Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 44 – Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 – Art. 11 Abs. 1 – Dienstleistungen – Ort der steuerlichen Anknüpfung – Begriff der festen Niederlassung – Mehrwertsteuerpflichtiger – In einem Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft einer Gesellschaft mit Sitz in einem Drittstaat
Leitsatz
Art. 44 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom geänderten Fassung sowie Art. 11 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112 sind dahin auszulegen, dass der Schluss, dass eine Gesellschaft mit Sitz in einem Drittstaat eine feste Niederlassung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, von einem Dienstleistungserbringer nicht aus dem bloßen Umstand hergeleitet werden kann, dass diese Gesellschaft dort eine Tochtergesellschaft besitzt, und dass dieser Dienstleistungserbringer nicht verpflichtet ist, für die Zwecke einer solchen Beurteilung die vertraglichen Beziehungen zwischen den beiden Gesellschaften zu prüfen.
Instanzenzug:
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 44 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom (ABl. 2008, L 44, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112) und von Art. 11 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112 (ABl. 2011, L 77, S. 1).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Dong Yang Electronics sp. z o.o. (im Folgenden: Dong Yang) und dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu (Direktor der Finanzverwaltungskammer Wrocław, Polen) wegen dessen Entscheidung, Mehrwertsteuer von Dong Yang nachzufordern.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Freihandelsabkommen
3 Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits, das durch den Beschluss 2011/265/EU des Rates vom (ABl. 2011, L 127, S. 1) im Namen der Union genehmigt wurde, sieht in der zweiten Spalte der in seinem Anhang 7-A-2 enthaltenen Tabelle unter der Überschrift „Arten der Niederlassung“ vor:
„PL: Mit Ausnahme von Finanzdienstleistungen, ungebunden für Zweigniederlassungen. Koreanische Investoren können eine Wirtschaftstätigkeit nur in Form einer Kommanditgesellschaft, einer Kommanditgesellschaft auf Aktien, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder einer Aktiengesellschaft aufnehmen und ausüben (im Falle der Rechtsdienstleistungen nur in Form einer eingetragenen Partnerschaftsgesellschaft oder Kommanditgesellschaft).“
Richtlinie 2006/112
4 Art. 44 in Titel V („Ort des steuerbaren Umsatzes“) Kapitel 3 („Ort der Dienstleistung“) der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, gilt der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des steuerpflichtigen Dienstleistungsempfängers.“
Durchführungsverordnung Nr. 282/2011
5 Art. 11 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 sieht vor:
„(1) Für die Anwendung des Artikels 44 der Richtlinie 2006/112/EG gilt als ‚feste Niederlassung‘ jede Niederlassung mit Ausnahme des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit nach Artikel 10 dieser Verordnung, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit sowie eine Struktur aufweist, die es ihr von der personellen und technischen Ausstattung her erlaubt, Dienstleistungen, die für den eigenen Bedarf dieser Niederlassung erbracht werden, zu empfangen und dort zu verwenden.
…
(3) Allein aus der Tatsache, dass eine Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer zugeteilt wurde, kann nicht darauf geschlossen werden, dass ein Steuerpflichtiger eine ‚feste Niederlassung‘ hat.“
6 Art. 22 dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Der Dienstleistungserbringer prüft die Art und die Verwendung der erbrachten Dienstleistung, um die feste Niederlassung des Dienstleistungsempfängers zu ermitteln, an die die Dienstleistung erbracht wird.
Kann der Dienstleistungserbringer weder anhand der Art der erbrachten Dienstleistung noch ihrer Verwendung die feste Niederlassung ermitteln, an die die Dienstleistung erbracht wird, so prüft er bei der Ermittlung dieser festen Niederlassung insbesondere, ob der Vertrag, der Bestellschein und die vom Mitgliedstaat des Dienstleistungsempfängers vergebene und ihm vom Dienstleistungsempfänger mitgeteilte Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer die feste Niederlassung als Dienstleistungsempfänger ausweisen und ob die feste Niederlassung die Dienstleistung bezahlt.
Kann die feste Niederlassung des Dienstleistungsempfängers, an die die Dienstleistung erbracht wird, gemäß den Unterabsätzen 1 und 2 des vorliegenden Absatzes nicht bestimmt werden oder werden einem Steuerpflichtigen unter Artikel 44 der Richtlinie 2006/112/EG fallende Dienstleistungen innerhalb eines Vertrags erbracht, der eine oder mehrere Dienstleistungen umfasst, die auf nicht feststellbare oder nicht quantifizierbare Weise genutzt werden, so kann der Dienstleistungserbringer berechtigterweise davon ausgehen, dass diese Dienstleistungen an dem Ort erbracht werden, an dem der Dienstleistungsempfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat.
