Online-Nachricht - Dienstag, 19.11.2019

Verfahrensrecht | Unzureichende Sachverhaltsaufklärung als Ermessensfehler bei der Ablehnung einer Stundung (FG)

Die Ablehnung einer Stundung ist ermessensfehlerhaft, wenn die Behörde den ihrer Ermessensentscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt nicht einwandfrei und erschöpfend ermittelt hat. Das ist insbesondere der Fall, wenn entscheidungserhebliche Akten nicht beigezogen und ausgewertet wurden ().

Sachverhalt: Die Klägerin musste aufgrund eines bestandskräftigen Bescheids Kindergeld in Höhe von 3.680 € zurückzahlen. Unter Darlegung ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beantragte sie beim Inkasso-Service der Agentur für Arbeit (Beklagte) die Stundung der Forderung. Die Beklagte bat daraufhin die Familienkasse um konkrete Angaben zur Entstehung der Rückforderung. Diese übersandte den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid sowie die Einspruchsentscheidung und teilte mit, die Rückforderung sei durch die fehlende Mitwirkung der Klägerin entstanden, die trotz Aufforderung keine Nachweise vorgelegt habe.

Auf dieser Tatsachengrundlage lehnte die Beklagte den Stundungsantrag ab. Es läge keine Stundungswürdigkeit vor, da die Rückforderung aufgrund der Verletzung der Mitwirkungspflicht der Klägerin entstanden sei. Auf die Stundungsbedürftigkeit der Klägerin müsse daher nicht weiter eingegangen werden.

Das FG hebt die Ablehnungsentscheidung auf und verweist an die Beklagte zurück:

  • Die Entscheidung über die Gewährung einer Stundung (§ 222 AO) ist eine Ermessensentscheidung, die vom Gericht lediglich daraufhin überprüft werden kann, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 102 S. 1 FGO).

  • Das Gericht darf bzw. muss auch die Tatsachenfeststellung und die Beweiswürdigung der Behörde überprüfen; denn die Rechtsverletzung kann auch in einer unzureichenden Feststellung oder Würdigung der bedeutsamen Tatsachen liegen.

  • Eine fehlerfreie Ermessensausübung setzt voraus, dass die Behörde den entscheidungserheblichen Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt hat. Zu einer diesbezüglich erforderlichen vollständigen Ermittlung des Sachverhalts gehöre zumindest die Auswertung des gesamten Akteninhalts, ggf. einschließlich beigezogener oder beizuziehender Akten.

  • Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Überprüfung einer Ermessensentscheidung durch das Gericht ist grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung.

  • Die Beklagte hat den ihrer Ermessensentscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt nicht einwandfrei und erschöpfend ermittelt. Sie hat die Akten der für die Kindergeldfestsetzung zuständigen Familienkasse erst im Klageverfahren angefordert.

  • Im Zeitpunkt der Entscheidung über den Stundungsantrag und bei Erlass der Einspruchsentscheidung war ihr der Sachverhalt nur partiell bekannt. Die Beklagte durfte sich nicht auf die äußerst knapp gehaltene Auskunft der Familienkasse verlassen. Sie hätte sich vor ihrer Entscheidung anhand der vollständigen Kindergeldakte aus dem Festsetzungsverfahren selbst ein Bild über den genauen Ablauf des Verfahrens machen müssen, der zur Aufhebung und Rückforderung des Kindergeldes geführt habe. In diesem Fall hätte die Beklagte feststellen können, dass es zumindest zweifelhaft sei, ob in dem Verhalten der Klägerin tatsächlich eine so grobe Pflichtverletzung liege, die zu einer Ablehnung ihrer Stundungswürdigkeit berechtige.

  • Im Ergebnis ist die angefochtene Ablehnung der Stundung ermessensfehlerhaft und somit rechtswidrig.

Hinweis:

Das FG Baden-Württemberg hat sich in einem weiteren Urteil mit einer ähnlichen Thematik beschäftigt (; Veröffentlichung steht noch aus).

Quelle: sowie FG Baden-Württemberg, Newsletter 4/2019; NWB Datenbank (ImA)

Fundstelle(n):
NWB JAAAH-35212