BFH Beschluss v. - VIII B 117/19

Vorliegen einer Überraschungsentscheidung bei erstmals in der mündlichen Verhandlung angesprochenen Nachweismängeln für bestimmte Betriebsausgaben

Leitsatz

NV: Eine Überraschungsentscheidung kann vorliegen, wenn das FG den nicht im Besitz seiner Belegsammlung befindlichen Kläger in der mündlichen Verhandlung erstmals mit der Feststellung konfrontiert, die geltend gemachten Betriebsausgaben für bestimmte Aufwendungen seien nicht vollständig durch Belege nachgewiesen, und das FG in der Entscheidung den Abzug dieser Betriebsausgaben kürzt.

Gesetze: FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3; GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 96 Abs. 2

Instanzenzug:

Gründe

1 Die Beschwerde ist begründet.

2 Der vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gerügte Verfahrensfehler einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt vor. Die Vorentscheidung des Finanzgerichts (FG) wird aufgehoben und die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 FGO).

3 1. Das FG hat eine Überraschungsentscheidung getroffen und hierdurch den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.

4 a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet den Beteiligten das Recht, sich vor der Entscheidung des Gerichts zum entscheidungserheblichen Sachverhalt und zur Rechtslage ausreichend äußern zu können. Das Gericht verletzt das Recht auf Gehör i.S. von Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), wenn die Verfahrensbeteiligten von einer Entscheidung überrascht werden, weil das Urteil auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gegründet ist, zu denen sie sich nicht geäußert haben und zu denen sich zu äußern sie nach dem vorherigen Verlauf des Verfahrens auch keine Veranlassung hatten. Art. 103 Abs. 1 GG schützt daher die Beteiligten davor, von neuen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten überfahren zu werden, die dem Rechtsstreit eine Wendung geben, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. statt vieler , Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1993, 595; , BFH/NV 1998, 732, unter II.1., m.w.N.). Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das FG aber nicht, den Beteiligten die für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte anzudeuten und sie mit den Beteiligten umfassend zu erörtern. Auf rechtliche Umstände, die ein Beteiligter selbst hätte sehen können und müssen, muss er nicht hingewiesen werden (vgl. , BFH/NV 2016, 1042, Rz 13). Das gilt erst recht im Verhältnis zu einem Beteiligten, der wie hier selbst rechtskundig ist (vgl. , BFHE 265, 14, Rz 10).

5 b) Die Vorentscheidung ist auf dieser Grundlage als Überraschungsentscheidung zu beurteilen.

6 aa) Der Kläger rügt zu Recht, dass die Höhe der in der Gewinnermittlung für das Streitjahr geltend gemachten Aufwendungen für Fremdleistungen bis zur mündlichen Verhandlung im zweiten Rechtsgang kein in das Verfahren eingeführter rechtlicher Gesichtspunkt war und das FG den Kläger im Vorfeld der mündlichen Verhandlung darauf hätte hinweisen müssen, dass es die Gewinnermittlung des Klägers insoweit für mangelhaft hält.

7 aaa) Das FG hat im hier angefochtenen Urteil des zweiten Rechtsgangs unter Bezugnahme auf das Senatsurteil vom  - VIII R 6/14 (BFH/NV 2018, 606) eine eigene Schätzungsbefugnis gemäß § 162 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO angenommen. Diese hat es darauf gestützt, die Belegsammlung des Klägers sei nicht „geordnet“ und daher mangelhaft. Es hat auf dieser Grundlage Betriebseinnahmen, die es der Höhe nach aus einem „Geldtransitkonto“ ermittelt hat, hinzugeschätzt. Zudem hat es in der mündlichen Verhandlung des zweiten Rechtsgangs —erstmals— den Nachweis der Aufwendungen des Klägers für Fremdleistungen in der Gewinnermittlung bemängelt und die für die Fremdleistungen geltend gemachten Betriebsausgaben um 25.976,63 € gekürzt.

8 bbb) Die Frage, ob dem Abzug von Aufwendungen für Fremdleistungen mangels vorhandener Belege zum Großteil die Anerkennung zu versagen war, war angesichts des Verfahrensablaufs ein neuer rechtlicher und tatsächlicher Gesichtspunkt.

