OFD München - S 0223 - 6 St 312

§ 88 AO Tatsächliche Verständigung über den der Steuerfestsetzung zugrundeliegenden Sachverhalt

In Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung dient es unter bestimmten Voraussetzungen der Effektivität der Besteuerung und dem Rechtsfrieden, wenn sich die Beteiligten über die Annahme eines bestimmten Sachverhalts und über eine bestimmte Sachbehandlung einigen können (AEAO, Nr. 1 zu § 88 AO).

Diese tatsächliche Verständigung kann nach der Rechtsprechung des BStBl 1985 II S. 345, vom , BStBl 1991 II S. 45 und vom , BStBl 1991 II S. 673) in jedem Stadium des Veranlagungsverfahrens, Insbesondere auch anlässlich einer Außenprüfung und während eines anhängigen Rechtsbehelfs- bzw. Rechtsmittelverfahrens (z.B. im Rahmen einer Erörterung nach § 364a AO) getroffen werden. Beabsichtigen die Beteiligten, sich auf diese Weise über eine bestimmte Sachbehandlung zu verständigen, sind folgende Grundsätze zu beachten:

1. Zulässigkeit

Die tatsächliche Verständigung ist ausschließlich im Bereich der Sachverhaltsermittlung zulässig. Die tatsächliche Verständigung ist nicht zulässig

  • zur Klärung zweifelhafter Rechtsfragen,

  • über den Eintritt bestimmter Rechtsfolgen,

  • über die Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften und

  • wenn sie zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt.

Eine tatsächliche Verständigung ist aber insoweit möglich, als im Rahmen einer rechtlichen Beurteilung über eine Vorfrage zum Sachverhalt zu entscheiden ist. (vgl. BFH/NV 1998 S. 498 und vom , BStBl 2001 II S. 520).

2. Voraussetzungen

Voraussetzung für eine tatsächliche Verständigung ist das Vorliegen eines Sachverhalts, der nur unter erschwerten Umständen ermittelt werden kann. Das ist z.B. der Fall, wenn sich einzelne Sachverhalte nur

  • mit überdurchschnittlichem Arbeits- und Zeitaufwand und/oder

  • mit überdurchschnittlicher Zeitdauer ermitteln lassen,

Bei der Frage, ob eine erschwerte Sachverhaltsermittlung vorliegt, kann auch auf das Verhältnis zwischen voraussichtlichem Arbeitsaufwand und steuerlichem Erfolg abgestellt und ferner berücksichtigt werden, in welchem Maß das Finanzamt durch ein zu erwartendes finanzgerichtliches Verfahren belastet wird, sofern es bei vorhandenen tatsächlichen Zweifeln dem Begehren des Steuerpflichtigen nicht entspricht und zu seinem Nachteil entscheidet.

3. Anwendungsbereich

Die tatsächliche Verständigung kommt insbesondere in Fällen in Betracht, in denen ein

  • Schätzungsspielraum,

  • Bewertungsspielraum,

  • Beurteilungsspielraum oder

  • Beweiswürdigungsspielraum besteht.

Die tatsächliche Verständigung unterscheidet sich von der verbindlichen Auskunft dadurch, dass sie sich ausschließlich auf abgeschlossene Sachverhalte bezieht.

4. Durchführung

Die tatsächliche Verständigung dient der Herstellung des Rechtsfriedens und der Vermeidung von Rechtsbehelfen, indem der Arbeits- und Zeitaufwand für die Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts auf ein vertretbares Maß beschränkt werden soll. In Fällen, denen keine wesentliche Bedeutung zukommt, soll eine Einigung außerhalb einer tatsächlichen Verständigung angestrebt werden. Es kann z.B. eine (ggf. auch fernmündliche) Einigung in Form einer Absprache für die Behandlung im Besteuerungsverfahren mit anschließendem Aktenvermerk getroffen werden. Die Abgrenzung hat sich an der Bedeutung des Gesamtsteuerfalles zu orientieren; hierbei ist nicht kleinlich zu verfahren.

Bei der Durchführung der tatsächlichen Verständigung ist Folgendes zu beachten:

4.1. Wird der Steuerpflichtige vertreten, muss eine entsprechende Vollmacht vorliegen. Eine uneingeschränkte Vollmacht gem. § 80 Abs. 1 Satz 2 AO umfasst auch die Befugnis zu einer tatsächlichen Verständigung.

