BAG Urteil v. - 10 AZR 300/18

Sonderzahlung - tarifvertragliche Stichtagsklausel

Gesetze: § 310 Abs 4 S 1 BGB, § 310 Abs 4 S 3 BGB, § 307 Abs 3 S 1 BGB, Art 3 Abs 1 GG, Art 9 Abs 3 GG, Art 12 Abs 1 GG, § 622 Abs 6 BGB, § 1 TVG

Instanzenzug: Az: 25 Ca 179/17 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Az: 15 Sa 44/17 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über eine tarifliche Sonderzuwendung für das Jahr 2016.

2Der Kläger war seit dem bei der Beklagten beschäftigt. Das nach dem Arbeitsvertrag bis zum befristete Arbeitsverhältnis endete vor Ablauf der Befristung aufgrund einer Eigenkündigung des Klägers vom zum . Der Betriebsrat hatte dem Kläger vor der Erklärung der Eigenkündigung mitgeteilt, dass das Arbeitsverhältnis nicht über den hinaus fortgesetzt werden würde. Die Eigenkündigung sprach der Kläger aus, um eine neue Stelle bei einem anderen Arbeitgeber antreten zu können. Nach § 14 Abs. 1 des Arbeitsvertrags waren auf das Arbeitsverhältnis die Tarifverträge anzuwenden, die der Arbeitgeber selbst abgeschlossen hatte oder an die er kraft Mitgliedschaft in einem Verband gebunden war. Das waren die im Tarifbezirk Baden-Württemberg geltenden Bundestarifverträge sowie die regionalen Tarifverträge für die chemische Industrie.

3Der Kläger hatte nach § 3 Buchst. a des Arbeitsvertrags Anspruch auf eine Jahresleistung entsprechend den Regeln des zwischen dem Bundesarbeitgeberverband Chemie e. V. und der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie abgeschlossenen Tarifvertrags über Einmalzahlungen und Altersvorsorge vom in der Fassung vom (TEA). Dieser lautet auszugsweise:

4Nach § 6 Nr. 1 TEA war die Jahresleistung bis spätestens 30. November des jeweiligen Kalenderjahres auszuzahlen.

5Der Kläger hätte eine tarifliche Jahresleistung für das Jahr 2016 iHv. 140 % eines tariflichen Monatsentgelts erhalten, wenn das Arbeitsverhältnis fortbestanden hätte. Aufgrund seiner Eigenkündigung zahlte die Beklagte nach § 4 Abs. 1 TEA keine Jahresleistung an den Kläger.

6Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Stichtagsregelung des § 4 Abs. 1 TEA, nach der ein Anspruch auf die tarifliche Jahresleistung ein ungekündigtes Arbeitsverhältnis am 31. Dezember des jeweiligen Kalenderjahres voraussetzt, sei unwirksam. Die tarifliche Jahresleistung sei nicht nur eine Belohnung für vergangene und zukünftige Betriebstreue, sondern auch eine zusätzliche - bereits verdiente - Vergütung, die ihm unter Verstoß gegen § 622 Abs. 6 BGB wieder entzogen werde. Durch diese Regelung verletzten die Tarifvertragsparteien auch Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 GG. Jedenfalls dann, wenn ein Arbeitnehmer der Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund einer Befristung zuvorkommen wolle, müsse er das Arbeitsverhältnis ohne finanzielle Nachteile kündigen können.

7Der Kläger hat beantragt,

8Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat gemeint, die Stichtagsregelung in § 4 Abs. 1 TEA verstoße nicht gegen zwingendes Recht. Vielmehr bilde sie einen zulässigen Anreiz für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses. Die Tarifvertragsparteien hätten den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum nicht überschritten.

9Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Leistungsbegehren weiter.

Gründe

10I. Die Revision des Klägers ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine tarifliche Jahresleistung für das Kalenderjahr 2016.

