EuGH Urteil v. - C-458/18

Mutter-Tochter-Richtlinie nicht auf in Gibraltar gegründete Gesellschaften anwendbar

Leitsatz

Art. 2 Buchst. a Ziff. i und iii der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten in Verbindung mit deren Anlage I Teil A Buchst. ab sowie Teil B letzter Spiegelstrich sind dahin auszulegen, dass die in diesen Bestimmungen enthaltenen Begriffe „nach dem Recht des Vereinigten Königreichs gegründete Gesellschaften“ und „corporation tax im Vereinigten Königreich“ nicht die in Gibraltar gegründeten und dort körperschaftsteuerpflichtigen Gesellschaften erfassen.

Gesetze: EGV 2011/96 Art 2 Buchst a Nr i, EGV 2011/96 Anh I Teil A Buchst ab, EGV 2011/96 Art 2 Buchst a Nr iii, EGV 2011/96 Anh I Teil B

Instanzenzug:

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. a Ziff. i und iii der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2011, L 345, S. 8) und deren Anlage I Teil A Buchst. ab und Teil B letzter Spiegelstrich.

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „GVC Services (Bulgaria)“ EOOD mit Sitz in Bulgarien (im Folgenden: GVC) und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ – Sofia (Direktor der Direktion „Anfechtung und Steuer-/Sozialversicherungspraxis“ in Sofia, Bulgarien) (im Folgenden: Direktor) wegen eines Steuerprüfungsbescheids, mit dem Steuerschulden in Bezug auf Dividenden festgestellt wurden, die GVC für den Zeitraum vom bis zum an ihre Muttergesellschaft, die PGB Limited – Gibraltar mit Sitz in Gibraltar, ausgeschüttet und an diese ausgezahlt hatte.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Status von Gibraltar

3 Vorab ist festzustellen, dass für den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit, da er Steuerschulden betrifft, die für einen Zeitraum vor dem geschuldet werden, im Rahmen der vorliegenden Rechtssache das Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7) nicht zu berücksichtigen ist.

4 Gibraltar ist ein europäisches Hoheitsgebiet im Sinne von Art. 355 Abs. 3 AEUV, dessen auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat, nämlich das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, wahrnimmt und auf das die Bestimmungen der Verträge Anwendung finden.

5 Die Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und die Anpassungen der Verträge (ABl. 1972, L 73, S. 14, im Folgenden: Beitrittsakte von 1972) sieht jedoch vor, dass bestimmte Teile des Vertrags auf Gibraltar nicht anwendbar sind.

6 Art. 28 der Beitrittsakte von 1972 bestimmt:

„Die Rechtsakte der Organe der [Europäischen Union] betreffend die Erzeugnisse des Anhangs [I] des [AEU]-Vertrags und die Erzeugnisse, die bei der Einfuhr in die [Union] infolge der Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik einer Sonderregelung unterliegen, sowie die Rechtsakte betreffend die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer sind auf Gibraltar nicht anwendbar, sofern der Rat [der Europäischen Union] nicht einstimmig auf Vorschlag der [Europäischen] Kommission etwas anderes bestimmt.“

7 Nach Art. 29 der Beitrittsakte von 1972 in Verbindung mit deren Anhang I Abschnitt I Nr. 4 ist Gibraltar vom Zollgebiet der Union ausgeschlossen.

Richtlinie 2011/96

8 Die Erwägungsgründe 3 bis 6 und 8 der Richtlinie 2011/96 lauten:

„(3) Diese Richtlinie zielt darauf ab, Dividendenzahlungen und andere Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften von Quellensteuern zu befreien und die Doppelbesteuerung derartiger Einkünfte auf Ebene der Muttergesellschaft zu beseitigen.

(4) Zusammenschlüsse von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten können notwendig sein, um binnenmarktähnliche Verhältnisse in der Union zu schaffen und damit das Funktionieren eines solchen Binnenmarktes zu gewährleisten. Sie sollten nicht durch Beschränkungen, Benachteiligungen oder Verfälschungen, insbesondere aufgrund von steuerlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten, behindert werden. Demzufolge müssen wettbewerbsneutrale steuerliche Regelungen für diese Zusammenschlüsse geschaffen werden, um die Anpassung von Unternehmen an die Erfordernisse des Binnenmarktes, eine Erhöhung ihrer Produktivität und eine Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene zu ermöglichen.

(5) Derartige Zusammenschlüsse können zur Schaffung von aus Mutter- und Tochtergesellschaften bestehenden Unternehmensgruppen führen.