(2) Die Pflichten des Dienstleistungsempfängers bleiben von der Anwendung dieses Artikels unberührt.“
Polnisches Recht
7 Art. 28b Abs. 1 bis 3 der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom (Dz. U. 2011, Nr. 177, Pos. 1054) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:
„(1) Im Fall der Erbringung von Dienstleistungen an einen Steuerpflichtigen gilt als Ort der Dienstleistung der Ort, an dem der steuerpflichtige Dienstleistungsempfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat, vorbehaltlich der Abs. 2 bis 4 sowie von Art. 28e, Art. 28f Abs. 1 und Abs. 1a, Art. 28g Abs. 1, Art. 28i, Art. 28j Abs. 1 und 2 und Art. 28n.
(2) Werden diese Dienstleistungen jedoch an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung.
(3) Hat der steuerpflichtige Dienstleistungsempfänger keinen Sitz oder keine Niederlassung im Sinne des Abs. 2, gilt als Ort der Dienstleistungen der Ort, an dem er seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
8 Dong Yang, eine Gesellschaft polnischen Rechts, schloss am mit der LG Display Co. Ltd. (Südkorea) (im Folgenden: LG Korea), einer Gesellschaft koreanischen Rechts mit Sitz in Seoul (Südkorea), einen Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen in Form der Montage von Leiterplatten (printed circuit boards, im Folgenden: PCB) aus Materialien und Komponenten, die im Eigentum von LG Korea standen.
9 Die für die Fertigung der PCB notwendigen Materialien und Komponenten wurden von einer Tochtergesellschaft von LG Korea, der LG Display Polska sp. z o.o. (im Folgenden: LG Polen), einer Gesellschaft polnischen Rechts, verzollt und dann Dong Yang übergeben.
10 Dong Yang übergab die PCB an LG Polen, die die PCB gemäß einem mit LG Korea geschlossenen Vertrag für die Herstellung von TFT‑LCD-Modulen verwendete. Diese Module, die im Eigentum von LG Korea standen, wurden an eine weitere Gesellschaft, die LG Display Germany GmbH, geliefert.
11 LG Polen verfügt über eigene Produktionsmittel. Diese Gesellschaft und LG Korea haben unterschiedliche Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummern.
12 Dong Yang stellte der LG Korea die Montage der PCB in Rechnung, wobei sie der Auffassung war, dass diese Dienstleistungen im polnischen Hoheitsgebiet nicht der Mehrwertsteuer unterlägen.
13 Dong Yang wurde von LG Korea versichert, dass diese in Polen keine feste Niederlassung unterhalte und im polnischen Hoheitsgebiet keine Arbeitnehmer beschäftige oder Immobilien oder eine technische Ausstattung besitze.
14 Der Direktor der Finanzverwaltungskammer Wrocław war der Auffassung, dass Dong Yang die PCB-Montagedienstleistungen in Polen erbracht habe, da LG Polen eine feste Niederlassung von LG Korea sei. Daher forderte der genannte Direktor am von Dong Yang die Zahlung von Mehrwertsteuer für die von ihr im Jahr 2012 erbrachten Montagedienstleistungen.
15 In dieser Entscheidung führte der Direktor der Finanzverwaltungskammer Wrocław aus, dass LG Korea durch die von ihr gestalteten vertraglichen Beziehungen LG Polen wie eine eigene Niederlassung nutze.
16 Dong Yang habe sich nicht allein auf die Erklärung von LG Korea verlassen dürfen, wonach diese keine feste Niederlassung in Polen unterhalte, sondern hätte gemäß Art. 22 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 prüfen müssen, wer der tatsächliche Begünstigte der von ihr erbrachten Dienstleistungen sei; eine solche Prüfung hätte es ihr ermöglicht, zu dem Schluss zu gelangen, dass dieser Begünstigte in Wirklichkeit LG Polen sei.
17 Dong Yang erhob beim Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Wrocław, Polen) Klage auf Aufhebung der Entscheidung des Direktors der Finanzverwaltungskammer Wrocław mit der Begründung, dass diese Entscheidung gegen Art. 44 der Richtlinie 2006/112 sowie gegen Art. 11 Abs. 1 und die Art. 21 und 22 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 verstoße.