111. Dem Kläger steht wegen § 4 Abs. 1 TEA keine Sonderzahlung für das Jahr 2016 zu, weil das Arbeitsverhältnis aufgrund seiner Eigenkündigung vom am Stichtag des nicht ungekündigt bestand.

122. Die tarifliche Stichtagsregelung des § 4 Abs. 1 TEA ist wirksam. Sie ist nicht am Maßstab der §§ 305 ff. BGB zu messen. Die Regelung verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 oder Art. 12 Abs. 1 GG. § 622 Abs. 6 BGB ist ebenfalls nicht verletzt.

13a) Die arbeitsvertraglich in Bezug genommene Stichtagsregelung des § 4 Abs. 1 TEA unterliegt keiner AGB-Kontrolle.

14aa) Tarifverträge sind aufgrund der Bereichsausnahme in § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB von einer AGB-Kontrolle ausgenommen. Auch eine Inhaltskontrolle von arbeitsvertraglich insgesamt in Bezug genommenen Tarifverträgen erfolgt nicht, weil sie nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB nur stattfindet, wenn von Rechtsvorschriften abgewichen wird. Tarifverträge stehen nach § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB Rechtsvorschriften iSv. § 307 Abs. 3 BGB gleich. Diese Grundsätze gelten unabhängig davon, aufgrund welcher Regelungstechnik der betreffende Tarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden ist. Voraussetzung ist, dass der Tarifvertrag das Arbeitsverhältnis in seinem räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich erfasst ( - Rn. 28 f. mwN, BAGE 163, 144).

15bb) Daher sind §§ 305 ff. BGB hier nicht anzuwenden. Die zu prüfende Stichtagsregelung ist nicht im Arbeitsvertrag geregelt, sondern in einem arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Tarifvertrag. Der Arbeitsvertrag verweist nicht lediglich auf einzelne Vorschriften oder Teilkomplexe des TEA, sondern auf den gesamten Tarifvertrag. Für die Gesamtheit der Regelungen eines Tarifvertrags ist zu vermuten, dass die divergierenden Interessen angemessen ausgeglichen werden. Deswegen ist jedenfalls für die Globalverweisung auf einen gesamten Tarifvertrag anerkannt, dass sie nach § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB privilegiert ist (vgl.  - Rn. 24). Nach § 14 Abs. 1 des Arbeitsvertrags sind die für das Unternehmen, den Betrieb oder Betriebsteil des Arbeitgebers anzuwendenden Tarifverträge in ihrer jeweils gültigen Fassung anzuwenden, die der Arbeitgeber selbst abgeschlossen hat oder an die er kraft Mitgliedschaft in einem Verband gebunden ist. Das Arbeitsverhältnis der Parteien fällt in den räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich des in Bezug genommenen TEA.

16b) Die Stichtagsregelung des § 4 Abs. 1 TEA verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 oder Art. 12 Abs. 1 GG. Das hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt. Die Stichtagsregelung des § 4 Abs. 1 TEA, die den Anspruch auf eine Sonderzahlung an den ungekündigten Bestand des Arbeitsverhältnisses am Ende des Bezugszeitraums knüpft, entspricht den Anforderungen an die inhaltliche Ausgestaltung tarifvertraglicher Regelungen, die sich aus der Schutzpflichtfunktion von Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG ergeben.

17aa) Die Tarifvertragsparteien sind nicht unmittelbar an Grundrechte gebunden, wenn sie tarifliche Normen setzen ( - Rn. 28; - 6 AZR 129/03 - zu B II 1 der Gründe, BAGE 111, 8; Dieterich FS Schaub 1998 S. 117, 120 ff.). Mit der kollektiv ausgeübten privatautonomen Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge ist eine unmittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien nicht zu vereinbaren. Sie führte zu einer umfassenden Überprüfung tarifvertraglicher Regelungen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit und damit zu einer „Tarifzensur“ durch die Arbeitsgerichte ( - Rn. 29; ErfK/Schmidt 19. Aufl. Einl. GG Rn. 47).