(6) Die die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten regelnden Steuerbestimmungen wiesen vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 90/435/EWG [des Rates vom über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 1990, L 225, S. 6)] erhebliche Unterschiede von einem Staat zum anderen auf und waren im Allgemeinen weniger günstig als die auf die Beziehung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften desselben Mitgliedstaats anwendbaren Bestimmungen. Die Zusammenarbeit von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten wurde auf diese Weise gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats benachteiligt. Diese Benachteiligung war durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems zu beseitigen, um Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Unionsebene zu erleichtern.

(8) Im Übrigen sollten zur Sicherung der steuerlichen Neutralität von der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft ausgeschüttete Gewinne vom Steuerabzug an der Quelle befreit werden.“

9 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2011/96 lautet:

„Jeder Mitgliedstaat wendet diese Richtlinie an

a) auf Gewinnausschüttungen, die Gesellschaften dieses Staates von Tochtergesellschaften eines anderen Mitgliedstaats zufließen;

b) auf Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften dieses Staates an Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten;

…“

10 Art. 2 Buchst. a der Richtlinie bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

a) ,Gesellschaft eines Mitgliedstaats‘ ist jede Gesellschaft,

i) die eine der in Anhang I Teil A aufgeführten Formen aufweist;

ii) die nach dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats in Bezug auf den steuerlichen Wohnsitz als in diesem Mitgliedstaat ansässig und aufgrund eines mit einem dritten Staat geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommens in Bezug auf den steuerlichen Wohnsitz nicht als außerhalb der Union ansässig betrachtet wird;

iii) die ferner ohne Wahlmöglichkeit einer der in Anhang I Teil B aufgeführten Steuern oder irgendeiner Steuer, die eine dieser Steuern ersetzt, unterliegt, ohne davon befreit zu sein.“

11 Art. 5 der Richtlinie sieht vor, dass „[d]ie von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne … vom Steuerabzug an der Quelle befreit [sind]“.

12 Anhang I Teil A der Richtlinie 2011/96 enthält die Liste der unter Art. 2 Buchst. a Ziff. i dieser Richtlinie fallenden Gesellschaften und nennt unter Buchst. ab die „nach dem Recht des Vereinigten Königreichs gegründeten Gesellschaften“.

13 Die Liste der unter Art. 2 Buchst. a Ziff. iii dieser Richtlinie fallenden Steuern findet sich in deren Anhang I Teil B, darunter gemäß dessen letztem Spiegelstrich auch die „corporation tax im Vereinigten Königreich“.

Bulgarisches Recht

14 Art. 194 Abs. 1 und 3 des Zakon za korporativnoto podohodno oblagane (Gesetz über die Körperschaftsteuer, im Folgenden: Körperschaftsteuergesetz) (DV Nr. 105 vom ) sieht vor:

„(1) Der Quellensteuer unterliegen Dividenden und Liquidationserlöse, die von inländischen juristischen Personen zugunsten folgender Personen ausgeschüttet (personifiziert) werden:

1. ausländische juristische Personen, …

(3) Abs. 1 findet keine Anwendung, wenn die Dividenden und Liquidationserlöse an folgende Personen oder Einrichtungen ausgeschüttet werden:

3. … eine ausländische juristische Person, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen [Union] oder in einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum [vom (ABl. 1994, L 1, S. 3)] steuerlich ansässig ist, mit Ausnahme der Fälle versteckter Gewinnausschüttung.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15 GVC ist eine Ein-Personen-GmbH bulgarischen Rechts, die Dienstleistungen im Bereich der Informationstechnologie erbringt. Bis zum befand sich ihr Kapital im Alleineigentum der PGB Limited – Gibraltar, einer in Gibraltar gegründeten Gesellschaft.

16 Im Zeitraum vom bis wurden von GVC Dividenden an ihre Muttergesellschaft PGB Limited – Gibraltar ausgeschüttet und ausgezahlt, ohne darauf in Bulgarien Steuer einzubehalten und abzuführen, da GVC der Ansicht war, dass ihre Muttergesellschaft nach Art. 194 Abs. 3 des Körperschaftsteuergesetzes als ausländische juristische Person angesehen werden könne, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union steuerlich ansässig sei.

