BAG Urteil v. - 1 AZR 842/16

Sozialplanabfindung - Benachteiligung wegen des Alters - mittelbare Benachteiligung wegen Behinderung - Verzicht

Gesetze: § 7 Abs 1 AGG, § 7 Abs 2 AGG, § 75 Abs 1 BetrVG, § 10 S 1 AGG, § 10 S 2 AGG, § 77 Abs 4 S 2 BetrVG, § 236a Abs 1 S 2 SGB 6, § 236 Abs 1 S 2 SGB 6

Instanzenzug: ArbG Bochum Az: 5 Ca 690/15 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen) Az: 11 Sa 1522/15 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die Zahlung einer Sozialplanabfindung.

2Der im März 1956 geborene Kläger ist schwerbehinderter Mensch und war bis zum bei der Beklagten am Produktionsstandort B beschäftigt. Wegen dessen beabsichtigter Schließung vereinbarte die Beklagte am mit der zuständigen Gewerkschaft einen Sozialtarifvertrag (STV) und einigte sich am mit dem Betriebsrat auf einen Interessenausgleich sowie einen Sozialplan (SP). Dieser erstreckt nach seiner Nr. 1 den Inhalt des in Abschn. C. des STV geregelten Sozialplans auf die Arbeitsverhältnisse aller Betriebsangehörigen. Abschn. C. des STV lautet auszugsweise:

3Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete aufgrund eines zwischen den Parteien im August/September 2014 geschlossenen Aufhebungsvertrags zum gegen Zahlung einer Abfindung iHv. 7.615,14 Euro brutto. Bei der Berechnung der Abfindung legte die Beklagte als Renteneintrittsdatum den zugrunde. Zu diesem Zeitpunkt konnte der Kläger erstmals eine vorzeitige Altersrente für schwerbehinderte Menschen beziehen. Art. 1 § 1 Nr. 15 des Aufhebungsvertrags sieht vor, dass „mit Erfüllung dieser Vereinbarung … alle gegenseitigen Ansprüche aus dem Beschäftigungsverhältnis mit O und dessen Beendigung, gleich aus welchem Rechtsgrund, ob bekannt oder unbekannt, abgegolten“ sind.

4Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte müsse ihm eine höhere Abfindung zahlen. Die Regelungen in Nr. 1 SP, Abschn. C. STV bewirkten eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung wegen des Alters und der Behinderung. Ihm stehe daher - wie den jüngeren Arbeitnehmern - eine nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 3.2.1 STV zu berechnende Abfindung zu. Zumindest dürfe bei einer Berechnung seiner Abfindung nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV nur das frühestmögliche Renteneintrittsalter für nicht schwerbehinderte Menschen zugrunde gelegt werden.

5Der Kläger hat zuletzt beantragt,

6Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt.

7Sie ist der Ansicht, die Regelungen im Sozialplan führten weder zu einer Diskriminierung wegen des Alters noch der Behinderung. Eine etwaige Benachteiligung wegen des Alters sei gerechtfertigt.

8Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte weiterhin die vollständige Klagabweisung.

Gründe

9Die Revision der Beklagten ist begründet. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung konnte der Zahlungsklage nicht in der begehrten Höhe stattgegeben werden. In welchem Umfang die Beklagte dem Kläger die Zahlung einer restlichen Abfindung nach dem SP schuldet, kann der Senat mangels Feststellungen nicht abschließend entscheiden. Daher ist der Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

10I. Das Landesarbeitsgericht hat zwar zu Recht angenommen, dass die in Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV geregelte Ausgestaltung der Sozialplanabfindung für schwerbehinderte Menschen - wie den Kläger - gegen § 75 Abs. 1 BetrVG verstößt. Die mittelbare Benachteiligung Schwerbehinderter nach § 3 Abs. 2 AGG führt aber nicht dazu, dass dem Kläger ein Anspruch auf Zahlung einer weiteren Abfindung nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 3.2.1 STV zusteht.

111. Arbeitgeber und Betriebsrat haben nach § 75 Abs. 1 BetrVG darüber zu wachen, dass jede Benachteiligung von Personen aus den in der Vorschrift genannten Gründen unterbleibt. § 75 Abs. 1 BetrVG enthält nicht nur ein Überwachungsgebot, sondern verbietet zugleich Vereinbarungen, durch die Arbeitnehmer aufgrund der dort aufgeführten Merkmale benachteiligt werden. Der Gesetzgeber hat die in § 1 AGG geregelten Benachteiligungsverbote in § 75 Abs. 1 BetrVG übernommen. Die unterschiedliche Behandlung der Betriebsangehörigen aus einem in § 1 AGG genannten Grund ist daher nur unter den im AGG normierten Voraussetzungen zulässig ( - Rn. 19, BAGE 150, 136).

