BFH Urteil v. - IV B 83/99 BStBl 2000 II S. 298

Ein nachträglich erstelltes Fahrtenbuch kann ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Einkommensteuerbescheides begründen, der auf Grundlage der Pauschalierungsregelung ergangen ist

Leitsatz

1. Der BFH ist berechtigt und verpflichtet, die nachträglich erstellten Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen (Anschluss an , BFHE 92, 314, BStBl II 1968, 538).

2. Ein solches Fahrtenbuch kann ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Einkommensteuerbescheids begründen, der auf der Grundlage der 1 v. H.-Regelung und der sog. Kostendeckelung ergangen ist.

Gesetze: EStG § 6 Abs. 1 Nr. 4FGO § 69FGO § 118 Abs. 2

Instanzenzug: FG München

Tatbestand

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) ist selbständiger Wirtschaftsprüfer und Steuerberater. Im Streitjahr 1996 hielt er in seinem Betriebsvermögen einen vollständig abgeschriebenen PKW, den er für rein betriebliche Fahrten, Fahrten zwischen Wohnung und Betriebsstätte und Privatfahrten nutzte. Die Kraftfahrzeugkosten von 5 937,17 DM machte er nach Abzug eines Privatanteils von 30 v. H. und unter Berücksichtigung der Fahrten zwischen Wohnung und Betriebsstätte als Betriebsausgaben in Höhe von 4 197,68 DM geltend. Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) lehnte dies unter Hinweis auf § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab und verzichtete auf eine Besteuerung des darüber hinausgehenden Nutzungswerts gemäß einer Billigkeitsregelung des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) im Schreiben vom (BStBl I 1997, 562 - sog. Kostendeckelung -).

Gegen den darauf ergangenen Bescheid über die Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer 1996 legte der Antragsteller Einspruch ein, über den noch nicht entschieden ist. Der Einspruch richtet sich inzwischen gegen Änderungsbescheide, denen eine getrennte Veranlagung der Ehegatten zugrunde liegt.

Mit seinem beim Finanzgericht (FG) gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) des Einkommensteuerbescheids 1996 hatte der Antragsteller keinen Erfolg. Das FG war der Auffassung, der Antragsteller habe den Nachweis über das Verhältnis der privaten zu den betrieblichen Fahrten durch Führung eines Fahrtenbuchs nicht erbracht. Selbst wenn das Gericht verfassungsrechtliche Zweifel an der Regelung des § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG hätte, stünden einer AdV schwerwiegende öffentliche Interessen entgegen (Hinweis auf Senatsbeschluss vom IV B 49/97, BFHE 185, 418, BStBl II 1998, 608, m. w. N.).

Dagegen richtet sich die vom FG zugelassene Beschwerde, mit der der Antragsteller eine Aufstellung vorlegte, die auf 21 Seiten alle Fahrten des Streitjahrs ausweist. Die 6-spaltige Liste weist das Datum den Kilometerstand am Anfang und am Ende der Fahrt, die zurückgelegte Entfernung und in einer 5. Spalte die Kürzel G, P, W zur Kennzeichnung der einkommensteuerlichen Veranlassung der Fahrten (Geschäftlich, Privat, Wohnung und Betriebsstätte) aus, wobei der Anlass der betrieblichen Fahrten in einer letzten Spalte konkreter verzeichnet ist. Eine Zusammenstellung der Monatsergebnisse der Einzelaufstellung ergibt, dass ein durchschnittlicher Anteil von 78,44 v. H. der im Streitjahr durchgeführten Fahrten geschäftlich veranlasst waren.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß, den aufzuheben und die Vollziehung des Einkommensteueränderungsbescheids 1996 vom insoweit auszusetzen, als Betriebsausgaben in Höhe von 4 197,68 DM nicht berücksichtigt sind.

Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Es macht geltend, die nachgereichten ,,fortlaufenden Aufzeichnungen'' des Antragstellers erfüllten nicht die Anforderungen, die § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 3 EStG an den Einzelnachweis der Kraftfahrzeugkosten durch ein ordnungsgemäßes Fahrtenbuch stelle. Der einzige vorliegende Reparaturbeleg vom weise einen Kilometerstand aus, der nach der Aufstellung erst am erreicht worden sei.

Gründe

Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur antragsgemäßen AdV des Einkommensteuerbescheids 1996.

1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) soll das FG die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes u. a. dann ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit bestehen. Derartige Zweifel sind anzunehmen, wenn bei überschlägiger Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes im Aussetzungsverfahren neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Gründen gewichtige, gegen sie sprechende Umstände zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit der Beurteilung von Rechtsfragen bewirken (s. etwa , BFHE 175, 101 BStBl II 1995, 65) oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen aufwerfen (, BFHE 170, 106, BStBl II 1993, 263, m. w. N. ständige Rechtsprechung). Solche Umstände sind im Streitfall gegeben.

2. a) FA und FG haben den Abzug der Kraftfahrzeugkosten als Betriebsausgaben abgelehnt, weil die Ermittlung des privaten Nutzungsanteils nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG zu einem die nachgewiesenen Aufwendungen übersteigenden Betrag führte. Nachdem der Antragsteller im Beschwerdeverfahren eine Aufstellung aller seiner im Streitjahr unternommenen Fahrten vorgelegt hat, sind allerdings ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids begründet. Diese Aufzeichnungen weisen einen betrieblichen Nutzungsumfang von 78,44 v. H. der Gesamtfahrleistung des Streitjahrs aus. Bei Anwendung des § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 3 EStG wäre daher dem Begehren des Antragstellers stattzugeben, ohne dass es auf die von ihm aufgeworfene Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Typisierung des Anteils der privaten Kraftfahrzeugnutzung ankäme. Im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung einer AdV kann weder festgestellt werden, ob die Aufzeichnungen des Antragstellers in tatsächlicher Hinsicht zutreffend sind, noch ist dieses Verfahren geeignet, endgültig die Rechtsfrage zu klären, was unter dem Begriff des ordnungsgemäßen Fahrtenbuchs i. S. des § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 3 EStG zu verstehen ist; insbesondere, ob die Eintragungen in das Fahrtenbuch zeitnah zu erfolgen haben oder nachträglich vorgenommen werden können und ob Mängel dieser Aufzeichnungen - wie sie auch der Antragsteller eingeräumt hat - das FA nur zu einer Schätzung berechtigen oder aber zur Anwendung der Typisierungsregelung des § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG zwingen. Die Entscheidung dieser Rechtsfragen muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

b) Danach war die Vorentscheidung aufzuheben und dem Antrag auf AdV ohne Präjudiz für das Hauptsacheverfahren stattzugeben. An dieser Entscheidung ist der Senat nicht etwa deshalb gehindert weil der Antragsteller seine Aufzeichnungen erst nach Erhebung der Beschwerde vorgelegt hat. Er hat diese Aufzeichnungen nach seinem eigenen Vorbringen auch erst nach Zustellung des angefochtenen Beschlusses des FG erstellt. Im vorliegenden Verfahren ist der Senat als Beschwerdegericht jedoch berechtigt und verpflichtet, neues tatsächliches Vorbringen zu berücksichtigen, weil für das Beschwerdeverfahren insoweit keine einschränkende Vorschrift wie für das Revisionsverfahren (§ 118 Abs. 2 FGO) besteht (Senatsbeschluss vom IV B 3/66, BFHE 92, 314, BStBl II 1968, 538, m. w. N.).

Fundstelle(n):
BStBl 2000 II Seite 298
BB 2000 S. 1078 Nr. 21
BB 2000 S. 918 Nr. 18
BFH/NV 2000 S. 807 Nr. 6
DB 2000 S. 904 Nr. 18
DStRE 2000 S. 552 Nr. 10
FR 2000 S. 397 Nr. 7
INF 2000 S. 347 Nr. 11
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