17 Da die zuständige bulgarische Steuerbehörde aber der Auffassung war, dass im vorliegenden Fall auf die ausgeschütteten Dividenden Quellensteuer hätte abgeführt werden müssen, erließ sie am einen Steuerprüfungsbescheid, mit dem Quellensteuerschulden in Höhe von 930 529,54 Bulgarischen Lewa (BGN) (rund 476 000 Euro) gefordert wurden, wovon 669 690,32 BGN (rund 342 000 Euro) auf den Hauptbetrag und 260 839,22 BGN (rund 134 000 Euro) auf die Verzugszinsen entfielen. GVC focht diesen Bescheid auf dem Verwaltungsweg beim Direktor an, der ihn aber bestätigte. Daraufhin erhob GVC beim vorlegenden Gericht Aufhebungsklage gegen den bestätigten Bescheid.

18 GVC vertritt die Ansicht, dass auf Gibraltar, bei dem es sich um ein europäisches Hoheitsgebiet im Sinne von Art. 355 Abs. 3 AEUV handele, dessen auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat wahrnehme, Unionsrecht anwendbar sei und dass die Ausschüttung von Dividenden nicht unter die Ausschlusstatbestände der Art. 28 bis 30 der Beitrittsakte von 1972 falle. Die Muttergesellschaft erfülle insoweit die Voraussetzungen von Art. 2 der Richtlinie 2011/96, da sie einer im Vereinigten Königreich gegründeten Gesellschaft gleichgestellt werden könne und in Gibraltar der Körperschaftsteuer unterliege, die der im letzten Spiegelstrich von Anhang I Teil B der Richtlinie genannten „corporation tax im Vereinigten Königreich“ entspreche.

19 Dagegen macht der Direktor geltend, dass Anhang I der Richtlinie 2011/96 eine ausdrückliche und abschließende Auflistung sowohl der Gesellschaften (Teil A) als auch der Steuern (Teil B) enthalte, für die die Richtlinie gelte. Der Anwendungsbereich der Richtlinie sei in dieser abschließend festgelegt und könne daher nicht auf Gesellschaften ausgedehnt werden, die in Gibraltar gegründet worden und dort steuerpflichtig seien, weil es nicht zulässig sei, Rechtsvorschriften über die Steuerlast erweiternd auszulegen.

20 Da der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien) Zweifel hat, ob GVC als Tochtergesellschaft einer in Gibraltar eingetragenen und dort körperschaftsteuerpflichtigen Muttergesellschaft in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/96 fällt und daher von einer in Bulgarien an der Quelle erhobenen Steuer befreit sein müsse, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Ist Art. 2 Buchst. a Ziff. i der Richtlinie 2011/96 in Verbindung mit deren Anhang I Teil A Buchst. ab dahin auszulegen, dass der Begriff „nach dem Recht des Vereinigten Königreichs gegründete Gesellschaften“ auch die in Gibraltar gegründeten Gesellschaften erfasst?

  2. Ist Art. 2 Buchst. a Ziff. iii der Richtlinie 2011/96 in Verbindung mit deren Anhang I Teil B [letzter Spiegelstrich] dahin auszulegen, dass der Begriff „corporation tax im Vereinigten Königreich“ auch die in Gibraltar zu entrichtende Körperschaftsteuer erfasst?

Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

21 Die Regierung des Vereinigten Königreichs weist, ohne förmlich eine Einrede der Unzulässigkeit zu erheben, in ihren schriftlichen Erklärungen darauf hin, dass sie die Beantwortung der Vorlagefragen in Bezug auf den Ausgangsrechtsstreit nicht für entscheidungserheblich hält.

22 Im Hinblick auf den Status von Gibraltar nach dem Unionsrecht, wie er vom Gerichtshof bestätigt worden sei, erfülle PGB Limited – Gibraltar als in Gibraltar ansässige Gesellschaft bereits die Voraussetzung des Art. 194 Abs. 3 des Körperschaftsteuergesetzes, weil sie nämlich eine in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union steuerlich ansässige ausländische juristische Person sei. Folglich bedürfe es keiner Auslegung der Richtlinie 2011/96.

23 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Er kann die Entscheidung über die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom , I.G.I., C‑394/18, EU:C:2020:56, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24 Wie die Regierung des Vereinigten Königreichs selbst einräumt, handelt es sich bei den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen des nationalen Rechts gerade um Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie 2011/96.

25 Wie außerdem aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, muss das vorlegende Gericht im Hinblick auf die Entscheidung des Ausgangsverfahrens feststellen, ob PGB Limited – Gibraltar als in Gibraltar gegründete Gesellschaft in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/96 fällt, um zu rechtfertigen, dass GVC als deren Tochtergesellschaft nach Art. 5 der Richtlinie in Bulgarien vom Steuerabzug an der Quelle befreit ist.

