BGH Beschluss v. - XIII ZB 5/19

Haftverlängerung nach Selbstverletzung des vollziehbar Ausreisepflichtigen vor terminiertem Abschiebungsflug

Leitsatz

Hat es der Betroffene aufgrund seines Verhaltens in der Sicherungshaft zu vertreten, dass eine Abschiebung nicht durchgeführt werden konnte, kann die Haft jedenfalls ab diesem Zeitpunkt für die erneute Organisation einer Abschiebung über einen Gesamtzeitraum von drei Monaten hinaus aufrechterhalten werden, auch wenn in der ursprünglichen Haftanordnung mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG eine über drei Monate hinausgehende Haft nicht hätte angeordnet werden dürfen.

Gesetze: § 62 Abs 3 S 3 AufenthG

Instanzenzug: LG Paderborn Az: 5 T 266/17 Beschlussvorgehend AG Paderborn Az: 11 XIV (B) 155/17 Beschluss

Gründe

I.

1Der Betroffene, ein marokkanischer Staatsangehöriger, reiste im Dezember 2015 in das Bundesgebiet ein. Sein Asylantrag wurde mit Bescheid vom bestandskräftig abgewiesen, wobei ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung bestimmt wurde. Zugleich wurde ihm eine Ausreisefrist von einer Woche gesetzt und die Abschiebung nach Marokko angedroht. Der Betroffene reiste nicht aus. Er sprach erst am wieder bei der Ausländerbehörde vor. Dem dabei zur Besprechung der Ausreisemodalitäten bestimmten Termin am blieb er unentschuldigt fern.

2Gegen den Betroffenen wurden während seines Aufenthalts zwei staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren wegen Diebstahlsdelikten eingeleitet, wobei gegen ihn in einem Fall ein Strafbefehl erging. Die Staatsanwaltschaft hat in beiden Verfahren ihr Einvernehmen mit der Abschiebung erklärt.

3Aufgrund einer Anordnung der vorläufigen Freiheitsentziehung durch das Amtsgericht Krefeld vom wurde der Betroffene am an seiner Wohnanschrift festgenommen. Mit Beschluss vom ordnete das Amtsgericht gegen den Betroffenen Abschiebungshaft bis zum an. Seine Beschwerde wurde vom zurückgewiesen.

4Ein Flug zur Abschiebung war für den gebucht. Am gleichen Tag stellte der Betroffene einen Asylfolgeantrag, zu dem er ein ärztliches Attest vom April 2017 vorlegte. Obwohl dieser Folgeantrag noch am als unzulässig abgewiesen wurde, verzögerte sich die Abfahrt zum Flughaften Frankfurt um fast eine Stunde, so dass der Flug nicht mehr erreicht werden konnte.

5Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das die Verlängerung der Abschiebungshaft bis zum angeordnet. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene, der am nach Marokko abgeschoben worden ist, die Feststellung erreichen, dass er durch die Anordnung der Haftverlängerung für die Zeit vom 16. August bis zum in seinen Rechten verletzt worden ist. Die beteiligte Behörde beantragt die Zurückweisung der Rechtsbeschwerde.

II.

6Nach Ansicht des Beschwerdegerichts lagen die Voraussetzungen für die Anordnung der Haftverlängerung vor. Der Haftverlängerungsantrag sei formell nicht zu beanstanden. Er enthalte insbesondere hinreichende Angaben zur Identität und Ausreisepflicht des Betroffen sowie zur Erforderlichkeit und Dauer der Freiheitsentziehung. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Der Haftgrund des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG aF in Verbindung mit § 2 Abs. 14 Nr. 4 und 5 AufenthG aF liege vor. Zudem sei der Haftgrund des § 62 Abs. 3 Nr. 4 AufenthG aF erfüllt, weil sich der Betroffene in sonstiger Weise der Abschiebung entzogen habe, indem er Abschiebungen am 18. und durch seinen Widerstand verhindert habe. Die Anordnung von Verlängerungshaft bis zum sei verhältnismäßig, weil nach Scheitern der Abschiebung am ein neuer Flug mit Sicherheitsbegleitung habe gebucht werden müssen, für den ein zeitlicher Vorlauf von acht Wochen erforderlich gewesen sei.

III.

7Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte und auch im Übrigen (§ 71 FamFG) zulässige Rechtsbeschwerde hat für den Zeitraum vom 16. August bis zum Erfolg. Für die Haftverlängerung fehlte es an einem zulässigen Haftantrag der beteiligten Behörde. Dieser Mangel ist erst durch die Entscheidung des Beschwerdegerichts am geheilt worden.

81. Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein, sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen. Leerformeln und Textbausteine genügen nicht. Sind diese Anforderungen nicht erfüllt, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr., vgl. BGH, Beschlüsse vom - V ZB 128/16, FGPrax 2017, 185 Rn. 6 mwN, vom - V ZB 107/17, Asylmagazin 2018, 224 Rn. 3 und vom - V ZB 173/18, juris Rn. 5).

92. Diesen Anforderungen genügen die Ausführungen zur erforderlichen Dauer der Haft in dem Antrag nicht.

10a) Die Durchführbarkeit der Abschiebung muss mit konkretem Bezug auf das Land, in das der Betroffene abgeschoben werden soll, dargelegt werden. Anzugeben ist dazu, ob und innerhalb welchen Zeitraums Abschiebungen in das betreffende Land üblicherweise möglich sind, von welchen Voraussetzungen dies abhängt und ob diese Voraussetzungen im konkreten Fall vorliegen (st. Rspr., vgl. BGH, Asylmagazin 2018, 224 Rn. 3; Beschluss vom - V ZB 173/18, juris Rn. 7).

11b) Die Haftverlängerung um acht Wochen hat die beteiligte Behörde im Haftantrag vom allein mit einer Auskunft der Zentralstelle für Flugabschiebungen begründet, wonach die erteilte Flugbuchung mit einer Vorlaufzeit von acht Wochen erfolgen könne, da nach dem vom Betroffenen gezeigten Verhalten ein Flug mit Sicherheitsbegleitung gebucht werden solle. Die in den Antrag auf Haftverlängerung weiter eingefügten Ausführungen aus dem ursprünglichen Haftantrag der Ausländerbehörde Krefeld vom begründen dagegen nur die ursprüngliche Haftanordnung vom 11. Mai bis . Insbesondere war dort für die Beschaffung eines Passersatzpapiers ein Zeitraum bis zum angesetzt. Nachdem das erforderliche Dokument aus Marokko am 14. Juli eingegangen war, konnte dieser Zeitaufwand für die Haftverlängerung keine Rolle mehr spielen. Für die auf den Eingang des Passersatzes folgende Flugbuchung wurden im ursprünglichen Haftantrag nur sechs Wochen und nicht wie im Verlängerungsantrag acht Wochen Vorlaufzeit veranschlagt.

12c) Diese Begründung ist unzureichend. In einem Antrag auf Anordnung von Sicherungshaft ist zwar eine nähere Erläuterung des für die Buchung eines Fluges mit Sicherheitsbegleitung erforderlichen Zeitaufwands in aller Regel dann nicht geboten, wenn sich die Behörde auf eine Auskunft der zuständigen Stelle beruft, wonach dieser Zeitraum bis zu sechs Wochen beträgt. Ist ein längerer Zeitraum für die Organisation der Rückführung des Betroffenen erforderlich, bedarf es aber einer auf den konkreten Fall bezogenen Begründung, die dies nachvollziehbar erklärt und Ausführungen etwa zur Art des Fluges, Buchungslage der in Betracht kommenden Fluggesellschaften, Anzahl der Begleitpersonen und zur Personalsituation enthält (vgl. , InfAuslR 2019, 23 Rn. 11; Beschluss vom - V ZB 173/18, juris Rn. 8). Daran fehlt es hier.

133. Dieser Mangel ist aufgrund der zusätzlichen Angaben der beteiligten Behörde im Schriftsatz vom und der erforderlichen Anhörung des Betroffenen mit der Entscheidung des Beschwerdegerichts vom geheilt worden (vgl. , juris Rn. 8 f.; Beschluss vom - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384, Rn. 21 bis 24).

14a) Die beteiligte Behörde hat ihren Vortrag mit Schriftsatz vom ergänzt. Danach sei nach Scheitern der Abschiebung am umgehend die Flugbuchung mit Sicherheitsbegleitung eingeleitet worden. Mit Schreiben vom habe die ZFA Bielefeld Flugdaten für den mit Sicherheitsbegleitung bestätigt. Da die Fluggesellschaft kurzfristig Plätze gestrichen habe, sei eine Umbuchung auf den erforderlich geworden. Aufgrund sich selbst zugefügter Schnittverletzungen des Betroffenen und der Befürchtung, er könne eine Rasierklinge verschluckt haben, habe die Rückführungsmaßnahme am abgebrochen werden müssen. Eine weitere, für den geplante Abschiebung sei gescheitert, weil der Betroffene bereits bei seiner Abholung Griffe des Bestecks geschluckt gehabt habe und blutend und mit Krämpfen angetroffen worden sei.

