BAG Urteil v. - 10 AZR 371/18

Beitragspflichten zu dem Sozialkassensystem der Bauwirtschaft -SokaSiG

Gesetze: § 7 SokaSiG, Anl 28 SokaSiG, Anl 32 SokaSiG, Art 9 Abs 3 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 19 Abs 1 GG

Instanzenzug: Az: 66 Ca 80810/17 Urteilvorgehend LArbG Berlin-Brandenburg Az: 2 Sa 1563/17 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über Beiträge zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft.

2Der Kläger ist die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft, eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien in der Rechtsform eines Vereins mit eigener Rechtspersönlichkeit kraft staatlicher Verleihung. Er ist tarifvertraglich zum Einzug der Beiträge zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft verpflichtet. Der Kläger begehrt von dem Beklagten auf der Grundlage der Tarifverträge für das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) in den Fassungen vom (VTV 2009), (VTV 2011), (VTV 2012), (VTV 2013 I) und (VTV 2013 II) Beiträge für gewerbliche Arbeitnehmer für die Monate Dezember 2011 bis Januar 2014. Er berechnete den Sozialkassenbeitrag anhand der von den einzelnen Arbeitnehmern konkret im jeweiligen Monat geleisteten Arbeitsstunden und legte nicht den tatsächlich gezahlten Stundenlohn, sondern den höheren tariflichen Mindestlohn zugrunde. Der Senat hat mit Beschlüssen vom und festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärungen des VTV in den hier maßgeblichen Fassungen unwirksam sind (- 10 ABR 33/15 - BAGE 156, 213; - 10 ABR 48/15 - BAGE 156, 289; - 10 ABR 34/15 -; - 10 ABR 43/15 -).

3Der keinem der tarifvertragsschließenden Verbände angehörende Beklagte unterhielt bis zur Einstellung seines Betriebs Ende Januar 2014 einen Baubetrieb, in dem arbeitszeitlich überwiegend ua. Maurerarbeiten, Verputzarbeiten sowie Stemm- und Schachtarbeiten und andere bauliche Leistungen erbracht wurden.

4Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Beklagte sei verpflichtet, am Sozialkassenverfahren der Bauwirtschaft teilzunehmen. Er hat seine Ansprüche zunächst auf die Allgemeinverbindlicherklärungen der jeweiligen Verfahrenstarifverträge gestützt. Bereits im Verlauf des ersten Rechtszugs hat er sich jedoch auch auf das am in Kraft getretene SokaSiG berufen.

5Der Kläger hat zuletzt beantragt,

6Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Nach seiner Auffassung verletzt § 7 SokaSiG das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von rückwirkenden Gesetzen nicht in unzulässiger Weise belastet zu werden. Beim SokaSiG handele es sich im Übrigen um ein unzulässiges Einzelfallgesetz iSv. Art. 19 Abs. 1 GG. Das SokaSiG sei auch nicht notwendig, um ein bedeutendes soziales Sicherungssystem aufrechtzuerhalten. Das Gesetz betreffe nur rund 2 % aller Arbeitnehmer. Der Gesetzgeber regele kein gesellschaftlich relevantes Problem.

7Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte weiterhin das Ziel, dass die Klage abgewiesen wird.

Gründe

8Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Beklagten zu Recht zurückgewiesen. Die Beitragsklage ist zulässig und begründet.

9I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist der Antrag hinreichend bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die Zusammensetzung der Beitragsforderungen ergibt sich aufgeschlüsselt nach Monaten aus dem Schriftsatz des Klägers vom iVm. der dort konkret in Bezug genommenen Anlage. Die Bezugnahme auf Anlagen ersetzt zwar grundsätzlich keinen Sachvortrag ( - Rn. 40). Anlagen können jedoch dazu dienen, schriftsätzlichen Vortrag zu erläutern und zu belegen ( - Rn. 14). Die nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO gebotene Individualisierung der Klagegründe kann auch durch eine konkrete Bezugnahme auf beigefügte Anlagen erfolgen ( - Rn. 19).

10II. Die Klage ist begründet.