9 (1) Im ersten Rechtsgang war —nach Vorlage der Belegordner des Klägers— im Hinblick auf die mittlerweile noch streitige Höhe des Gewinns des Klägers bei den Einkünften aus selbständiger Arbeit für das Streitjahr 2004 Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens der Streitpunkt, ob der Kläger Aufwendungen für privat verbrauchte Lebensmittel, welche auf den Konten „Bewirtung außer Haus“ und „Bewirtung im Haus“ gebucht worden waren, zu Unrecht als Betriebsausgaben geltend gemacht hat. Ausweislich des klägerischen Vortrags, der im Tatbestand der Entscheidung des FG im ersten Rechtsgang wiedergegeben ist, bestand dieser Streit auch hinsichtlich der auf den Sachkonten „Reinigung“, „Repräsentation“ und „Geschenke“ verbuchten Aufwendungen. Das FG entschied im ersten Rechtsgang, der Gewinnermittlung des Klägers könne hinsichtlich der insoweit geltend gemachten Betriebsausgaben nicht gefolgt werden. Es bejahte aufgrund dieser Zweifel an der sachlichen Richtigkeit der Gewinnermittlung des Klägers für die Betriebsausgaben eine Schätzungsbefugnis des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt —FA—) und beanstandete —dies war der weitere zentrale Streitpunkt des Verfahrens— eine pauschale Hinzuschätzung des FA bei den Betriebseinnahmen (in Höhe von 77 % der erklärten Einnahmen) nicht.

10 (2) Der Senat hob das FG-Urteil des ersten Rechtszugs wegen der rechtsfehlerhaften Annahme der Schätzungsbefugnis sowohl gemäß § 162 Abs. 2 Satz 1 AO als auch gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 AO hinsichtlich der erklärten Betriebseinnahmen und für die Höhe der Schätzung aufgrund einer fehlenden Begründungstiefe für den vom FG bestätigten pauschalen Unsicherheitszuschlag bei den Betriebseinnahmen auf (vgl. Senatsurteil vom  - VIII R 5/14, BFH/NV 2018, 602, Rz 14, 37, 39, 41, 42). Das FG sei insbesondere der Erklärung des Klägers nicht nachgegangen, im Streitjahr sei eine Mandantin insolvent geworden, von der er im Jahr 2003 noch signifikante Honorare erhalten habe.

11 (3) Im zweiten Rechtsgang nahm das FA mit Schreiben vom zu den sich aus dem Senatsurteil in BFH/NV 2018, 602 für den zweiten Rechtsgang ergebenden Fragen Stellung. Es legte dar, dass aus Sicht des FA für die Einnahmen des Klägers eine Überprüfung der Belegsammlung unter Berücksichtigung der ertragsteuerlich zu beachtenden umsatzsteuerlichen Aufzeichnungspflichten (§ 22 Abs. 2 Satz 5 des Umsatzsteuergesetzes in der im Streitjahr anzuwendenden Fassung) nicht in angemessener Zeit möglich sei, insbesondere fehlten für den Monat März Ausgangsrechnungen (Nrn. 30 bis 60). Ausgangsrechnungen an die im Streitjahr insolvent gewordene Mandantin seien in der Belegsammlung für das Streitjahr nicht zu finden. Die Ladung des FG zur mündlichen Verhandlung enthielt den Zusatz, der Kläger möge anhand von Ausgangsrechnungen und Kontoauszügen darlegen und nachweisen, in welcher Höhe im Jahr 2003 noch Honorare für Steuerberatungsleistungen von der insolvent gewordenen Mandantin vereinnahmt worden seien. Die Belegsammlung des Klägers für das Streitjahr befand sich während des gesamten zweiten Rechtsgangs im Besitz des FA.

12 (4) Gegenstand der mündlichen Verhandlung beim FG im zweiten Rechtsgang war nach der Niederschrift die Einsichtnahme der Beteiligten und des Gerichts in Unterlagen des Klägers zu den im Jahr 2003 vereinnahmten Zahlungen für Steuerberatungsleistungen der im Streitjahr insolvent gewordenen Mandantin. Ferner wurde der Kläger zur Verbuchung der Rechnungen für den Monat März des Streitjahres befragt, für den die Ausgangsrechnungen nicht vorlagen. Er nahm hierzu Stellung. Im Hinblick auf den Betriebsausgabenabzug für Fremdleistungen wurde dem Kläger —nach seinem unwidersprochen gebliebenen Vortrag in der Beschwerdebegründung— erstmals in der mündlichen Verhandlung des zweiten Rechtsgangs die Feststellung des FG vorgehalten, die Aufwendungen seien nicht vollständig durch Belege nachgewiesen und der Betriebsausgabenabzug für diese zum Großteil nicht anzuerkennen. Auch aus den dem Senat im Beschwerdeverfahren vorliegenden Akten ist nicht erkennbar, dass dieser Gesichtspunkt zu einem früheren Zeitpunkt Gegenstand des Verfahrens war.

13 ccc) Angesichts des dargelegten Verfahrensablaufs musste sich der Kläger auch als rechtskundiger Beteiligter nicht darauf einstellen, das FG werde ohne einen vorherigen Hinweis in der mündlichen Verhandlung die Frage aufgreifen, ob die geltend gemachten Betriebsausgaben für Fremdleistungen durch Belege nachgewiesen seien. Allein der Umstand, dass die ordnungsgemäße Aufzeichnung der Einnahmen und Ausgaben der Gewinnermittlung für das Streitjahr insgesamt Gegenstand des Verfahrens war und der Kläger —so das FG— die Auffassung vertreten habe, „seine Belegsammlung sei ordnungsgemäß und vollständig“, führt nicht dazu, dass der Kläger damit rechnen musste, das FG werde den Nachweis der Aufwendungen für Fremdleistungen hinterfragen. Das FG hat dem Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nicht die Möglichkeit eingeräumt, aus den Belegen heraus einen Nachweis zu führen.