122. Abschn. C. Ziff. 2.6 STV enthält eine mittelbar auf das Kriterium der Behinderung beruhende Ungleichbehandlung, da er für den Umfang der Nettoabsicherung auf den Zeitraum bis zum frühestmöglichen Wechsel der Arbeitnehmer in die gesetzliche Rente abstellt (vgl. auch  - [Odar] Rn. 56 ff.). Da Schwerbehinderte nach § 236a Abs. 1 Satz 2 SGB VI bereits mit 60 Jahren eine vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen können, während dies für nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer frühestens mit Vollendung des 63. Lebensjahrs möglich ist - sofern sie die Voraussetzungen einer Altersrente für langjährig Versicherte nach § 236 Abs. 1 Satz 2 SGB VI erfüllen -, fällt ihre Nettoabsicherung und damit ihre Bruttoabfindung niedriger aus.

133. Beide Personengruppen sind in Bezug auf die durch die Betriebsschließung verursachten wirtschaftlichen Nachteile in einer vergleichbaren Situation (zu diesem Erfordernis bei einer mittelbaren Benachteiligung vgl.  - Rn. 21, BAGE 155, 149). Ihr Arbeitsverhältnis mit ihrem Arbeitgeber endet aus demselben Grund und unter denselben Voraussetzungen (vgl. auch  - [Odar] Rn. 61 f.).

144. Die durch Abschn. C. Ziff. 2.6 STV bedingte Benachteiligung Schwerbehinderter ist nicht gerechtfertigt.

15a) Allerdings ist die dort geregelte Berechnung der Abfindungshöhe grundsätzlich von einem legitimen Ziel getragen.

16aa) Das mit einer Regelung verfolgte Ziel muss nicht ausdrücklich benannt werden. Auch aus dem allgemeinen Kontext der Regelung können sich Anhaltspunkte ergeben, die es ermöglichen, den Zweck der Regelung festzustellen und dadurch Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Bestimmung zu überprüfen (vgl.  - Rn. 36 mwN).

17bb) Wie die Berechnung der Abfindungshöhe zeigt, soll - entsprechend dem zukunftsgerichteten Entschädigungscharakter von Abfindungen - den von der Betriebsschließung betroffenen Arbeitnehmern durch Abschn. C. Ziff. 2.6 STV ein pauschalierter Ausgleich für das bis zum frühestmöglichen Renteneintritt entfallende Arbeitsentgelt gewährt werden. Damit dient die Regelung einem legitimen Ziel. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union stellt die Gewährung eines Ausgleichs für die Zukunft entsprechend den Bedürfnissen der betroffenen Arbeitnehmer, die der Notwendigkeit der für einen Sozialtarifvertrag nur begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel Rechnung trägt, ein rechtmäßiges Ziel dar ( - [Odar] Rn. 40 ff., 68; - C-312/17 - [Bedi] Rn. 61).

18b) Die Regelung geht jedoch über das zu Erreichung dieses legitimen Ziels Erforderliche hinaus ( - [Odar] Rn. 70; vgl. auch  - [Bedi] Rn. 77). Durch das undifferenzierte Abstellen auf den „frühestmöglichen Wechsel“ in die gesetzliche Rente wird die durch dieses neutrale Kriterium bewirkte Ungleichbehandlung zum Einen nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt, die nichts mit der Behinderung zu tun haben ( - [Odar] Rn. 67). Zum Anderen führt dieses Tatbestandsmerkmal zu einer übermäßigen Beeinträchtigung der legitimen Interessen der schwerbehinderten Arbeitnehmer, da die Betriebsparteien damit zur Begrenzung der Höhe der diesen Arbeitnehmern zu zahlenden Abfindung an einen sozialversicherungsrechtlichen Vorteil anknüpfen, dessen Daseinsberechtigung gerade den Schwierigkeiten und den besonderen Risiken Rechnung tragen soll, mit denen schwerbehinderte Arbeitnehmer konfrontiert sind ( - [Odar] aaO).

