BVerwG Beschluss v. - 2 WDB 5/19

Voraussetzungen für eine Verteidigerbestellung

Leitsatz

Ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht etwa wegen der schwerwiegenden Folgen einer drohenden Disziplinarmaßnahme oder der besonderen Schwierigkeiten der Sach- und Rechtsfragen zwingend geboten, ist dem Wunsch des Betroffenen, sich selbst zu verteidigen, grundsätzlich Rechnung zu tragen.

Gesetze: § 90 Abs 1 S 2 WDO 2002, § 96 WDO 2002, § 139 Abs 1 S 1 WDO 2002, § 140 Abs 2 StPO, § 8 SG

Instanzenzug: Truppendienstgericht Süd Az: S 7 VL 35/19 Beschluss

Tatbestand

1Der frühere Soldat wendet sich gegen die Bestellung eines Pflichtverteidigers.

21. In dem zugrundeliegenden Disziplinarverfahren ist er angeschuldigt worden, mehrere mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht zu vereinbarende Äußerungen getätigt und dadurch schuldhaft gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2 SG ein Dienstvergehen begangen zu haben. Gegen ihn sei deshalb die Höchstmaßnahme zu verhängen.

32. Ihm wurde mit Beschluss des Vorsitzenden der 7. Kammer des Truppendienstgerichts ... vom ein Pflichtverteidiger in dem gerichtlichen Disziplinarverfahren ... bestellt (Beschluss). Zur Begründung heißt es im Beschluss, ob Äußerungen der angeschuldigten Art stattgefunden hätten, in welchem Zusammenhang dies geschehen sei und wie sie rechtlich zu beurteilen seien, begründe die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage und lasse die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich erscheinen.

43. Dem als Beschwerde gewerteten Einspruch des früheren Soldaten vom hat das Truppendienstgericht unter dem nicht abgeholfen. Zwar würden nicht die wirtschaftlichen Auswirkungen der im Raum stehenden Höchstmaßnahme die Bestellung eines Pflichtverteidigers gebieten, jedoch die schwierigen Sach- und Rechtsfragen.

54. Der frühere Soldat hat im Beschwerdeverfahren im Wesentlichen ausgeführt, erst wenn fünf von ihm bereits unter dem aufgeworfene Fragen beantwortet seien, könne überhaupt entschieden werden, ob eine Pflichtverteidigerbestellung sinnvoll sei. Als mündiger Bürger fühle er sich imstande, sich selbst zu vertreten. Einen Pflichtverteidiger werde er nicht in Anspruch nehmen und mit ihm auch nicht zusammenarbeiten. Er bitte die Wehrdisziplinaranwaltschaft darum, ihm seine Fragen aussagekräftig zu beantworten und die Anschuldigungsschrift auf ihn entlastende Tatbestandsmerkmale zu überprüfen.

6Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hält den Beschluss für rechtmäßig und verweist den früheren Soldaten auf die mündliche Verhandlung vor dem Truppendienstgericht, in der die von ihm aufgeworfenen Fragen erörtert würden. Der bestellte Pflichtverteidiger hat erklärt, von einer Stellungnahme zur Sache abzusehen.

Gründe

7Die nach § 114 Abs. 1 Satz 1 WDO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde ist begründet. Die Voraussetzungen für eine Verteidigerbestellung liegen nicht vor (vgl. 2 WDB 5.17 - juris Rn. 5 ff.).

81. Ob die Bestellung eines Verteidigers im Sinne von § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO geboten ist, ist - wie bei § 140 Abs. 2 StPO - im Lichte des Rechtsstaatsgebots in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung zu beurteilen. "Geboten" im Sinne von § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO ist sie insbesondere, wenn sie zum Schutz des Angeschuldigten erforderlich ist. Die Gewährleistung eines fairen Verfahrens kann aus in dem Verfahren, seinem Ablauf und Gegenstand liegenden Gründen, aber auch aus in der Person des Angeschuldigten liegenden Umständen - insbesondere einer (psychischen) Erkrankung oder einer Suizidgefahr ( 2 WD 6.14 - Buchholz 450.2 § 90 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 29) - und wegen der Auswirkungen der drohenden Sanktion auf den Angeschuldigten die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lassen ( 2 WD 6.14 - Buchholz 450.2 § 90 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 24 f. m.w.N.). Dazu gehört auch, dass ein Angeschuldigter die Kosten eines Verteidigers nicht aufzubringen vermag (vgl. - BVerfGE 46, 202 <210> zu § 140 StPO).

9a) Die Schwierigkeiten der Rechts- oder Sachlage gebieten die Beiordnung nicht.

10Die dem früheren Soldaten vorgeworfenen zwei Handlungen und die bemessungsrelevanten Tatsachen stellen einen überschaubaren Lebenssachverhalt dar, den der frühere Soldat aus eigenem Erleben kennt und über den er Auskunft geben kann und auch will. Komplexe Zeugenvernehmungen stehen nicht im Raum. Erstinstanzlich zu vernehmen werden zu dem in tatsächlicher Hinsicht umfassend streitigen Anschuldigungspunkt 2 voraussichtlich lediglich Hauptfeldwebel S. sowie Oberleutnant L. sein. Hinsichtlich des Anschuldigungspunktes 1 ist der objektive Sachverhalt unstreitig.