14 ddd) Das FG hat dem Rechtsstreit hierdurch in unzulässiger Weise eine für den Kläger nicht erkennbare Wendung gegeben.

15 Das FG hätte den Kläger vor der mündlichen Verhandlung zwar nicht darauf hinweisen müssen, dass es an einer Hinzuschätzung der Betriebseinnahmen, die ein zentraler Gegenstand des Rechtsstreits war, und den zuvor schon streitigen Fragen zur Anerkennung der Betriebsausgaben für „Bewirtung“, „Reinigung“, „Repräsentation“ und „Geschenken“ festhalten will. Es hätte aber zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung eines Hinweises bedurft, dass das FG nunmehr den Betriebsausgabenabzug für „Fremdleistungen“ mangels eines vollständigen Belegnachweises versagen will, da hierdurch neuer Tatsachenstoff (die Vollständigkeit des Belegnachweises) in das Verfahren eingeführt wurde. Im ersten Rechtsgang war zudem allein die Hinzuschätzung von Betriebseinnahmen durch das FA maßgeblicher Streitpunkt; lediglich die Schätzungsbefugnis für diese Hinzuschätzung wurde aus den formellen Mängeln bei der Aufzeichnung der Betriebsausgaben abgeleitet. Im zweiten Rechtsgang hat das FG dann einerseits zusätzliche Betriebseinnahmen des Klägers geschätzt und daneben zu den geltend gemachten Betriebsausgaben die Gewinnermittlung des Klägers auf konkrete Mängel überprüft, ohne dies und sein für die Aufwendungen für Fremdleistungen gefundenes Ergebnis vor der mündlichen Verhandlung offenzulegen. Dieses Vorgehen ist dem Methodenwechsel bei einer Schätzung vergleichbar, bei dem in unzulässiger Weise ein neuer Tatsachenstoff ohne vorherigen Hinweis in das Verfahren eingeführt wird (vgl. zu einer Überraschungsentscheidung bei einem Wechsel der Schätzungsmethode , BFH/NV 2018, 530, Rz 17).

16 bb) Eine Überraschungsentscheidung ist vorliegend auch nicht deshalb zu verneinen, weil das FG in der mündlichen Verhandlung nach dem klägerischen Vortrag darauf hingewiesen hat, zu den geltend gemachten Betriebsausgaben für Fremdleistungen fehlten Belege, und diese könnten nicht vollständig anerkannt werden. Zwar wird der Anspruch auf rechtliches Gehör grundsätzlich nicht verletzt, wenn das FG erstmals in der mündlichen Verhandlung auf eine bestimmte Rechtsansicht hinweist und dem Kläger dort die Möglichkeit zur Stellungnahme gibt (vgl. z.B. , BFH/NV 2020, 97, Rz 9). Eine Überraschungsentscheidung kann aber vorliegen, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom FG erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird (vgl. BFH-Beschlüsse vom  - IX B 92/15, BFH/NV 2016, 217, Rz 2; vom  - IX B 105/18, BFH/NV 2019, 922, Rz 7).

17 Dies ist hier der Fall. Wie der Kläger in der Beschwerdebegründung unwidersprochen ausführt, hat das FG ihn in der mündlichen Verhandlung zwar auf den Gesichtspunkt hingewiesen, es fehlten Belege zu den Aufwendungen für Fremdleistungen, so dass diese nur in Höhe von 6.317,30 € berücksichtigungsfähig seien. Dieser vom FG in der mündlichen Verhandlung angesprochene Umstand ist aber vollständig erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht worden. Denn erst aus der schriftlichen Urteilsbegründung (Blatt 13, 14) ging für den Kläger hervor, dass das FG die Feststellung, die Belege für Fremdleistungen seien nicht vollständig, auf die Überprüfung der in den „Bankordnern“ abgelegten Belege stützte. Der Kläger konnte daher zu dem Vorhalt des FG in der mündlichen Verhandlung nur erwidern, die Feststellung des FG sei unzutreffend, hatte aber keine Möglichkeit, diesen zu entkräften, zumal er auch unverschuldet nicht im Besitz der während des Verfahrens beim FA befindlichen Belegordner für das Streitjahr war.

18 2. Der Senat verweist den Rechtsstreit gemäß § 116 Abs. 6 FGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.

19 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2020:B.130520.VIIIB117.19.0- 2 -

Fundstelle(n):
AO-StB 2020 S. 387 Nr. 12
BB 2021 S. 2332 Nr. 40
BFH/NV 2020 S. 1262 Nr. 12
DStR 2020 S. 12 Nr. 42
NJW 2020 S. 10 Nr. 43
IAAAH-59765