4.2. Auf Seiten des Finanzamts muss ein für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständiger Amtsträger beteiligt sein (vgl. BStBl 1991 II S. 45). Das sind z.B. neben dem Amtsleiter der zuständige Sachgebietsleiter des Veranlagungsbereichs und der Sachgebietsleiter der Rechtsbehelfsstelle und der BNV, falls die Verständigung im Rahmen eines bei diesem Arbeitsbereich anhängigen Verfahren getroffen wird (vgl. BFH/NV 1998 S. 580, 581, für den Rechtsbehelfsstellenleiter). Diese Beschränkung auf den Sachgebietsleiter ergibt sich aus der Zeichnungsrechtsregelung für die Finanzämter (vgl. Verfügungen 0 1543 - 100/5 und 0 1543 - 53 /St 11, jeweils Anlage 2 Tz. 1.4). Die Vereinbarung einer tatsächlichen Verständigung betrifft stets Fälle erschwerter Sachverhaltsermittlung und fällt deshalb unter den Zeichnungsrechtsvorbehalt des Sachgebietsleiters (”Vorgänge von tatsächlicher Schwierigkeit”).

4.3. War an dem Abschluss einer tatsächlichen Verständigung ein für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständiger Amtsträgers nicht beteiligt, kann dieser Mangel nicht durch nachträgliche Zustimmung geheilt werden (vgl. Rechtsatz in BFH/NV 1994 S. 290). Von einer wirksamen Beteiligung kann auch nicht ausgegangen werden, wenn der zuständige Veranlagungssachgebietsleiter die auf Grund der Verständigung ergehenden Steuerbescheide nur abzeichnet (vgl. BFH/NV 1998 S. 580).

4.4. Eine tatsächliche Verständigung soll sich nach Möglichkeit nur auf einen einzelnen Sachverhalt beziehen. Sollen tatsächliche Verständigungen über mehrere Sachverhalte herbeigeführt werden, sind in der Regel auch mehrere, voneinander unabhängige tatsächliche Verständigungen anzustreben. Im Hinblick auf den denkbaren Einwand des Wegfalls der Geschäftsgrundlage sollten ”Paketlösungen” (Einzelregelungen, die in ihrem Bestand voneinander abhängig gemacht werden) nur dann erwogen werden, wenn eine Klärung der offenen Sachverhaltsfragen nur auf diesem Wege erreicht werden kann.

4.5. Der Inhalt der tatsächlichen Verständigung sollte in einfacher, aber beweissicherer Form unter Darstellung der Sachlage schriftlich festgehalten und von den Beteiligten unterschreiben werden. In dieser Niederschrift sind die Beteiligten auf die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung hinzuweisen. Ihnen ist eine Ausfertigung der Vereinbarung auszuhändigen Für die Erstellung der Niederschrift steht die UNIFA-Vorlage ”Niederschrift tatsächliche Verständigung (OFD und Finanzamt\ Allgemein) zur Verfügung.

5. Rechtsfolgen

5.1. Die Bindungswirkung ergibt sich nicht erst durch die Berücksichtigung der tatsächlichen Verständigung im Steuerbescheid (vgl. BStBl 1996 II S. 625). Vielmehr sind die Beteiligten durch den Abschluss der tatsächlichen Verständigung an die vereinbarte Tatsachenbehandlung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gebunden, wenn sie wirksam und unanfechtbar zustande gekommen ist. Insoweit ist das Rechtsschutzbedürfnis für einen Rechtsbehelf bzw. ein Rechtsmittel gegen die entsprechende Steuerfestsetzung entfallen.

5.2. Die Vereinbarung ist dem Verwaltungsakt zugrunde zu legen, für den die tatsächliche Verständigung bestimmt ist (Verwirklichung der tatsächlichen Verständigung). Ihre Bindungswirkung bleibt auch dann bestehen, wenn dieser Verwaltungsakt nach § 164 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder nach § 165 AO vorläufig ergangen ist.

5.3. Eine Änderung des die tatsächliche Verständigung enthaltenden Verwaltungsaktes lässt die Bindungswirkung der Vereinbarung grundsätzlich unberührt. Der geänderte Verwaltungsakt muss daher insoweit regelmäßig von denselben Tatumständen ausgehen.