18bb) Die Grundrechtsgewährung ist jedoch nicht auf die bloße Abwehr staatlicher Eingriffe beschränkt, sondern verpflichtet darüber hinaus den Staat dazu, die Rechtsordnung in einer Weise zu gestalten, dass die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen wirksam werden können. Den Staat trifft die Schutzpflicht, einer Grundrechtsverletzung durch andere Grundrechtsträger entgegenzuwirken. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte begrenzt die Gestaltungsmacht der Tarifvertragsparteien (vgl.  - Rn. 29; - 6 AZR 129/03 - zu B II 2 c der Gründe, BAGE 111, 8; kritisch dazu Jacobs/Frieling SR 2019, 108, 110 ff.). Dementsprechend verpflichtet die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte die Rechtsprechung dazu, solchen Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheitswidrigen Differenzierungen führen oder die unangemessene Beschränkung eines grundrechtlichen Freiheitsrechts zur Folge haben ( - aaO).

19cc) Tarifvertragsparteien steht als selbstständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung jedoch aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu, über den Arbeitsvertrags- und Betriebsparteien nicht in gleichem Maß verfügen. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Darüber hinaus verfügen sie über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung ( - Rn. 36, BAGE 163, 144; - 4 AZR 684/12 - Rn. 31, BAGE 153, 348). Die Gerichte dürfen nicht eigene Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle von Bewertungen der zuständigen Verbände setzen (ErfK/Schmidt 19. Aufl. Einl. GG Rn. 55). Die Tarifvertragsparteien sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht ( - aaO; - 10 AZR 34/17 - Rn. 43, BAGE 162, 230).

20dd) Ausgehend von diesem aus der Schutzpflichtfunktion entwickelten zurückgenommenen Prüfungsmaßstab hält sich die Stichtagsregelung des Art. 4 Abs. 1 TEA innerhalb der den Tarifvertragsparteien gesetzten Grenzen aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG. Sie knüpft den Anspruch auf die tarifvertragliche Sonderzahlung zulässigerweise an den ungekündigten Bestand des Arbeitsverhältnisses am Ende des Bezugszeitraums.

21(1) Die tarifvertragliche Regelung kann ohne Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG Arbeitnehmer vom Anspruch auf eine Sonderzahlung ausnehmen, die bis zum 31. Dezember des jeweiligen Jahres eine Eigenkündigung ihres Arbeitsverhältnisses erklärt haben. Die Differenzierung ist durch sachliche Gründe gerechtfertigt, die sich am Zweck der Stichtagsregelung orientieren.

22(a) Die in §§ 3 ff. TEA geregelte Jahresleistung soll sowohl erbrachte Arbeitsleistung vergüten als auch vergangene und zukünftige Betriebstreue belohnen. Der Zweck einer tariflichen Leistung ist im Weg der Auslegung der Tarifnorm zu ermitteln. Er ergibt sich insbesondere aus den in der Regelung selbst normierten Voraussetzungen sowie den Ausschluss- und Kürzungstatbeständen, die die Tarifvertragsparteien im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums festgelegt haben ( - Rn. 17 mwN).

23(aa) Danach ist davon auszugehen, dass mit der tariflichen Jahresleistung einerseits die im Bezugszeitraum erbrachte Arbeitsleistung zusätzlich vergütet werden soll. Das folgt aus § 5 Nr. 1 TEA, wonach Teilzeitbeschäftigten der Anspruch nur pro rata temporis zusteht (vgl.  - Rn. 34). Der Entgeltcharakter der Sonderzahlung kommt darüber hinaus in den Regelungen des § 5 Nr. 2, Nr. 3 und Nr. 6 TEA zum Ausdruck, nach denen ein zeitanteiliger Anspruch entsprechend der zurückgelegten Dauer des Arbeitsverhältnisses oder der Beschäftigung im jeweiligen Kalenderjahr besteht (vgl.  - Rn. 21, BAGE 158, 376).