26 Unter diesen Voraussetzungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die hier vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung der Richtlinie 2011/96 in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder ein Problem hypothetischer Natur betrifft, da diese Auslegung für die Entscheidung dieses Rechtsstreits erforderlich ist.

27 Somit ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zu den Vorlagefragen

28 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Buchst. a Ziff. i und iii der Richtlinie 2011/96 in Verbindung mit deren Anlage I Teil A Buchst. ab sowie Teil B letzter Spiegelstrich dahin auszulegen ist, dass die in diesen Bestimmungen enthaltenen Begriffe „nach dem Recht des Vereinigten Königreichs gegründete Gesellschaften“ und „corporation tax im Vereinigten Königreich“ in Gibraltar gegründete und dort körperschaftsteuerpflichtige Gesellschaften erfassen.

29 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Zeitraum, um den es im Ausgangsverfahren geht, sowohl von der Richtlinie 90/435 in der durch die Richtlinie 2006/98/EG des Rates vom (ABl. 2006, L 363, S. 129) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 90/435) als auch von der Richtlinie 2011/96, mit der Erstere aufgehoben und ersetzt worden ist, erfasst wird. Weil sich die einschlägigen Bestimmungen jedoch nicht geändert haben, genügt es vorliegend, die Vorlagefragen allein im Hinblick auf die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2011/96 zu beantworten.

30 Da Gibraltar im maßgeblichen Zeitraum ein europäisches Hoheitsgebiet im Sinne von Art. 355 Abs. 3 AEUV war, dessen auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat, nämlich das Vereinigte Königreich wahrnimmt, gilt dort gemäß Art. 355 Abs. 3 AEUV zwar grundsätzlich das Unionsrecht, jedoch vorbehaltlich der in der Beitrittsakte von 1972 ausdrücklich vorgesehenen Ausschlussregelungen (Urteil vom , Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑30/01, EU:C:2003:489, Rn. 47, Beschluss vom , Fisher, C‑192/16, EU:C:2017:762, Rn. 29, und Urteil vom , Buhagiar u. a., C‑267/16, EU:C:2018:26, Rn. 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

31 Die Richtlinie 2011/96 wurde auf der Grundlage von Art. 115 AEUV erlassen, der es dem Rat erlaubt, Richtlinien für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erlassen, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts auswirken. Gemäß ihren Erwägungsgründen 3 bis 6 zielt die Richtlinie darauf ab, Dividendenzahlungen und andere Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften von Quellensteuern zu befreien und die Doppelbesteuerung derartiger Einkünfte auf Ebene der Muttergesellschaft zu beseitigen, um Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Unionsebene zu erleichtern (vgl. in diesem Sinne in Bezug auf die Richtlinie 90/435 Urteil vom , Brussels Securities, C‑389/18, EU:C:2019:1132, Rn. 35 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

32 Wie der Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, fällt die Richtlinie 2011/96 eindeutig nicht unter einen der in den Art. 28 und 29 der Beitrittsakte von 1972 geregelten Ausnahmetatbestände.

33 Somit sind für die Frage, ob die in Gibraltar gegründeten und dort körperschaftsteuerpflichtigen Muttergesellschaften nach Art. 5 der Richtlinie 2011/96 die Befreiung der Gewinnausschüttungen ihrer in den Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften vom Steuerabzug an der Quelle in Anspruch nehmen können, diejenigen Bestimmungen der Richtlinie zu berücksichtigen, durch die deren sachlicher Anwendungsbereich umschrieben wird, nämlich die kumulativen Voraussetzungen des Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/96 in Verbindung mit deren Anhang I Teil A Buchst. ab sowie Teil B letzter Spiegelstrich.

34 Insoweit ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Bestimmungen der Richtlinie 90/435, die – wie bereits in Rn. 29 des vorliegenden Urteils festgestellt – im Wesentlichen den gleichen Regelungsgehalt wie die der Richtlinie 2011/96 haben, auch auf Letztere anzuwenden ist (Beschluss vom , GS, C‑440/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:437, Rn. 30). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zielt die Richtlinie 90/435 jedoch nicht darauf ab, ein gemeinsames Steuersystem für alle Gesellschaften der Mitgliedstaaten oder für alle Arten von Beteiligungen einzuführen (Urteile vom , Les Vergers du Vieux Tauves, C‑48/07, EU:C:2008:758, Rn. 49, und vom , Gaz de France – Berliner Investissement, C‑247/08, EU:C:2009:600, Rn. 36).