6. Aufhebung/Änderung der tatsächlichen Verständigung

6.1. Die tatsächliche Verständigung kann von den Beteiligten einvemehmlich aufgehoben oder geändert werden. Im Hinblick auf den Zweck dieses Rechtsinstituts sollte dies jedoch auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben.

6.2. Die Aufhebung oder Änderung des Verwaltungsaktes, dem eine tatsächliche Verständigung zugrunde liegt, kommt nur dann in Betracht, wenn dies nach den verfahrensrechtlichen Bestimmungen zulässig ist.

7. Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung

7.1. Eine tatsächliche Verständigung kann unwirksam sein, wenn sie unter unzulässigem Druck auf den Steuerpflichtigen oder durch dessen unzulässige Beeinflussung zustande gekommen ist. Eine unzulässige Beeinflussung ist insbesondere dann anzunehmen, wenn für den Fall des Nichtabschlusses einer Vereinbarung mit Konsequenzen für ein anhängiges Steuerstrafverfahren gedroht wird. Andererseits kann eine Willenserklärung des Steuerpflichtigen, die zu einer tatsächlichen Verständigung mit dem Finanzamt geführt hat, nicht deshalb angefochten werden, weil die Erklärung nur aus Sorge vor weiteren lästigen Ermittlungen und unter dem Druck eines laufenden Steuerstrafverfahrens abgegeben worden ist (siehe EFG 1987 S. 439).

Eine tatsächliche Verständigung ist außerdem unwirksam, wenn sie zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt ( BStBl 1991 II S. 673), d.h., wenn die Vereinbarung gegen die Regeln der Logik oder gegen allgemeine Erfahrungssätze verstößt. Eine tatsächliche Verständigung entfaltet auch dann keine Wirksamkeit, wenn der für die Steuerfestsetzung zuständige Amtsträger nicht beteiligt ist (vgl. Tz 4.2).

7.2. Als weitere Gründe für die Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung kommen die im BGB über die Willenserklärung aufgeführten Nichtigkeitsgründe zum Tragen:

7.3. Macht einer der Beteiligten geltend, die tatsächliche Verständigung sei unwirksam, so ist für ihre weitere Behandlung von Bedeutung, ob diese bereits in einem Verwaltungsakt verwirklicht worden ist oder nicht.

7.3.1. Die tatsächliche Verständigung ist noch nicht in einem Verwaltungsakt verwirklicht:

Das Finanzamt kann ohne weiteres von der Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung ausgehen, wenn es die Sachverhaltsvereinbarung noch nicht der Steuerfestsetzung zugrunde gelegt hat.

Macht der Steuerpflichtige die Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung mit zutreffenden Gründen geltend, so teilt ihm das Finanzamt mit, dass sie einvernehmlich als aufgehoben anzusehen ist. Bestreitet das Finanzamt die Unwirksamkeit der Sachverhaltsvereinbarung, so teilt es dies dem Steuerpflichtigen mit und berücksichtigt die Vereinbarung bei der entsprechenden Steuerfestsetzung.

Hält das Finanzamt die tatsächliche Verständigung für unwirksam und bestreitet dies der Steuerpflichtige, so wird sie nicht Gegenstand der nachfolgenden Steuerfestsetzung.

7.3.2. Die tatsächliche Verständigung ist bereits in einem Verwaltungsakt verwirklicht:

Die Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung kann sich nur dann steuerlich auswirken, wenn die betreffende Steuerfestsetzung verfahrensrechtlich noch geändert werden kann.

Die nach Ergehen eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes festgestellte Unwirksamkeit einer tatsächlichen Verständigung ist - für sich betrachtet - weder eine nachträglich bekanntgewordene Tatsache im Sinne des § 173 AO noch ein rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO. Sie wirkt sich deshalb nicht auf die Steuerfestsetzung aus.

7.4. Nach Wegfall der tatsächlichen Verständigung (Abschnitt 6.1, 7.1 und 7.2) sind jedoch regelmäßig weitere Ermittlungen zur Feststellung der Besteuerungsgrundlagen erforderlich. Die hierbei erstmalig bekanntgewordenen Tatsachen und Beweismittel können z.B. eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 AO zur Folge haben.

Inhaltlich gleichlautend
OFD München v. - S 0223 - 6 St 312
OFD Nürnberg v. - S 0223 - 20 St 24

Fundstelle(n):
FAAAA-80908