24(bb) Andererseits belohnt die Jahresleistung auch in der Vergangenheit erbrachte Betriebstreue. Dies ergibt sich daraus, dass ein Anspruch im Eintrittsjahr nur dann besteht, wenn das Arbeitsverhältnis vor dem 1. Oktober des Kalenderjahres begonnen hat, § 5 Nr. 2 TEA (vgl.  - Rn. 26, BAGE 163, 144). Endet das Arbeitsverhältnis durch Renteneintritt oder Tod, besteht ein Anspruch auf eine ungekürzte Jahresleistung nach § 5 Nr. 4 und Nr. 5 TEA, wenn das Arbeitsverhältnis im betreffenden Kalenderjahr länger als bzw. mindestens drei Monate bestanden hat. Auch diese Anspruchsvoraussetzung verdeutlicht, dass erbrachte Betriebstreue belohnt werden soll. Schließlich begründet die Jahresleistung einen Anreiz für zukünftige Betriebstreue. Sie erfordert nach der Stichtagsregelung des § 4 Abs. 1 TEA den ungekündigten Fortbestand des Arbeitsverhältnisses über das Ende des Bezugszeitraums am 31. Dezember des jeweiligen Kalenderjahres hinaus. § 5 Nr. 8 TEA begründet ergänzend eine Rückzahlungsverpflichtung, wenn der Arbeitnehmer vor dem 1. April des folgenden Kalenderjahres durch Vertragsbruch oder aus einem von ihm verschuldeten Grund, der den Arbeitgeber zur außerordentlichen Kündigung berechtigt, aus dem Betrieb ausscheidet. Sowohl die Voraussetzung des ungekündigten Fortbestands als auch die Rückzahlungsregelung zeigen, dass auch zukünftige Betriebstreue belohnt werden soll (vgl.  - Rn. 21; - 10 AZR 928/98 - zu B 2 b cc der Gründe mwN).

25(b) Angesichts des Zwecks der Sonderzahlung, auch bereits geleistete und zukünftige Betriebstreue zu belohnen, ist die Differenzierung durch die Stichtagsregelung sachlich gerechtfertigt. Indem sie den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses für den gesamten Bezugszeitraum verlangt, wird durch die Stichtagsregelung der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bis zum Jahresende gefördert. Das Erfordernis, dass die von der Jahresleistung begünstigten Arbeitnehmer auch darauf verzichten, das Arbeitsverhältnis im laufenden Kalenderjahr mit Wirkung zu einem späteren Zeitpunkt zu kündigen, orientiert sich an dem legitimen Interesse, zukünftige Betriebstreue zu belohnen. Der Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien wird damit nicht überschritten (vgl.  - Rn. 42, BAGE 163, 144).