18 Das vorlegende Gericht nimmt Bezug auf die Urteile vom , Berkholz (168/84, ), vom , Faaborg-Gelting Linien (C‑231/94, EU:C:1996:184), vom , ARO Lease (C‑190/95, EU:C:1997:374), und vom , Welmory (C‑605/12, EU:C:2014:2298), die sich auf den Begriff der „festen Niederlassung“ im Sinne von Art. 44 dieser Richtlinie beziehen. Es ist jedoch der Auffassung, dass sich der Sachverhalt des bei ihm anhängigen Rechtsstreits erheblich von denen der angeführten Urteile unterscheide. Da sich der Gesellschaftssitz von LG Korea in einem Drittstaat, im vorliegenden Fall in der Republik Korea, befinde, komme diese Gesellschaft nämlich nicht in den Genuss der durch den AEU-Vertrag verliehenen Freiheiten und könne im Hoheitsgebiet der Republik Polen wirtschaftlich nicht frei tätig werden.
19 Da die Ausübung einer solchen Tätigkeit nur mittels einer abhängigen Gesellschaft möglich sei, ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass eine Gesellschaft mit Sitz in einem Drittstaat stets die Möglichkeit habe, auf die Tätigkeit ihrer Tochtergesellschaft Einfluss zu nehmen und somit über deren Mittel zu verfügen.
20 Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen vom Dienstleistungserbringer insbesondere im Hinblick auf die ihm gemäß Art. 22 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 obliegenden Pflichten die im polnischen Hoheitsgebiet ansässige und von einer in einem Drittstaat ansässigen Gesellschaft gehaltene Tochtergesellschaft als eine feste Niederlassung für die Zwecke der Ermittlung des Orts der Dienstleistungserbringung anzusehen ist.
21 Insbesondere stellt es sich die Frage, ob aus dem bloßen Umstand, dass es eine Tochtergesellschaft gebe, das Vorliegen einer festen Niederlassung hergeleitet werden könne oder ob der Dienstleistungserbringer die vertraglichen Verhältnisse zwischen der Muttergesellschaft und dieser Tochtergesellschaft berücksichtigen müsse. Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Verträge über die Zusammenarbeit zwischen der Muttergesellschaft und der Tochtergesellschaft, auf deren Grundlage die polnischen Steuerbehörden zu dem Ergebnis gelangt seien, dass eine feste Niederlassung bestehe, den Behörden im Rahmen eines anderen Steuerverfahrens als dem des Ausgangsrechtsstreits bekannt geworden und dem in diesem Rechtsstreit in Rede stehenden Dienstleistungserbringer nicht zugänglich gewesen seien.
22 Unter diesen Umständen hat das Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Wrocław), das eine Klarstellung des Gerichtshofs für erforderlich hält, entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Kann aus dem bloßen Umstand, dass eine Gesellschaft mit Sitz außerhalb der Europäischen Union eine Tochtergesellschaft mit Sitz in Polen besitzt, das Vorliegen einer festen Niederlassung in Polen im Sinne von Art. 44 der Richtlinie 2006/112 und Art. 11 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 hergeleitet werden?
Ist im Fall einer verneinenden Antwort auf die erste Frage ein Dritter dazu verpflichtet, die vertraglichen Verhältnisse zwischen der Gesellschaft mit Sitz außerhalb der Europäischen Union und der Tochtergesellschaft zu prüfen, um zu ermitteln, ob die erstgenannte Gesellschaft eine feste Niederlassung in Polen hat?
Zu den Vorlagefragen
23 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 44 der Richtlinie 2006/112 sowie Art. 11 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 dahin auszulegen sind, dass der Schluss, dass eine Gesellschaft mit Sitz in einem Drittstaat eine feste Niederlassung im Gebiet eines Mitgliedstaats hat, von einem Dienstleistungserbringer aus dem bloßen Umstand hergeleitet werden kann, dass diese Gesellschaft dort eine Tochtergesellschaft besitzt, oder ob dieser Dienstleistungserbringer verpflichtet ist, für die Zwecke einer solchen Beurteilung die vertraglichen Beziehungen zwischen den beiden Gesellschaften zu prüfen.