15b) Damit hat die beteiligte Behörde die ursprüngliche, unzureichende Angabe zur erforderlichen Dauer der Haft hinreichend präzisiert und den Antrag auf Haftverlängerung im erforderlichen Umfang ergänzt. Aufgrund des vom Betroffenen eingeräumten Widerstands gegen die beiden Abschiebungsversuche am 18. und und der vorherigen, nicht von der beteiligten Behörde zu vertretenden Umbuchung des ersten dieser Flüge vom 11. auf den hat das Beschwerdegericht rechtsfehlerfrei angenommen, dass eine Verlängerung der Abschiebungshaft bis zum erforderlich war, um die Abschiebung des Betroffenen mit Sicherheitsbegleitung durch eine weitere Flugbuchung zu gewährleisten.

16c) Der Schriftsatz der Behörde vom wurde der Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen am , 12.00 Uhr, per Telefax vorab zur Kenntnisnahme übermittelt. Sie erklärte mit an diesem Tag um 17.05 Uhr beim Landgericht eingegangenem Telefax, den Anhörungstermin des Betroffenen am nicht wahrzunehmen. Der Betroffene ist vom Beschwerdegericht im Termin am zum ergänzenden Vortrag der Behörde angehört worden.

174. Die Haft durfte nach § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG auch für einen Zeitraum, der eine Haftdauer von drei Monaten übersteigt, aufrechterhalten werden.

18a) Frühere Haftzeiten sind in die Gesamtdauer der Sicherungshaft mit einzubeziehen, wenn diese auf die Durchsetzung derselben - auf einem einheitlichen Sachverhalt beruhenden - Ausreisepflicht zurückgehen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn zwischen den Haftabschnitten eine Zäsur eingetreten ist, etwa wenn zwischen den Haftzeiträumen eine Lücke von mehreren Jahren entstanden ist (vgl. , juris Rn. 13 mwN). Danach ist die Haftzeit hier ab dem zu berechnen, so dass mit Ablauf des eine Haftzeit von drei Monaten erreicht war und die Sicherungshaft mit dem angefochtenen Beschluss für einen Zeitraum, der eine Haftdauer von drei Monaten übersteigt, aufrechterhalten wurde.

19b) Auch wenn - wie hier - bereits mit dem die Haft anordnenden, rechtskräftigen Beschluss eine drei Monate überschreitende Haftzeit bis zum festgelegt worden ist, ist in einem späteren Verfahren über die Verlängerung der Haft dennoch zu prüfen, ob eine über drei Monate hinausgehende Haft aufrechterhalten werden durfte. Denn Entscheidungen über die Anordnung der Haft sind nur der formellen, nicht der materiellen Rechtskraft fähig (vgl. , InfAuslR 2010, 35 Rn. 19 mwN).

20c) Danach durfte die Haft für den hier nur noch interessierenden Zeitraum ab der Beschwerdeentscheidung aufrechterhalten werden.

21aa) Nach § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ist die Sicherungshaft unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Zu vertreten hat der Ausländer nicht nur solche Umstände, die für die Behebung des Abschiebungshindernisses von Bedeutung sein können, sondern auch Gründe, die - von ihm zurechenbar veranlasst - dazu geführt haben, dass ein Hindernis für seine Abschiebung überhaupt erst entstanden ist (vgl. , InfAuslR 2018, 339 Rn. 5 mwN).

22bb) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war die Aufrechterhaltung der Haft für den Zeitraum ab der Beschwerdeentscheidung rechtmäßig. Denn der Betroffene hatte es aufgrund seines Verhaltens (Schnittverletzungen; mögliches Verschlucken einer Rasierklinge; Verschlucken eines Besteckgriffs) zu vertreten, dass weder der Abschiebungsflug am 18. noch derjenige am durchgeführt werden konnten, so dass die Haft für die Organisation eines erneuten Abschiebungsfluges verlängert werden musste. Dabei ist unerheblich, dass in der ursprünglichen Haftanordnung vom mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG eine über drei Monate hinausgehende Haft nicht hätte angeordnet werden dürfen. Denn zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung war ein Vertretenmüssen im Sinne dieser Vorschrift gegeben, so dass die Haft jedenfalls ab diesem Zeitpunkt für einen drei Monate überschreitenden Zeitraum aufrechterhalten werden durfte.

235. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2019:121119BXIIIZB5.19.0

Fundstelle(n):
PAAAH-40209