26(c) Der Kläger kann sich im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass sein Arbeitsverhältnis aufgrund einer arbeitsvertraglichen Befristung ohnehin drei Monate nach dem Stichtag geendet hätte und er die Eigenkündigung erklärt hatte, um eine neue Stelle anzutreten. § 4 Abs. 1 TEA regelt, dass der Anspruch auf die tarifliche Jahreszahlung bestehen bleibt, wenn das Arbeitsverhältnis aufgrund einer vertraglichen Befristung nicht vor dem 1. Januar des Folgejahres des Bezugsjahres endet. Die Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 1 GG verlangt nicht, im Tarifvertrag Ausnahmen von der Stichtagsregelung auch für Arbeitnehmer vorzusehen, deren Arbeitsverhältnis nach dem Stichtag aufgrund einer Befristung enden wird. Stichtagsregelungen sind „Typisierungen in der Zeit“. Sie sind Ausdruck einer pauschalisierenden Betrachtung und aus Gründen der Praktikabilität - ungeachtet damit eventuell verbundener Härten im Einzelfall - zur Abgrenzung der begünstigten Personenkreise sachlich gerechtfertigt, wenn sich die Wahl des Stichtags am gegebenen Sachverhalt orientiert (vgl.  - Rn. 26; - 9 AZR 685/08 - Rn. 30). Diese Voraussetzung ist hier gewahrt. Der Stichtag fällt auf das Ende des Bezugszeitraums. Auch in einem auf einen späteren Zeitpunkt als den Stichtag befristeten Arbeitsverhältnis kann sich der Arbeitnehmer jedenfalls noch eine beschränkte Zeit betriebstreu verhalten. Eine Verpflichtung zu weiteren Differenzierungen besteht für die Tarifvertragsparteien nicht. Bei der Festlegung eines Stichtags für den Erhalt einer Sonderzahlung müssen die Tarifvertragsparteien nicht jeder Besonderheit gerecht werden (vgl.  - aaO; - 6 AZR 287/07 - Rn. 26, BAGE 129, 93).

27(2) Die Schutzpflichten aus Art. 12 Abs. 1 GG stehen der Stichtagsregelung des § 4 Abs. 1 TEA ebenfalls nicht entgegen. Auch insoweit ist der weite Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen. Er ist erst überschritten, wenn die Regelung die berufliche Freiheit der Arbeitnehmer auch unter Berücksichtigung der grundgesetzlich gewährleisteten Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) und der daraus folgenden Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien unverhältnismäßig einschränkt (vgl.  - Rn. 38, BAGE 163, 144; - 10 AZR 718/11 - Rn. 34; - 9 AZR 356/06 - Rn. 35, 37).

28(a) Stichtagsregelungen für Sonderzahlungen schränken die Berufsfreiheit ein. Art. 12 Abs. 1 GG garantiert die freie Wahl des Arbeitsplatzes und schützt den Entschluss, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem gewählten Beruf zu ergreifen, ein Arbeitsverhältnis beizubehalten oder es aufzugeben (, 1 BvR 1375/14 - Rn. 38, BVerfGE 149, 126;  - Rn. 39, BAGE 161, 9). Diese Freiheit wird durch § 4 Abs. 1 TEA beeinträchtigt, weil mit der Regelung die selbstbestimmte Arbeitsplatzaufgabe des Arbeitnehmers verzögert oder verhindert werden soll (vgl.  - Rn. 44, BAGE 163, 144; - 10 AZR 718/11 - Rn. 40).

29(b) Im Fall des § 4 Abs. 1 TEA muss sich der Anspruchsberechtigte am Ende des Bezugszeitraums am 31. Dezember des jeweiligen Kalenderjahres in ungekündigter Stellung befinden. Eine Eigenkündigung kann frühestens am 1. Januar des Folgejahres erklärt werden, ohne dass der Anspruch auf die Sonderzahlung entfällt. Nach § 11 Abs. 3 Nr. 3 des vom Bundesarbeitgeberverband Chemie e. V. und der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie geschlossenen Manteltarifvertrags vom in der Fassung vom (MTV) kann das Arbeitsverhältnis bei einer Unternehmenszugehörigkeit von bis zu zwei Jahren mit einer Frist von zwei Wochen gekündigt werden. Der Kläger hätte außerhalb des Anwendungsbereichs der Stichtagsregelung in § 4 Abs. 1 TEA frühestens am zum kündigen können. Er wäre damit für einen Zeitraum von rund zwei Wochen über den Bezugszeitraum hinaus gebunden gewesen.

30(c) Der mit der Stichtagsregelung verbundene Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG ist sachlich gerechtfertigt. Die Tarifvertragsparteien haben den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum nicht überschritten.