24 Nach Art. 44 Satz 1 der Richtlinie 2006/112 gilt als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Satz 2 dieses Artikels sieht jedoch vor, dass in Fällen, in denen die Dienstleistungen an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen erbracht werden, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz dieser festen Niederlassung gilt.
25 Diese Vorschriften bestimmen den Ort der steuerlichen Anknüpfung bei Dienstleistungen, um einerseits Kompetenzkonflikte, die zu einer Doppelbesteuerung führen könnten, und andererseits die Nichtbesteuerung von Einnahmen zu verhindern (Urteil vom , Welmory, C‑605/12, EU:C:2014:2298, Rn. 42).
26 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass zwar der zweckdienlichste und damit der vorrangige Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung aus steuerlicher Sicht der Ort ist, an dem der Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat, die Berücksichtigung einer festen Niederlassung des Steuerpflichtigen jedoch eine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel darstellt, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom , Welmory, C‑605/12, EU:C:2014:2298, Rn. 53 und 56).
27 Um das Auftreten von Umständen zu verhindern, die das ordnungsgemäße Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems beeinträchtigen könnten, hat der Unionsgesetzgeber insoweit in Art. 44 der Richtlinie 2006/112 vorgesehen, dass, wenn die Dienstleistung an eine Niederlassung erbracht worden ist, die als feste Niederlassung des Steuerpflichtigen eingestuft werden kann, als Ort der Dienstleistung der Sitz dieser festen Niederlassung zu gelten hat.
28 Zur Frage, ob eine „feste Niederlassung“ im Sinne von Art. 44 Satz 2 vorliegt, ist festzustellen, dass diese Frage in Bezug auf den steuerpflichtigen Dienstleistungsempfänger zu prüfen ist (Urteil vom , Welmory, C‑605/12, EU:C:2014:2298, Rn. 57). Gemäß Art. 11 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 gilt hierbei als „feste Niederlassung“ jede Niederlassung mit Ausnahme des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit nach Art. 10 dieser Verordnung, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit sowie eine Struktur aufweist, die es ihr von der personellen und technischen Ausstattung her erlaubt, Dienstleistungen, die für den eigenen Bedarf dieser Niederlassung erbracht werden, zu empfangen und dort zu verwenden.
29 Zwar ist insoweit festzustellen, dass das in Rn. 3 des vorliegenden Urteils angeführte Freihandelsabkommen in der zweiten Spalte der in seinem Anhang 7-A-2 enthaltenen Tabelle unter der Überschrift „Arten der Niederlassung“ einen Vorbehalt für die Republik Polen enthält, wonach koreanische Investoren eine Wirtschaftstätigkeit in Polen nur in Form einer Kommanditgesellschaft, einer Kommanditgesellschaft auf Aktien, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder einer Aktiengesellschaft aufnehmen und ausüben können. Diese Bestimmung nimmt Unternehmen koreanischen Rechts die Möglichkeit, direkt eine wirtschaftliche Tätigkeit in Polen auszuüben.
30 Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die von der Muttergesellschaft mit Sitz in Südkorea für die Zwecke der Ausübung einer solchen Tätigkeit gehaltene Tochtergesellschaft eine feste Niederlassung dieser Muttergesellschaft in einem Mitgliedstaat der Union im Sinne von Art. 44 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 darstellt. Der in der vorstehenden Randnummer erwähnte Vorbehalt hat daher keine Auswirkungen auf die Auslegung des Begriffs „feste Niederlassung“ im Sinne von Art. 44 der Richtlinie 2006/112.
31 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Berücksichtigung der wirtschaftlichen und geschäftlichen Realität ein grundlegendes Kriterium für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Budimex, C‑224/18, EU:C:2019:347, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Einstufung einer Niederlassung als feste Niederlassung darf daher nicht allein von der Rechtsform der betreffenden Einrichtung abhängen.
32 Insoweit ist festzustellen, dass es zwar möglich ist, dass eine Tochtergesellschaft die feste Niederlassung ihrer Muttergesellschaft darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , DFDS, C‑260/95, EU:C:1997:77, Rn. 25 und 26), eine solche Einstufung aber von den in der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 und insbesondere in deren Art. 11 genannten materiellen Voraussetzungen abhängt, die unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und geschäftlichen Realität zu prüfen sind.
33 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass ein Dienstleistungserbringer das Vorliegen einer festen Niederlassung einer in einem Drittstaat ansässigen Gesellschaft im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nicht aus dem bloßen Umstand herleiten kann, dass diese Gesellschaft dort eine Tochtergesellschaft besitzt.
