Verletzung des rechtlichen Gehörs: Übergangenes Vorbringen
Leitsatz
Eine Entscheidung beruht auf der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG, falls nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens anders ausgefallen wäre.
Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 224 Abs 2 ZPO, § 522 Abs 2 S 2 ZPO
Instanzenzug: Az: 20 U 29/19vorgehend Az: 5 O 106/14
Gründe
I.
1Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung in Anspruch. Das Landgericht hat die Beklagte teilweise verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Kammergericht gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin, die eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt. In der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ist ausgeführt, was die Klägerin, wäre ihr die Gelegenheit zur Äußerung nicht abgeschnitten worden, noch Erhebliches ausgeführt hätte.
II.
2Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Nichtzulassungsbeschwerde führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
31. Das Berufungsgericht hat die Klägerin durch Beschluss vom auf die Absicht hingewiesen, ihre Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vier Wochen gegeben. Dieser Beschluss ist den Prozessvertretern der Klägerin am zugestellt worden. Diese baten mit Schreiben vom , das am selben Tag an das Berufungsgericht übermittelt worden ist, um "stillschweigende Verlängerung der Frist zur Stellungnahme bis zum ", da die gesetzte Frist wegen Arbeitsüberlastung nicht eingehalten werden könne. Durch Beschluss vom hat das Berufungsgericht gemäß § 522 Abs. 2 ZPO die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Durch Verfügung vom hat das Berufungsgericht die Klägervertreter "vorsorglich darauf hingewiesen, dass der Antrag auf stillschweigende Fristverlängerung der Stellungnahmefrist zum Hinweisbeschluss vom am per Fax auf der Geschäftsstelle eingegangen ist, aber erst am und damit nach Erlass des Beschlusses vom vorgelegt worden ist."
42. Der Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist verletzt, weil das Berufungsgericht ihren Antrag auf Verlängerung der Frist zur Stellungnahme auf den Hinweis des Berufungsgerichts gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht zur Kenntnis genommen und die Berufung der Klägerin gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesen hat. Dabei ist unerheblich, dass das am per Fax auf der Geschäftsstelle eingegangene Schreiben erst nach Erlass des Zurückweisungsbeschlusses am vorgelegt worden ist (vgl. dazu BVerfGE 62, 347 [juris Rn. 19]; , juris Rn. 8; jeweils mwN).
53. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeerwiderung steht einer entscheidungserheblichen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht entgegen, dass das Berufungsgericht die beantragte Fristverlängerung nicht hätte gewähren müssen und dass in den hypothetischen Ausführungen der Klägerin im Rahmen einer fiktiven Stellungnahme zum Hinweisbeschluss "nichts Zulassungsrelevantes dargelegt" worden ist.
6a) Eine Entscheidung beruht auf der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG, falls nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie anders ausgefallen wäre, wenn das Vorbringen berücksichtigt worden wäre (vgl. BVerfGE 46, 185 [juris Rn. 9]; 89, 381 [juris Rn. 36]).
7b) Davon ist hier auszugehen.
8Zunächst kann die Frist zur Stellungnahme (§ 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO) gemäß § 224 Abs. 2 ZPO verlängert werden (vgl. Senat, Beschluss vom - VI ZR 287/17, NJW 2018, 3316 Rn. 9; Wöstmann, in: Saenger, ZPO 9. Aufl., § 522 Rn. 15).
9Weiter darf nicht ausgeschlossen werden können, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung einer - dann innerhalb der verlängerten Frist abgegebenen - Stellungnahme zu seinem Hinweisbeschluss zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre (vgl. Senat, Beschluss vom - VI ZR 428/17, juris Rn. 7; , juris Rn. 9 f.). Dies setzt nicht voraus, dass die hypothetischen Ausführungen in einer fiktiven Stellungnahme "zulassungsrelevant" sind. Vielmehr ist der berufungsgerichtliche Prüfungsmaßstab (§ 529 ZPO) zugrunde zu legen.
10Danach kann eine andere Entscheidung des Berufungsgerichts hier jedenfalls nicht ausgeschlossen werden.
114. Einem durchgreifenden Verstoß steht schließlich nicht der Grundsatz der Subsidiarität entgegen.
12a) Nach diesem Grundsatz muss ein Beteiligter die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern. Einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann nicht geltend machen, wer es versäumt hat, zuvor die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten auszuschöpfen, um sich das rechtliche Gehör zu verschaffen. Diese Würdigung entspricht dem in § 295 ZPO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken, nach dessen Inhalt eine Partei eine Gehörsverletzung nicht mehr rügen kann, wenn sie die ihr nach Erkennen des Verstoßes verbliebene Möglichkeit zu einer Äußerung nicht genutzt hat (vgl. Senat, Beschluss vom - VI ZR 410/17, NJW-RR 2020, 312 unter 1.a.; , NJW-RR 2021, 76 Rn. 67; jeweils mwN).
13b) Zwar durften die Prozessvertreter der Klägerin nicht erwarten, dass die Frist - wie von ihnen beantragt - "stillschweigend" verlängert wird. Denn eine Fristverlängerung muss ausdrücklich ausgesprochen und mitgeteilt werden (vgl. IVb ZB 135/88, NJW-RR 1990, 67 [juris Rn. 10]). Allerdings hatten die Klägervertreter hier jedenfalls vor Zurückweisung der Berufung durch Beschluss vom keinen Anlass, sich zu erkundigen, ob und bis wann das Berufungsgericht die Frist zur Stellungnahme verlängert hat oder verlängern wird (siehe weiter , juris Rn. 23, 36 zum Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:280921BVIZR946.20.0
Fundstelle(n):
NJW 2021 S. 9 Nr. 46
NJW-RR 2022 S. 286 Nr. 4
FAAAH-93439