111. Der Kläger hat Anspruch auf die geltend gemachten Beiträge für gewerbliche Arbeitnehmer aus § 7 Abs. 3 bis Abs. 7 iVm. Anlagen 28 bis 32 SokaSiG. Die Anlagen 28 bis 32 enthalten den vollständigen Text der Verfahrenstarifverträge in den im Streitzeitraum geltenden Fassungen (vgl. den Anlageband zum BGBl. I Nr. 29 vom S. 283 bis 350). Die Beitragspflicht des Beklagten folgt für die Zeit vom bis aus § 1 Abs. 1, Abs. 2 Abschn. II und Abschn. V, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 iVm. § 18 Abs. 1 Satz 1, § 21 Abs. 1 Satz 1 VTV 2009, für die Zeit vom bis aus § 1 Abs. 1, Abs. 2 Abschn. II und Abschn. V, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 iVm. § 18 Abs. 1 Satz 1, § 21 Abs. 1 Satz 1 VTV 2011 und für die Zeit vom bis aus § 1 Abs. 1, Abs. 2 Abschn. II und Abschn. V, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 iVm. § 18 Abs. 1 Satz 1, § 21 Abs. 1 Satz 1 VTV 2012. Für die Zeit vom bis ergibt sich die Beitragspflicht des Beklagten aus § 1 Abs. 1, Abs. 2 Abschn. II und Abschn. V, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 iVm. § 15 Abs. 1 Satz 1, § 18 Abs. 1 Satz 1 VTV 2013 I und für die Zeit vom bis aus § 1 Abs. 1, Abs. 2 Abschn. II und Abschn. V, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 iVm. § 15 Abs. 1 Satz 1, § 18 Abs. 1 Satz 1 VTV 2013 II.

12a) Der in Sachsen-Anhalt gelegene Betrieb des Beklagten unterfällt nach § 1 Abs. 1 der Verfahrenstarifverträge ihrem räumlichen Geltungsbereich. Die bei dem Beklagten beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer werden nach § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Verfahrenstarifverträge von ihrem persönlichen Geltungsbereich erfasst.

13b) Der betriebliche Geltungsbereich der Verfahrenstarifverträge ist eröffnet. Nach den Feststellungen in den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils, auf die das Landesarbeitsgericht Bezug genommen hat, unterhielt der Beklagte im Streitzeitraum einen Baubetrieb. In ihm wurden arbeitszeitlich überwiegend Maurerarbeiten, Verputzarbeiten, Stemm- und Schachtarbeiten, Abbrucharbeiten, Fliesenverlegearbeiten, Tiefbauarbeiten (Erdaushub), Pflasterarbeiten, Isolierarbeiten (Dämmarbeiten gegen Wärme, Kälte, Feuchtigkeit), Betonarbeiten und der Einbau von Baufertigteilen (Fenster und Türen) geleistet. Diese Tätigkeiten fallen unter § 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 5, Nr. 9, Nr. 10, Nr. 15, Nr. 23, Nr. 26, Nr. 29, Nr. 34, Nr. 36 und Nr. 37 der Verfahrenstarifverträge. Daneben wurden Malerarbeiten durchgeführt, die als bauliche Leistungen von § 1 Abs. 2 Abschn. II der Verfahrenstarifverträge erfasst werden. Ein vom betrieblichen Anwendungsbereich der Verfahrenstarifverträge ausgenommener Betrieb des Maler- und Lackiererhandwerks iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. VII Nr. 6 der Verfahrenstarifverträge liegt schon deswegen nicht vor, weil nicht arbeitszeitlich überwiegend Malerarbeiten erbracht wurden (vgl.  - Rn. 30 mwN).

14c) Die vom Kläger für die einzelnen Kalendermonate jeweils in Ansatz gebrachten Beitragssätze entsprechen den tariflichen Bestimmungen (vgl. § 18 Abs. 1 Satz 1 VTV 2009, VTV 2011 und VTV 2012 bzw. § 15 Abs. 1 Satz 1 VTV 2013 I und VTV 2013 II).

15d) Der Kläger ist berechtigt, die geschuldeten Beiträge nicht nach den tatsächlich gezahlten Bruttolöhnen, sondern anhand der höheren tariflichen Mindestlöhne zu berechnen ( - Rn. 27). Die Beiträge sind für Arbeitnehmer, die dem deutschen Lohnsteuerrecht unterliegen, nach dem Bruttolohn zu berechnen, der für die Lohnsteuer zugrunde zu legen und in die Lohnsteuerbescheinigung einzutragen ist (§ 18 Abs. 4 Buchst. a VTV 2009, VTV 2011 und VTV 2012 sowie § 15 Abs. 4 Buchst. a VTV 2013 I und VTV 2013 II). Darunter ist der vom Bauarbeitgeber geschuldete, nicht der geringere tatsächlich gezahlte Bruttoarbeitslohn zu verstehen (vgl.  - Rn. 25).