19c) Entgegen der Ansicht der Beklagten bedarf es aufgrund der durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bereits erfolgten Auslegung des Unionsrechts (vgl.  - [Odar] Rn. 70; vgl. auch  - [Bedi] Rn. 77) keines Vorlageverfahrens an den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV („acte éclairé“; zu den Vorlagevoraussetzungen vgl.  - [C.I.L.F.I.T.]).

205. Anders als vom Landesarbeitsgericht angenommen, führt der Verstoß von Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV gegen § 75 Abs. 1 BetrVG jedoch nicht dazu, dass der Kläger die Berechnung einer Abfindung nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 3.2.1 STV verlangen könnte.

21a) Zwar ist eine gegen das Benachteiligungsverbot nach § 7 Abs. 1 AGG verstoßende Regelung gemäß § 7 Abs. 2 AGG unwirksam (vgl. etwa  - Rn. 53, BAGE 153, 348). Die Unwirksamkeit bewirkt aber lediglich, dass den benachteiligten Arbeitnehmern für die Vergangenheit ein Anspruch auf die vorenthaltene Leistung zuzuerkennen ist (sog. „Anpassung nach oben“). Den Angehörigen der mittelbar benachteiligten Gruppe sind dieselben Vorteile zu gewähren wie den nicht benachteiligten Arbeitnehmern (vgl.  - [Specht] Rn. 95; - C-417/13 - [Starjakob] Rn. 46). Kann der Arbeitgeber - wie vorliegend - den Begünstigten für die Vergangenheit die gewährten Leistungen nicht mehr entziehen, ist eine solche zur Beseitigung der Diskriminierung erforderliche „Anpassung nach oben“ selbst dann gerechtfertigt, wenn sie zu erheblichen finanziellen Belastungen des Arbeitgebers führt (vgl.  - Rn. 32, BAGE 154, 118).

22b) Die Regelungen in Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV sind daher so anzuwenden, wie sie für vergleichbare nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer gegolten hätten. Damit rechtfertigt die mittelbare Diskriminierung Schwerbehinderter durch Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV nicht die - von den Vorinstanzen zugesprochene - Zahlung einer nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 3.2.1 STV berechneten Abfindung, sondern nur einer Abfindung, bei deren Berechnung der frühestmögliche Renteneintritt zugrunde zu legen ist, der für den Kläger gölte, wenn er nicht schwerbehindert wäre.

23II. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Dem Kläger steht kein Anspruch auf Zahlung einer Abfindung nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 3.2.1 STV zu. Die unterschiedliche Berechnung der Sozialplanabfindung für Arbeitnehmer der Geburtsjahrgänge bis einschließlich 1959 (Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2 STV) und ab 1960 (Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 3 bzw. Ziff. 2.3 STV) bewirkt keine Diskriminierung wegen des Alters.

241. Die Betriebsparteien haben bei den unter den Geltungsbereich des SP fallenden Arbeitnehmern in Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2 und Ziff. 3 STV unterschieden zwischen Mitarbeitern, deren Abfindung - entweder ausschließlich (Abschn. C. Ziff. 3 STV) oder zumindest wahlweise (Abschn. C. Ziff. 2.3 STV) - in Abhängigkeit von Lebensalter, Betriebszugehörigkeit und Bruttomonatseinkommen zu ermitteln ist, und denen, deren Abfindung unter Anrechnung von Arbeitslosengeld I und etwaigen Bezügen aus der O Altersversorgung eine 80 vH Nettoabsicherung nach Beendigung der Beschäftigung in der Transfergesellschaft bis zum frühestmöglichen Wechsel in die gesetzliche Rente gewährleisten soll (Abschn. C. Ziff. 2.1 und Ziff. 2.2 STV).

252. Der Grund für diese unterschiedliche Berechnung der Abfindung liegt im Alter. Die Anwendung der beiden Berechnungssysteme hängt - auch soweit es die Regelung in Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.3 STV betrifft - vom Geburtsjahrgang der Mitarbeiter und damit von ihrem Alter ab.

263. In Bezug auf den 1956 geborenen Kläger bedingt diese Ungleichbehandlung eine Benachteiligung wegen des Alters. Würde sich seine Abfindung nach den Vorgaben in Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 3 STV richten, fiele sie höher aus. Hierüber besteht zwischen den Parteien kein Streit. Vorliegend unerheblich ist, ob die Regelungen in Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2 und Ziff. 3 STV stets zu einer Benachteiligung älterer Arbeitnehmer bei der Höhe der Abfindung führen.