34 Zur Frage, ob der Erbringer der betreffenden Dienstleistungen verpflichtet ist, die vertraglichen Verhältnisse zwischen dieser Gesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft zu prüfen, um zu ermitteln, ob die Muttergesellschaft eine feste Niederlassung in diesem Mitgliedstaat hat, ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung auf Art. 22 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 Bezug nimmt.
35 Insoweit ist daran zu erinnern, dass dieser Art. 22 eine Reihe von Kriterien vorsieht, die dieser Dienstleistungserbringer zu berücksichtigen hat, um die feste Niederlassung des Empfängers zu ermitteln. Zunächst sind die Art und die Verwendung der an den steuerpflichtigen Empfänger erbrachten Dienstleistung zu prüfen. Kann die feste Niederlassung des Dienstleistungsempfängers nicht durch diese Prüfung ermittelt werden, ist sodann insbesondere zu prüfen, ob der Vertrag, der Bestellschein sowie die vom Mitgliedstaat des Dienstleistungsempfängers vergebene und dem Dienstleistungserbringer vom Empfänger mitgeteilte Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer die feste Niederlassung als Dienstleistungsempfänger ausweisen und ob die feste Niederlassung die Dienstleistung bezahlt. Kann die feste Niederlassung des Dienstleistungsempfängers nicht anhand der beiden vorgenannten Kriterien bestimmt werden, darf der Dienstleistungserbringer schließlich berechtigterweise davon ausgehen, dass die Dienstleistungen an dem Ort erbracht werden, an dem der Dienstleistungsempfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat.
36 Folglich ist im Einklang mit der von der polnischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Europäischen Kommission vertretenen Auffassung festzustellen, dass sich aus Art. 22 der Durchführungsverordnung nicht ergibt, dass der Erbringer der betreffenden Dienstleistungen verpflichtet wäre, die vertraglichen Verhältnisse zwischen einer Gesellschaft mit Sitz in einem Drittstaat und ihrer Tochtergesellschaft mit Sitz in einem Mitgliedstaat zu prüfen, um zu ermitteln, ob die Muttergesellschaft über eine feste Niederlassung in diesem Mitgliedstaat verfügt. Insbesondere zielt nämlich Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Vorschrift auf den Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen zwischen dem Erbringer und dem steuerpflichtigen Dienstleistungsempfänger ab und nicht auf die vertraglichen Verhältnisse zwischen diesem steuerpflichtigen Dienstleistungsempfänger und einer Einrichtung, die gegebenenfalls als seine feste Niederlassung ermittelt werden könnte.
37 Im Übrigen dürfen, wie die Generalanwältin in den Nrn. 73 und 74 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, dem Dienstleistungserbringer nicht dadurch, dass von ihm verlangt wird, die vertraglichen Verhältnisse zwischen einer Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft zu prüfen, obwohl diese Informationen ihm grundsätzlich nicht zugänglich sind, Pflichten auferlegt werden, die den Steuerbehörden obliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Altic, C‑329/18, EU:C:2019:831, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 44 der Richtlinie 2006/112 sowie Art. 11 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 dahin auszulegen sind, dass der Schluss, dass eine Gesellschaft mit Sitz in einem Drittstaat eine feste Niederlassung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, von einem Dienstleistungserbringer nicht aus dem bloßen Umstand hergeleitet werden kann, dass diese Gesellschaft dort eine Tochtergesellschaft besitzt, und dass dieser Dienstleistungserbringer nicht verpflichtet ist, für die Zwecke einer solchen Beurteilung die vertraglichen Beziehungen zwischen den beiden Gesellschaften zu prüfen.
Kosten
39 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 44 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom geänderten Fassung sowie Art. 11 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112 sind dahin auszulegen, dass der Schluss, dass eine Gesellschaft mit Sitz in einem Drittstaat eine feste Niederlassung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, von einem Dienstleistungserbringer nicht aus dem bloßen Umstand hergeleitet werden kann, dass diese Gesellschaft dort eine Tochtergesellschaft besitzt, und dass dieser Dienstleistungserbringer nicht verpflichtet ist, für die Zwecke einer solchen Beurteilung die vertraglichen Beziehungen zwischen den beiden Gesellschaften zu prüfen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2020:350
Fundstelle(n):
YAAAH-48819