31(aa) Der Stichtagsregelung liegt das berechtigte Interesse der Arbeitgeber zugrunde, die Arbeitnehmer dazu anzuhalten, eine Eigenkündigung zu unterlassen oder jedenfalls aufzuschieben. Sie ist dazu geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Sie schafft einen Anreiz für Arbeitnehmer, von einer an sich zulässigen Kündigungsmöglichkeit keinen oder nur verzögerten Gebrauch zu machen.

32(bb) Die Stichtagsregelung ist auch erforderlich. Es ist kein anderes, gleich wirksames, aber die Berufsfreiheit des betroffenen Arbeitnehmers weniger einschränkendes Mittel ersichtlich, um ihn an der Arbeitsplatzaufgabe zu hindern (vgl.  - Rn. 46, BAGE 163, 144; - 10 AZR 718/11 - Rn. 41).

33(cc) Die Einschränkung der Berufsfreiheit der Arbeitnehmer ist angesichts des den Tarifvertragsparteien zustehenden - gegenüber einseitigen Regelungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen erweiterten - Gestaltungsspielraums auch angemessen. Für Sonderzahlungen, die neben der Vergütung für die erbrachte Arbeitsleistung auch der Belohnung der erbrachten und der Förderung künftiger Betriebstreue dienen, hat der Senat sowohl innerhalb als auch außerhalb des Bezugszeitraums liegende Stichtage als zulässig angesehen (vgl.  - Rn. 43 ff., BAGE 163, 144; - 10 AZR 718/11 - Rn. 39 ff.).

34(dd) An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Den Tarifvertragsparteien muss es überlassen bleiben, in eigener Verantwortung Vorteile in einer Hinsicht mit Zugeständnissen in anderer Hinsicht auszugleichen. Eine bestimmte Leistung des Arbeitgebers zu erhalten, kann es daher erforderlich machen, dass der Anspruch auf sie mit Einschränkungen verbunden wird, die Nachteile für einzelne Arbeitnehmer oder eine Gruppe von Arbeitnehmern mit sich bringen können. Vor allem im Bereich der Sonderzahlungen ist den Tarifvertragsparteien ein weiter Beurteilungs- und Ermessensspielraum eingeräumt. Bei der Festsetzung von Sonderzuwendungen handelt es sich nicht nur um einen Teilbereich der Entgeltregelungsbefugnis und damit um einen typischen Regelungsbereich der Tarifvertragsparteien. Die Sonderzuwendungen des Arbeitgebers und ihre Voraussetzungen müssen im Zusammenhang mit den Vergütungstarifen im Übrigen gesehen werden. Ein Vorteil im Entgeltsystem kann ein Zugeständnis im Bereich der Sonderzahlungen erforderlich machen. Dementsprechend hat das Bundesarbeitsgericht den Tarifvertragsparteien auch in seiner Rechtsprechung zu Sonderzahlungen, insbesondere zu Bindungs- und Rückzahlungsregelungen, einen weiten Gestaltungsspielraum zugestanden und dabei Vereinbarungen erlaubt, die in Einzelarbeitsverträgen regelmäßig als unzulässig angesehen werden ( - Rn. 48, BAGE 163, 144).

35c) Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat, ist die vom Kläger maßgeblich in den Blick genommene Norm des § 622 Abs. 6 BGB nicht verletzt.

36aa) Nach dieser Vorschrift darf für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer keine längere Frist als für die Kündigung durch den Arbeitgeber vereinbart werden. Das Benachteiligungsverbot gilt auch für Tarifvertragsparteien ( - Rn. 41; ErfK/Müller-Glöge 19. Aufl. BGB § 622 Rn. 43; HaKo/Spengler 6. Aufl. BGB § 622 Rn. 43).