274. Eine mit dem Systemwechsel bei der Berechnung der Abfindung in Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2 und Ziff. 3 STV einhergehende unterschiedliche Behandlung wegen des Alters ist vorliegend nach § 10 Satz 1 und Satz 2 AGG gerechtfertigt.

28a) Mit den Unterschieden bei der Berechnungsweise der Abfindung wird ein legitimes Ziel iSd. § 10 Satz 1 AGG verfolgt.

29aa) Die Regelungen in Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV sollen bei älteren Arbeitnehmern eine stärker an den tatsächlich durch den bevorstehenden Arbeitsplatzverlust und eine darauf zurückgehende Arbeitslosigkeit eintretenden wirtschaftlichen Nachteilen orientierte Berechnung der Sozialplanabfindung ermöglichen. Mit einem solchen Systemwechsel wird das durch das zunehmende Alter bedingte Anwachsen der Abfindungshöhe, das mit den in Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 3 STV verwendeten Parametern Betriebszugehörigkeit und Lebensalter bei der Bemessung der Abfindung zwangsläufig verbunden ist, bei abnehmender Schutzbedürftigkeit im Interesse der Verteilungsgerechtigkeit zu Gunsten der jüngeren Arbeitnehmer begrenzt.

30bb) Hierbei handelt es sich um ein legitimes Ziel iSd. § 10 Satz 1 AGG. Legitime Ziele iSv. § 10 Satz 1 AGG sind wegen der in Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2000/78/EG genannten Beispielsfälle „Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung“ sozialpolitische Ziele wie solche aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt oder berufliche Bildung (vgl. etwa  - [Prigge] Rn. 81 mwN; vgl. auch  - Rn. 15). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union stellt die Gewährung eines Ausgleichs für die Zukunft entsprechend den Bedürfnissen der betroffenen Arbeitnehmer, die der Notwendigkeit der für einen Sozialplan nur begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel Rechnung trägt, ein legitimes Ziel iSd. unionsrechtlichen Vorgaben dar (vgl.  - [Odar] Rn. 40 ff., 68; - C-312/17 - [Bedi] Rn. 61).

31b) Die Differenzierung nach dem Geburtsjahrgang ist zur Erreichung dieses Ziels auch objektiv geeignet und erforderlich. Der Systemwechsel bei der Berechnung der Abfindung verhindert, dass Beschäftigte höheren Alters überproportional begünstigt und eine über den auszugleichenden Nachteil hinausgehende Kompensation erhalten.

32c) Eine durch die Berechnung nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV bewirkte geringere Höhe der Abfindung für ältere Arbeitnehmer ist zudem angemessen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Betriebsparteien über einen weiten Ermessensspielraum nicht nur bei der Entscheidung über die Verfolgung eines bestimmten sozial- und beschäftigungspolitischen Ziels, sondern auch bei der Festlegung der für seine Erreichung geeigneten Maßnahmen verfügen (vgl.  - [Odar] Rn. 47, 53).

33aa) Die durch den Arbeitsplatzverlust eintretenden Nachteile, die bei Arbeitnehmern der Geburtsjahrgänge ab 1960 eintreten, sind für die Betriebsparteien nicht gleichermaßen abschätzbar wie bei älteren Arbeitnehmern. Bei diesen Arbeitnehmern, die bei Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses am das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, können Arbeitgeber und Betriebsrat die dadurch entstehenden wirtschaftlichen Nachteile nicht zuverlässig prognostizieren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie durchgehend oder zumindest für größere Zeiträume beschäftigungslos bleiben und damit langfristig auf den Bezug von Entgeltersatzleistungen und etwaigen staatlichen Unterstützungsleistungen angewiesen sind. Selbst wenn aber die ausscheidenden Arbeitnehmer ein Anschlussarbeitsverhältnis begründen können, verlieren sie ihre bisherige kündigungsschutzrechtliche Stellung und gehören bei künftigen Personalreduzierungen zwangsläufig zu den Beschäftigten, denen wegen ihrer kurzen Betriebszugehörigkeit vorrangig gekündigt wird. Überdies können sie regelmäßig bei der Neubegründung eines Arbeitsverhältnisses nicht ihr bisheriges Arbeitsentgelt erzielen, was, ebenso wie die vorangehenden Zeiten einer Arbeitslosigkeit, zu Nachteilen in ihrer Rentenbiografie führt.