162. Gegen die Geltungserstreckung der Verfahrenstarifverträge auf den nicht originär tarifgebundenen Beklagten durch § 7 Abs. 3 bis Abs. 7 iVm. Anlagen 28 bis 32 SokaSiG bestehen aus Sicht des Senats keine verfassungsrechtlichen Bedenken ( - Rn. 20 ff.; - 10 AZR 549/18 - Rn. 84 ff.; - 10 AZR 550/18 - Rn. 23 ff.; - 10 AZR 498/17 - Rn. 39 ff.; - 10 AZR 499/17 - Rn. 81 ff.; - 10 AZR 559/17 - Rn. 29 ff.; - 10 AZR 512/17 - Rn. 32 ff.; - 10 AZR 121/18 - Rn. 42 ff., BAGE 164, 201).

17a) § 7 SokaSiG ist entgegen der Auffassung des Beklagten mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar ( - Rn. 21 mwN).

18aa) Etwaige Eingriffe in die Tarifautonomie wären jedenfalls gerechtfertigt. Sie erwiesen sich als verhältnismäßig. Dem Gesetzgeber steht ein Prognose- und Beurteilungsspielraum zu. Nach Auffassung des Senats hat der Gesetzgeber mit den Erwägungen, die dem SokaSiG zugrunde liegen, den ihm eröffneten Spielraum nicht überschritten ( - Rn. 41 mwN).

19bb) Der Beklagte kann sich insbesondere nicht mit Erfolg darauf berufen, § 7 SokaSiG sei nicht erforderlich gewesen, weil die Vorschrift nicht notwendig gewesen sei, um ein bedeutendes soziales Sicherungssystem aufrechtzuerhalten, und nur eine vergleichsweise geringe Zahl von Arbeitnehmern betroffen sei. Der Beurteilungs- und Prognosespielraum umfasst auch die Einschätzung, ob ein Gesetz erforderlich ist (vgl. , 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16 - Rn. 162, BVerfGE 146, 71;  - Rn. 40). Die Entscheidung des Gesetzgebers, den Fortbestand der Sozialkassenverfahren der Bauwirtschaft zu sichern, hält sich in den Grenzen, die ihm für die Beurteilung der Erforderlichkeit eröffnet sind.

20b) § 7 SokaSiG verletzt nach Auffassung des Senats nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von rückwirkenden Gesetzen nicht in unzulässiger Weise belastet zu werden ( - Rn. 23 ff. mwN). Der gegenteiligen Ansicht des Beklagten ist nicht zuzustimmen.

21aa) Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Vortrag des Beklagten, er habe nicht erkannt, dass die Tarifverträge der Bauwirtschaft auf ihn anwendbar seien. Ihm könne daher nicht vorgehalten werden, dass er keinen Vertrauensschutz genieße, weil er jahrelang den Verfahrenstarifverträgen der Bauwirtschaft unterlegen sei und Sozialkassenbeiträge gezahlt habe. Die subjektive Sicht des Beklagten ist nicht maßgebend. Für die Frage, ob mit einer rückwirkenden Änderung der Rechtslage zu rechnen war, ist von Bedeutung, ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet war, ein Vertrauen der betroffenen Personengruppe auf ihren Fortbestand zu begründen ( - Rn. 64, BVerfGE 135, 1;  - Rn. 47).

22bb) Der Beklagte beruft sich ohne Erfolg darauf, die „Ersetzung“ der unwirksamen Allgemeinverbindlicherklärung durch eine gesetzliche Regelung sei nicht vorhersehbar gewesen. Dem Gesetzgeber steht die Wahl einer anderen Rechtsform als der in § 5 TVG geregelten Allgemeinverbindlicherklärung für die Erstreckung eines Tarifvertrags auf Außenseiter frei. Die Rechtsform ändert nichts an Inhalt und Ergebnis der Erwägungen zu der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Ein Vertrauen darauf, nur aufgrund einer wirksamen Allgemeinverbindlicherklärung in Anspruch genommen zu werden, ist nicht schutzwürdig ( - Rn. 47 mwN).

23c) Nach Auffassung des Senats ist § 7 SokaSiG kein nach Art. 19 Abs. 1 GG unzulässiges Einzelfallgesetz. Die Bestimmung greift nicht aus einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle einen einzelnen Fall oder eine bestimmte Gruppe heraus ( - Rn. 64; - 10 AZR 121/18 - Rn. 105 ff., BAGE 164, 201).

24III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2019:301019.U.10AZR371.18.0

Fundstelle(n):
DStR 2020 S. 12 Nr. 8
CAAAH-39280