11Materiell-rechtliche Schwierigkeiten wirft weder die Würdigung des Geschehens als Dienstvergehen noch die Bemessung der tat- und schuldangemessenen Maßnahme auf. Die rechtlich zentrale Frage, ob der frühere Soldat der Bewegung der sogenannten "Reichsbürger" angehört, "die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen ... die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren ... " (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" – Staatsfeinde, Geschäftemacher, Verschwörungstheoretiker, Stand: Dezember 2018, S. 6), ist vom Truppendienstgericht nach der Beweiserhebung und der Würdigung der Aussagen des früheren Soldaten zu beantworten und insbesondere unter dem Gesichtspunkt des § 8 SG rechtlich zu würdigen. Höchstrichterliche Rechtsprechung sowohl zu dem von der Wehrdisziplinaranwaltschaft für einschlägig erachteten § 8 SG (vgl. 2 WD 26.11 - juris Rn. 49 und Beschluss vom - 2 WDB 2.19 - juris Rn. 25) als auch zu § 23 Abs. 2 Nr. 2 SG (vgl. 2 WDB 1.18 - juris Rn. 9 ff. m.w.N.) liegen vor, wobei die angeschuldigten Handlungen während einer Reserveübung begangen worden sind. Dabei wird vor allem zu ermitteln sein, ob der frühere Soldat die Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland sowie deren Rechtsordnung tatsächlich fundamental ablehnt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.) Verfassungsschutzbericht 2018, Seite 16) oder ob er nur punktuell und nicht exemplarisch die Legitimität eines staatlichen Einzelaktes - vorliegend eines Bußgeldbescheides - infrage stellt.

12Auch das Prozessrecht begründet keine besonderen Schwierigkeiten; dies gilt insbesondere für die Anwendung des § 96 Abs. 1 WDO.

13b) Dass der frühere Soldat das Verfahren offensiv betreibt und bereits im Vorfeld der mündlichen Verhandlung auf die Beantwortung von Fragen drängt, die erst auf der Grundlage einer Hauptverhandlung verbindlich geklärt werden können, lässt die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ebenfalls nicht notwendig erscheinen. Die darin zum Ausdruck kommende Unkenntnis der prozessualen Abläufe reicht als Beleg dafür, dass der frühere Soldat geistig nicht in der Lage wäre, sich selbst zu verteidigen, nicht aus. Dementsprechend erscheint eine Pflichtverteidigerbestellung für den früheren Soldaten, der über einen Realschulabschluss, eine Ausbildung zum Finanzwirt und einen Offiziersdienstgrad verfügt, zumindest derzeit unter Fürsorgegesichtspunkten nicht zwingend. Dies gilt vor allem, weil weder Hinweise auf eine Verhandlungsunfähigkeit oder psychische Erkrankung des früheren Soldaten noch darauf vorliegen, dass er finanziell außerstande wäre, einen Wahlverteidiger zu mandatieren. Das Erfordernis einer Verteidigerbestellung ist folglich auch nicht zur Gewährleistung der verfassungsrechtlich gebotenen weitgehenden Rechtsschutzgleichheit bemittelter und unbemittelter Angeschuldigter (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. 2 WDB 5.17 - Buchholz 450.2 § 90 WDO 2002 Nr. 4 Rn. 8) erforderlich. Zudem hat der frühere Soldat erklärt, im Fall der Beiordnung eines Pflichtverteidigers mit ihm nicht zusammen zu arbeiten. Der Wunsch, sich selbst zu verteidigen, ist aber ebenso wie das Fehlen eines Vertrauensverhältnisses zum Pflichtverteidiger bei der Ermessensentscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung zur berücksichtigen (vgl. - NJW 2001, 3695 Rn. 33 ff. unter Verweis auf Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK).

14c) Im Übrigen ist das Truppendienstgericht zutreffend davon ausgegangen, dass eine Beiordnung nicht deswegen geboten erscheint, weil die Auswirkungen der im Raum stehenden Sanktion für den früheren Soldaten besonders schwerwiegend wären. Besteht die Höchstmaßnahme in der Aberkennung eines Dienstgrades, ohne dass der Soldat dauernde Einkünfte oder sonstige Zahlungsansprüche gegen den Dienstherrn verliert, ist sein objektives Interesse am Verfahrensausgang deutlich geringer, weil es typischerweise an wirtschaftlichen Auswirkungen fehlt (vgl. 2 WD 6.14 - Buchholz 450.2 § 90 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 35). Der frühere Soldat ist vorliegend Reserveoffizier, so dass die Höchstmaßnahme - die Aberkennung des Dienstgrades - nicht zum Verlust der aktuellen wirtschaftlichen Existenzgrundlage führt und primär ideelle Interessen betrifft.

152. Die Kostenentscheidung folgt aus § 139 Abs. 1 Satz 1 WDO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2019:201219B2WDB5.19.0

Fundstelle(n):
CAAAH-42056