34bb) Die Interessen der Mitarbeiter der Geburtsjahrgänge vor 1960, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses das 55. Lebensjahr bereits vollendet haben, sind durch die Regelung in Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV zudem hinreichend beachtet worden.

35(a) Die älteren Arbeitnehmer erhalten mit der Bemessung der Nettoabsicherung iHv. 80 vH eine weitgehende und durchgängige Absicherung bis zum Renteneintritt. Damit werden die durch den Wegfall des Arbeitsentgelts entstehenden wirtschaftlichen Nachteile nach Beendigung der Beschäftigung bei der Transfergesellschaft zumindest substantiell bis zum Wechsel in die gesetzliche Rente ausgeglichen. Da sich die durch einen Sozialplan nach § 112 Abs. 1 BetrVG ausgleichsfähigen Nachteile auf die durch den bevorstehenden Arbeitsplatzverlust entstehenden wirtschaftlichen Nachteile beschränken, durften die älteren Arbeitnehmer nicht darauf vertrauen, dass die Betriebsparteien die Abfindungshöhe durchgehend nach den Kriterien Alter und/oder Betriebszugehörigkeit bemessen (vgl. dazu auch  - Rn. 24, BAGE 150, 136). Auch mussten die Betriebsparteien angesichts der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Sozialplanmittel und der auch den jüngeren Arbeitnehmern voraussichtlich entstehenden Nachteile keine Entschädigung für die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente vorsehen (vgl.  - Rn. 28).

36(b) Anders als vom Kläger angenommen begegnet es auch keinen Bedenken, dass die Betriebsparteien den Systemwechsel für eine stärker an den tatsächlichen wirtschaftlichen Nachteilen orientierte Berechnung der Abfindung ab dem Geburtsjahr 1959 und damit für Mitarbeiter, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 55 Jahre und älter waren, vorgenommen haben. Die Betriebsparteien konnten in Kenntnis des vom Arbeitsplatzverlust betroffenen Personenkreises davon ausgehen, dass es sich typischerweise um solche Arbeitnehmer handelte, die aufgrund ihres Alters und ihrer Betriebszugehörigkeit voraussichtlich bereits mit Vollendung des 63. Lebensjahrs eine Altersrente für langjährig Versicherte nach § 236 Abs. 1 SGB VI in Anspruch nehmen konnten. Auch der Gerichtshof der Europäischen Union hat es in der Rechtssache Odar als nicht unangemessen angesehen, dass bei Mitarbeitern, die älter als 54 Jahre sind (und damit das 55. Lebensjahr vollendet haben), bei der Berechnung der Abfindung ein Systemwechsel stattfindet (vgl.  - [Odar] Rn. 14, 48 ff.).

37III. Die Sache ist nicht aus anderen Gründen zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).

38Entgegen der Ansicht der Beklagten steht die Abgeltungsklausel in Art. 1 § 1 Nr. 15 des Aufhebungsvertrags dem Anspruch des Klägers auf Zahlung einer höheren Abfindung nicht entgegen. Unterstellt die Regelung enthielte ein konstitutives negatives Schuldanerkenntnis (vgl. dazu  - Rn. 19 mwN, BAGE 146, 217) und erfasste auch Ansprüche aus dem SP, verstieße der darin liegende Verzicht des Klägers auf eine „diskriminierungsfreie“ Anwendung von Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV gegen § 77 Abs. 4 Satz 2 BetrVG und wäre daher nach § 134 BGB unwirksam. Nach § 77 Abs. 4 Satz 2 BetrVG ist ein Verzicht auf den Arbeitnehmern durch die Betriebsvereinbarung eingeräumte Rechte nur mit Zustimmung des Betriebsrats zulässig. Der dem Kläger zustehende Anspruch auf Zahlung einer Abfindung in der Höhe, wie sie ihm ohne seine Schwerbehinderung zu zahlen gewesen wäre, ist - da der SP das maßgebende Bezugssystem für die Gewährung einer solchen „Anpassung nach oben“ bleibt - ein durch die Betriebsvereinbarung eingeräumtes Recht im Sinne dieser Norm.

39IV. Der Senat kann über die Höhe der dem Kläger noch zu zahlenden Abfindung nach Nr. 1 SP, Abschn. C. Ziff. 2.6 STV nicht abschließend selbst entscheiden. Hierzu fehlt es an den für die Berechnung erforderlichen Feststellungen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2019:160719.U.1AZR842.16.0

Fundstelle(n):
BB 2019 S. 2164 Nr. 37
XAAAH-29232