern können. Ebenfalls unaufgeklärt geblieben ist, weshalb die Urkundsbeamtin in der Akte handschriftlich den Erledigungsvermerk, mit dem sie die Übersendung der beglaubigten Abschrift des Urteils bestätigt hat, auf den und nicht auf den datiert hat.

19(2) Weiter haben die telefonische Auskunft sowie das sich anschließende, an das Berufungsgericht übersandte Schreiben der Urkundsbeamtin Unklarheiten und Widersprüche aufgewiesen, die dem Berufungsgericht Veranlassung zu einer weiteren Aufklärung hätten geben müssen. Die Urkundsbeamtin hat mündlich auf den Anruf der Geschäftsstellenmitarbeiterin des Berufungsgerichts mitgeteilt, dass eine zweifache Übersendung des Urteils "vermutlich" aufgrund von technischen Probleme erfolgt sei. Schriftlich hat die Urkundsbeamtin weiter angegeben, dass in letzter Zeit die elektronische Übermittlung nicht immer funktioniert habe und das Dokument in einem solchen Fall "gelb" (= nicht gesendet) hinterlegt sei, sie am nächsten Tag den Ausgang nochmals prüfe und das Dokument, sollte dieses noch immer noch versandt sein, erneut versende. Das Berufungsgericht hat nicht berücksichtigt, dass eine zweifach erfolgreiche Übersendung des Urteils nicht auf einer technischen Störung beruhen kann. Denn nach der Stellungnahme der Urkundsbeamtin erfolgt eine zweite Versendung nur dann, wenn die erste fehlgeschlagen ist.

202. Die angefochtene Entscheidung hat daher keinen Bestand und ist aufzuheben. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden (§ 577 Abs. 5 ZPO), weil der Rechtsstreit in der Hauptsache nicht zur Endentscheidung reif ist.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:130722BVIIZB29.21.0

Fundstelle(n):
NJW 2022 S. 10 Nr. 39
NJW-RR 2022 S. 1581 Nr. 22
WM 2022 S. 1906 Nr. 39
ZIP 2022 S. 2150 Nr. 42
JAAAJ-21290