35 Folglich ist, wie vom Generalanwalt in Nr. 36 seiner Schlussanträge ausgeführt, die Möglichkeit, den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/96 im Wege der Analogie auch auf andere als die in deren Anhang I Teil A aufgeführten Gesellschaftsformen zu erstrecken, aus Gründen der Rechtssicherheit ausgeschlossen, da der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinie mittels einer die Gesellschaften abschließend aufzählenden Liste bestimmt wird.

36 Als Zweites ist zu betonen, dass die Richtlinie 2011/96 nach dem Wortlaut ihres Art. 2 Buchst. a in Verbindung mit ihrem Anhang I Teil A Buchst. ab sowie Teil B letzter Spiegelstrich für das Vereinigte Königreich nur auf „nach dem Recht des Vereinigten Königreichs gegründete Gesellschaften“ Anwendung findet, die der „corporation tax im Vereinigten Königreich“ unterliegen.

37 Diese Bestimmungen verweisen ausdrücklich auf das Recht des Vereinigten Königreichs. Sie sind somit gemäß dem für anwendbar erklärten nationalen Recht auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Bank Handlowy und Adamiak, C‑116/11, EU:C:2012:739, Rn. 50).

38 Allerdings hat die Regierung des Vereinigten Königreichs in ihren schriftlichen Erklärungen erläutert, dass nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats zu den nach dessen nationalem Recht gegründeten Gesellschaften nur diejenigen Gesellschaften zu zählen seien, die als im Vereinigten Königreich gegründet angesehen werden könnten; die in Gibraltar gegründeten Gesellschaften gehörten jedenfalls nicht dazu. Diese Ausführungen wurden von den anderen am Verfahren vor dem Gerichtshof Beteiligten nicht förmlich bestritten.

39 Außerdem hat die Regierung des Vereinigten Königreichs – ebenfalls unbestritten – erklärt, dass es sich bei der in Gibraltar erhobenen Steuer nach dem nationalen Recht nicht um eine „corporation tax im Vereinigten Königreich“ handele.

40 Gemäß den dem Gerichtshof vorliegenden Akten erfüllen folglich die in Gibraltar gegründeten Gesellschaften nicht die Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Richtlinie 2011/96 nach deren Art. 2 Buchst. a Ziff. i in Verbindung mit ihrem Anhang I Teil A Buchst. ab, und das Steuersystem von Gibraltar erfüllt nicht die Voraussetzung für die Anwendbarkeit nach Art. 2 Buchst. a Ziff. iii der Richtlinie in Verbindung mit deren Anhang I Teil B letzter Spiegelstrich.

41 Die vorstehenden Erwägungen gelten ungeachtet der Verpflichtung, zum für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt die Art. 49 und 63 AEUV zu beachten und gegebenenfalls zu prüfen, ob die Besteuerung der von einer bulgarischen Tochtergesellschaft an ihre in Gibraltar ansässige Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit oder den freien Kapitalverkehr, die für die in Gibraltar gegründeten Gesellschaften gelten (Beschluss vom , Fisher, C‑192/16, EU:C:2017:762, Rn. 26 und 27), eine Beschränkung darstellen und, sollte dies der Fall sein, ob eine solche Beschränkung gerechtfertigt ist.

42 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 2 Buchst. a Ziff. i und iii der Richtlinie 2011/96 in Verbindung mit deren Anlage I Teil A Buchst. ab sowie Teil B letzter Spiegelstrich dahin auszulegen ist, dass die in diesen Bestimmungen enthaltenen Begriffe „nach dem Recht des Vereinigten Königreichs gegründete Gesellschaften“ und „corporation tax im Vereinigten Königreich“ nicht die in Gibraltar gegründeten und dort körperschaftsteuerpflichtigen Gesellschaften erfassen.

Kosten

43 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Buchst. a Ziff. i und iii der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten in Verbindung mit deren Anlage I Teil A Buchst. ab sowie Teil B letzter Spiegelstrich sind dahin auszulegen, dass die in diesen Bestimmungen enthaltenen Begriffe „nach dem Recht des Vereinigten Königreichs gegründete Gesellschaften“ und „corporation tax im Vereinigten Königreich“ nicht die in Gibraltar gegründeten und dort körperschaftsteuerpflichtigen Gesellschaften erfassen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2020:266

Fundstelle(n):
FAAAH-48163