37bb) § 622 Abs. 6 BGB ist auf Stichtags- und Rückzahlungsregelungen für Sonderzahlungen nicht unmittelbar anzuwenden. Ausgehend vom Wortlaut regelt § 622 Abs. 6 BGB lediglich, dass Arbeitnehmer nicht dadurch an das Arbeitsverhältnis gebunden werden dürfen, indem für ihre Kündigung eine längere Frist vereinbart wird als für die Kündigung durch den Arbeitgeber. Dieser Anforderung wird § 11 Abs. 3 Nr. 3 MTV gerecht. Danach gelten für beide Seiten gleich lange oder - abhängig vom Lebensalter und von der Dauer der Betriebszugehörigkeit - für die Arbeitgeberseite längere Kündigungsfristen.

38cc) Tarifliche Stichtags- und Rückzahlungsregelungen sind auch nicht in analoger Anwendung am Maßstab des § 622 Abs. 6 BGB zu überprüfen. Die für eine entsprechende Anwendung erforderliche vergleichbare Interessenlage fehlt.

39(1) Die Regelung des § 622 Abs. 6 BGB schützt das Recht des Arbeitnehmers, ein gewähltes Arbeitsverhältnis aufzugeben. Sie formt damit für eine bestimmte Problemstellung einfachrechtlich die in Art. 12 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützte Berufsfreiheit aus. § 622 Abs. 6 BGB liegt der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, dass die Kündigung für Arbeitnehmer nicht einseitig übermäßig erschwert werden darf (vgl.  - zu II 2 bb der Gründe; - 5 AZR 586/88 - zu II 1 der Gründe).

40(2) Dies schließt jedoch für Arbeitnehmer ungünstige Reflexwirkungen ihrer Kündigung nicht aus ( - zu II 1 c der Gründe, BGHZ 164, 107; ErfK/Müller-Glöge 19. Aufl. BGB § 622 Rn. 44). Das Schutzkonzept des § 622 Abs. 6 BGB betrifft speziell die zulässige Dauer für Kündigungsfristen. Nach der gesetzlichen Wertung des § 622 Abs. 6 BGB ist ein angemessener Interessenausgleich regelmäßig dann gewährleistet, wenn der Arbeitnehmer durch die Kündigungsfrist nicht länger gebunden wird als der Arbeitgeber (vgl. zu sehr langen Kündigungsfristen für beide Seiten in Allgemeinen Geschäftsbedingungen  - Rn. 34 ff., BAGE 161, 9).

41(3) Dieses Schutzkonzept lässt sich jedoch nicht auf die Prüfung der zulässigen Bindungsintensität bei Stichtags- und Rückzahlungsregelungen für Sonderzahlungen übertragen. Stichtags- und Rückzahlungsregelungen entfalten eine andere Bindungswirkung als Kündigungsfristen, indem sie einen finanziellen Anreiz für die betroffenen Arbeitnehmer setzen, von einer Kündigung abzusehen oder sie jedenfalls aufzuschieben. Für diese Konstellation lässt sich das auf einen Gleichlauf der Bindungsdauer für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gerichtete Schutzkonzept des § 622 Abs. 6 BGB - die Dauer der Kündigungsfrist für den Arbeitgeber als Grenze für die zulässige Kündigungsfrist für den Arbeitnehmer - nicht fruchtbar machen. Der Prüfungsmaßstab für die zulässige Bindungswirkung von tariflichen Stichtags- und Rückzahlungsregelungen ergibt sich daher unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 GG sowie - unter Gleichheitsgesichtspunkten - aus Art. 3 Abs. 1 GG, jeweils unter dem Blickwinkel ihrer Schutzpflichtfunktion (vgl.  - Rn. 32 ff., BAGE 163, 144). Die Angemessenheit solcher Bindungsklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen ist ebenfalls nicht an § 622 Abs. 6 BGB, sondern an §§ 307 ff. BGB zu beurteilen (vgl.  - Rn. 17 ff., BAGE 140, 231).

42II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2019:030719.U.10AZR300.18.0

Fundstelle(n):
BB 2019 S. 2611 Nr. 44
DStR 2019 S. 11 Nr. 46
AAAAH-32234